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Gila Lustiger: Die Schuld der Anderen

Lustiger_2Als Gila Lustigers Roman im Januar 2015 erschien, hatte es gerade die Anschläge auf die Redaktion von Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt in Paris gegeben und der Blick nach Frankreich auf der Suche nach Gründen für diese unglaublichen Taten trieb die Öffentlichkeit um. Möglicherweise hat der genau in jenen Tagen erschienene Roman von Michel Houellebecq alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen, zeichnet er doch ein geradezu bizarres Bild nicht nur der politischen, sondern vor allem auch der religiösen Entwicklungen in Frankreich bis in die 2020er Jahre.

Das wäre schade, denn der Roman Gila Lustigers Roman setzt sich, wenn auch im Gewand eines Krimis, mindestens genauso mit den Problemen der französischen Gesellschaft, in der die Autorin seit Jahren lebt, auseinander. Sie schaut in ihrem Roman aber nicht in eine so oder so mögliche Zukunft, sondern sucht die Gründe für den Status quo in der Vergangenheit und blickt so zurück in die 1980er Jahre, die für sie wohl den Beginn einer neuen Ära markieren. Mit dem Sieg des sozialistischen Präsidenten Mitterrand begann eine Verstaatlichung wichtiger Unternehmen – mit dem durchaus anerkennenswerten Ziel, Arbeitsplätze zu sichern. An die Stelle der bis dahin oft durch Familienmitglieder besetzen Führungspositionen rückten nun Funktionäre der Eliteschulen Frankreichs in die Entscheidungsetagen vor, die sich mehr von wirtschaftlichem Kalkül als von Werten wie Tradition und langfristiger Verantwortung lenken ließen:

Ohne einen Funken von Sentimentalität trennten sie sich von klassischen Sektoren, bauten Personal ab, verkauften Standorte und verflochten die Firmen international. Ironischerweise waren sie es, die, nachdem der sozialistische Traum ausgeträumt und die Arbeitslosenquote und Inflation in die Höhe geschnellt waren, unter den Augen einer Linken, die gar nicht begriff, was ihr geschah, die neue Ära des Liberalismus einläuteten. (S. 253)

Seit der Zeit gibt es enge Verbindungen zwischen der Politik und der Wirtschaft, schon in der Ausbildung führen Praktika in Unternehmen und Tätigkeiten für hochrangige Politiker zu guten Beziehungen in alle Richtungen, das politische System des Zentralismus und der Machtansammlung der Regionalpolitiker tragen ein Übriges dazu bei.

In diesen Sumpf von Schweigen, Korruption und Machenschaften gerät der investigative Journalist Marc Rappaport, als er beginnt, noch einmal im Fall eines Prostituiertenmordes, der schon vor dreißig Jahren geschehen, aber nie aufgeklärt worden ist, zu recherchieren. Gerade ist der vermeintliche Täter überführt worden, Gilles Neuhart, ein einfacher Bankangestellter, der einen DNA-Test in Auftrag gegeben hat, weil eine alte Freundin ihn als Vater ihres siebzehnjährigen Sohnes benannt hatte. Und dieser DNA-Test stellt nun zweifelsfrei fest, dass Neuhart bei dem Opfer gewesen ist, seine Hautschuppen befanden sich bei der auf brutale Weise erst vergewaltigten, dann ermordeten damals erst neunzehnjährigen Emilie Thevenin.

Aber Rappaport, der ein Gespür hat für besondere Geschichten, kann kaum glauben, dass dieser unscheinbare in seinen eigenen kleinen Alltagsgewohnheiten gefangene Bankangestellte zu einem Mord, und dann noch so einem brutalen, fähig sein könnte. Er schnüffelt hier, fragt dort, „macht sich den Schock“ der Nachbarn zunutze, die es kaum glauben können, jahrelang neben einem Mörder gelebt zu haben, und schreckt auch nicht davor zurück, sich den digitalen Bilderrahmen auf Neuharts Schreibtisch zu eigen zu machen. Schnell ist er sich sehr sicher, dass hier der falsche Täter gefasst ist.

Am Anfang seiner Recherchen steht Rappaport buchstäblich mit leeren Händen da, niemand kennt Emilie. Es dauert eine Zeit, bis Marc klar wird, dass sie wohl als Reiseprostituierte gearbeitet hat, dass sie ihre Dienste gar nicht in Paris angeboten, sondern reiche Industriellen auf ihren Reisen begleitet hat. So wollte sie ihr Studium in Paris bestreiten, mittelos aus der Provinz kommend erschien ihr das wohl als einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen.

