Samias Geschichte ist unglaublich – und dramatisch. Ein Leben, wie es sich kein Autor ausdenkt, der sich nicht den Vorwurf einhandeln möchte, völlig abwegige Geschichten zu schreiben. Ein Leben im Scheinwerferlicht einer Olympiade, das dann doch auf der Flucht über das Mittelmeer nach Europa endet.
Samia Yusuf Omar ist Sportlerin gewesen in einem Land, in dem Sport nicht weit entwickelt ist, in dem Sport von Frauen sowieso angefeindet wird. Sie stammt aus Somalia, ist die Tochter einer Obstverkäuferin, die selbst Sportlerin war, der Vater ist tot, wahrscheinlich ein Opfer der Bürgerkriege im Land, das seit den 1990er Jahren keine stabile Regierung mehr hat, sondern aufgeteilt ist zwischen unterschiedlichen Machtinteressen, radikale Islamisten bilden eine davon.
Samia aber liebt den Sport und besonders die Leichtathletik. Sie trainierte die Sprintdisziplinen, den 100- und den 200-Meter Lauf. Bei der Olympiade 2008 in Peking marschierte sie mit der kleinen Delegation Somalias stolz ins Stadion, in ihrem 200-Meter-Vorlauf schied sie, zwar mit persönlicher Bestzeit, als letzte Läuferin aus; Veronica Campell-Brown ist alleine im gleichen Vorlauf wie Samia Omar über 10 Sekunden schneller gewesen, und ist zum Schluss locker ausgelaufen. Wer sich die Videos dieses Vorlaufes anschaut, der sieht schon zwei Welten, wie sie unterschiedlicher nicht sein können: die kraftstrotzend-selbstbewusste Campell-Brown, die viel zu schmale und mit großen ungläubigen Augen in die Arena schauende Samia Yusuf Omar.
Wie bei den Weltmeisterschaften vor ein paar Wochen, wiederum in Peking, als der 16jährige Abdullah al-Qwabani aus dem Jemen die Herzen der Zuschauer gewann, als er die 5000-Meter Distanz barfuß bestritt, konnte auch Samia die Sympathie der Zuschauer im Stadion und am Fernsehen erringen mit ihrer Geschichte einer Athletin aus einer ganz anderen Welt, die kaum die Trainingsmöglichkeiten hat, die nicht gesponsert wird, die wenigstens nicht verhüllt laufen muss, sondern im weiten T-Shirt und dreiviertellangen Hosen.
Und obwohl das weltöffentliche Auge auf Samia gefallen ist, obwohl ihre Geschichte in den Medien berichtet und erzählt wurde, eröffnet ihr das keine neuen Perspektiven. Sie kehrt zurück nach Somalia, trainiert wieder in dem alten völlig ungepflegten Stadion, wird angefeindet und bedroht von den Islamisten. Dabei ist es ihr Ziel, ihr Herzenswunsch, an der Olympia 2012 in London teilzunehmen, sie sieht aber, dass sie sich unter den gegebenen Bedingungen nicht wird verbessern können.
So beschließt sie zusammen mit ihrer Familie, nach Äthiopien zu gehen, dort lebt eine Tante, dort möchte sie trainieren. Als das auch nicht klappt, beschließen Tante Mariam und sie, nach Europa zu reisen und das heißt, sich Schleppern anzuvertrauen, den Landweg bis nach Libyen zu nehmen und von dort mit dem Boot nach Italien zu kommen.
Reinhard Kleist erzählt Samias Geschichte in einer Graphic Novel, bebildert so Samias Geschichte in Somalia, bebildert ihre Flucht auf den Ladeflächen von Klein-LKW durch die Wüste, bebildert Gefängnisaufenthalte, Auseinandersetzungen mit der Polizei, Gespräche zwischen den Flüchtlingen – und immer wieder Konflikte mit den Schleppern, so wie sie auch von Wolfgang Bauer berichtet werden. Er hat, das beschreibt er in seinem Vorwort, auch mit Samias Schwester gesprochen, die es bereits vor Samias Flucht nach Schweden geschafft hat, um sich ein möglichst gutes Bild machen zu können über Samias Geschichte. So erzählt Kleist Samias Geschichte auch stellvertretend für die vielen Geschichten, die Flüchtlinge, die sich zu der gefährlichen Reise nach Europa entschließen, mit sich tragen.
Ich muss gestehen, dies ist die erste Graphic Novel gewesen, die ich gelesen und geschaut habe. Wahrscheinlich ist diese Art der bebilderten Geschichte nicht mein Medium. Auch wenn hier eine Lebensgeschichte erzählt wird, wenn hier Träume abgebildet sind, wenn der fb-Kontakt Samias zu ihren Freunden dargestellt, die Strapazen und Gefahren der Reise geschildert werden, kann mich die Geschichte kaum erreichen. Das liegt sicherlich daran, dass ich es überhaupt nicht gewöhnt bin, die Bilder als quasi zweite Erzählebene mit zu „lesen“, dass mir – auf der anderen Seite – die „Sprechblasentexte“ zu kurz sind, um mich in die Geschichte hineinfühlen zu können.
So hat Samias Geschichte nicht nur einer Flüchtlingsgeschichte wiederum ein ganz bestimmtes Gesicht, eine ganz individuelle Lebensgeschichte hinzugefügt, sondern mir auch ganz deutlich gezeigt, welche Bedeutung für mich das Lesen eines Textes hat, welche Schwierigkeiten ich auf der anderen Seite bei der Rezeption von Bildern habe.
Wer Samias Geschichte als Roman lesen möchte, der kann dies Guiseppe Catazzeas Roman „Sag nicht, dass du Angst hast“ (2014), München, lesen.
Reinhard Kleist (2015): Der Traum von Olympia. Die Geschichte von Samia Yusuf Omar, Hamburg, Carlsen Verlag
Eine weitere Besprechung dieser Graphic Novel findet Ihr hier.
Samias Geschichte könnt Ihr in hier einem niederländischen Beitrag hier sehen.
Wie spannend, liebe Claudia! Mir geht es da offenbar ähnlich wie dir: So sehr ich es gewohnt bin, in Bildern zu denken, so sehr bin ich andererseits auf das geschriebene Wort als Narrativ fixiert. Früher, als die anderen längst über die Abenteuer von Micky Mouse und Asterix & Obelix lachten, war ich noch immer damit beschäftigt, Bilder, sprechblasen und Texte unter den Bilder in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen
(ups, versehentlich auf den Sende-Button gedrückt)
… und habe auch heute noch ein eher distanziertes Verhältnis zu Graphic Novels (und auch zu Hörbüchern). Ganz toll stelle ich es mir vor, zuerst den Roman zu lesen und anschließend nur die Graphiken wirken zu lassen.
Liebe Maren,
Dein Vorschlag, erst den Roman zu lesen un dann die Graphiken anzuschauen oder den Band auch zweimal zu rezipieren, einmal den Text, dann in Ruhe die Bilder, könnte ja vielleicht auch für mich eine Lösung sein. Als ich nun, einige Zeit nach meiner Lektüre, das Buch für die Besprechung noch einmal aufgeschlagen habe, habe ich doch auf den Bildern vieles erkannt, was ich so vorher, beim Lesen der Geschichte, gar nicht gesehen habe. Das fängt schon auf dem Titelbild an, auf dem hinter Samia ja die schwerbewaffneten Milizen im Schatten stehen, ihr sprichwörtlich im Nacken sitzen. – Ich bin, da ist meine Geschichte wohl wie Deine, auch als Kind schon nicht der größte Comic-Leser gewesen, sowohl die lustigen Taschenbücher fand ich nicht listig, die Asterix- und Obelix-Bände habe ich mir nur angeschaut, weil mein Latein-Lehrer sie empfohlen und damit sozusagen geadelt hat. Wahrscheinlich bin ich recht Graphic-Novel- bzw. Comic-blind.
Viele Grüße, Claudia
Das ist ja ein interessantes Gespräch, das Du da mit Maren führst.
Ich habe die Graphic Novel auch bei mir vorgestellt (https://druckschrift.wordpress.com/2015/04/24/reinhard-kleist-der-traum-von-olympia/), und mir ist der Zugang über die bildliche Darstellung, so glaube ich jedenfalls, gelungen. Aber jeder sieht und liest ja anders. Sich sowohl den Roman als auch die Graphic Novel vorzunehmen könnte aber ein Weg der Annäherung sein.
Eine guten Start in die Woche wünscht Ingrid
Liebe Ingrid,
da werde ich doch gleich noch den Link zu Deiner Seite meinem Text hinzufügen und (noch einmal?, wie peinlich!) schauen, was Du über Kleists Graphic Novel berichtest. Vielleicht ist es ja so, ich habe das schon als Antwort auf Kais Kommentar geschrieben, dass es beim Rezipieren von Medien ist wie auch beim Lernen: es gibt einfach unterschiedlich ausgeprägte und favorisierte Rezeptionskanäle. Und wahrscheinlich gibt es einfach Menschen, bei denen ein Text im Kopf mehr Kino erzeugen kann als Bilder. Oder es ist so eine ähnliche Diskussion wie es bei den verfilmten Romanen ist: Indem ein Regisseur mir seine Bilder fix und fertig zeigt, kann ich mir meine Bilder nicht mehr machen und bin im Zweifel, wenn ich den Roman vor dem Film gelesen habe, enttäuscht, weil ich im Film meine Sicht der Dinge nicht mehr wiederfinde. So ist es vielleicht auch bei den Graphic Novels: Die Bilder sind schon fertig. Jetzt aber klicke ich mal eben zu Deinem Kleist-Artikel.
Dir auch einen guten Start in die Woche, Claudia
Bei verfilmten Romanen geht es mir ähnlich, wenn ich den Roman vorher gelesen habe: die schon vorhandenen Bilder in meinem Kopf und die, die der Film zeigt, passen oft nicht zusammen.
Liebe Claudia,
das ist wohl mit uns Büchermenschen so, wie brauchen Text. Die Geschichte klingt zwar sehr erzählenswert, aber ich verstehe genau, was Du meinst. Habe mich schon das eine oder andere mal an einer Graphic Novel versucht, aber es hat mich nie wirklich berührt. Im Gegenteil, die verwendeten Bilder sin diesen GNs
oha, jetzt ist mir das passiert, was Maren auch passiert ist, seltsam. So sollte es weitergehen:
Im Gegenteil, die verwendeten Bilder finde ich meist zu kühl oder zu grell oder zu laut. Das ist vielleicht eine Frage der Gewohnheit. Bisher kenne ich eigentlich nur eine kleine Graphic Novel, die mich sehr angesprochen hat, und die ist von einer jungen Südkoreanerin, die aus Seoul zum Studieren nach Deutschland kommt und hat auch mit Heimat und Fremde zu tun. Es ist Dohyun Jung und der Titel heißt „vergiss nicht, das Salz auszuwaschen http://www.mairisch.de/programm/sohyun-jung-vergiss-nicht-das-salz-auszuwaschen/
Bei Gelegenheit werd ich da einen Blogbeitrag draus machen – aber jetzt muss ich erstmal die Armen erschlagen… dss Buch idt inzwischen bei mir angekommen, heute werd ich hoffentlich dszu kommen, es zu lesen.
Liebe Grüße
Kai