Weiter kommt Marc erst, als er in ihre Heimatstadt fährt, einer Industriekleinstadt im Nirgendwo und kann sich anschauen, zu welchen Konsequenzen die Geschäftspolitik der Unternehmen in der 1980er Jahren in der Provinz geführt haben. Dort ist Emilie weggegangen, geflohen fast, als sie ihr Abitur in der Tasche hatte, zum einen, weil diese Städte keine Zukunft bieten für ihre Jugendlichen – außer der Arbeit in der Fabrik, an der schon die Väter gestorben sind, außer der Arbeit in einem Frisiersalon oder dem Leben als Ehefrau eines Handwerkers – und zum anderen, weil sie auch mit der Mutter nicht mehr klargekommen ist, die so schnell nach dem frühen Tod des Vaters einen neuen Partner, einen neuen Ehemann hatte. Emilie hat der Tod des Vaters im letzten Jahr vor dem Abitur sehr mitgenommen. Immer wieder hat sie Protestbriefe an das Unternehmen geschrieben, immer wieder ist sie bei den Politikern der Region vorstellig geworden, immer wieder hat sie gefordert, die Krebserkrankungen der Mitarbeiter im Chemieunternehmen zu untersuchen, aber niemand hat darauf reagiert.

Und so hat Marc auf einmal einen weiteren Fall zu klären, nämlich den der vierzig Nierenkrebserkrankungen, viele mit Todesfolge, bei den Arbeitern des ortsansässigen Chemieunternehmens, von denen Emilies Vater einer der ersten gewesen ist. Niemand in der Stadt will ihm Auskunft geben, allein der ehemalige Arzt findet in Marc endlich den Gesprächspartner, der sich für seinen Kampf für gesunde Arbeitsplätze interessiert und bestätigt den Verdacht, dass die Mitarbeiter mit Stoffen hantiert haben, die bekanntermaßen Krebs auslösend sein können, deren Einsatz bei der Produktion aber gute Gewinne gebracht haben. Und Marc erfährt bei seinen Nachforschungen, dass die Menschen dort gar nichts unternehmen möchten gegen das Chemieunternehmen, das im Übrigen mittlerweile Chinesen gehört, einfach, weil sie befürchten, dass der Standort geschlossen und irgendwohin nach Osteuropa verlagert wird, dorthin, wo niemand fragt nach Gesundheit und Umweltschutz. Dann wäre auch der letzte verbliebene größere Arbeitgeber aus der Region verschwunden und Arbeit ist allemal besser und wichtiger als der Kampf für gesunde, aber vielleicht kostenintensivere Arbeitsplätze.

Rappaports Recherchen führen ihn quer durch die französische Gesellschaft: von der Hilfsstelle für Prostituierte in die Wohnung der Geliebten seines Großvaters, von der Wohnung eines ehemaligen Polizisten in einem Pariser Vorort in die Redaktionsstube seiner Zeitung, von den Banlieues in Marseille zur Familie Emilie Thevenins in die Provinz. Immer hat Marc einen klaren, fast schon sezierenden Blick auf die Umgebungen, immer wieder legt er seinen Finger in die – gesellschaftliche – Wunde. Er schreibt immer wieder über die richtig „bösen Jungs“, die, die ihre Bandenkriege manchmal auch mit Kalaschnikows führen, und sucht gar nicht erst nach sozialen Begründungen, mangelnden Sprachkenntnissen, Arbeitslosigkeit, Sozialwohnungen und Trunkenheit der Eltern, sondern sagt klar und deutlich, dass es alleine ihre Gewaltbereitschaft sei, die das Maß ihrer Kriminalität ausmachen – und gibt damit vielleicht auch eine Antwort auf die Frage, wie die Anschläge in Paris im Januar 2015 überhaupt entstehen konnten:

Hatte Gewaltbereitschaft etwas mit der Hautfarbe zu tun? Nein. Mit der Religion? Nein. Der Nationalität? Nein. Mit dem sozialen Umfeld und der familiären Situation? Sicherlich. Aber nicht nur. Nicht in erster Linie. Nie in der Substanz. (…) Diese Kinder waren zu abgebrüht, um sich auch nur eine Sekunde der Illusion hinzugeben, sie könnten das System verändern. (…) Was sie wollten, war, sich den Taumel zu verschaffen, der von Zerstörung ausgeht. Was sie wollten, war, sich an der Manifestation seiner eigenen Macht zu berauschen. War sie suchten, war der Kick. Und sie holten ihn sich mit jedem neuen Gewaltexzess. (164)

So deutlich Marc die „Schuld der Anderen“ benennen kann, so süchtig er nach gerade diesen Erkenntnissen ist, so skrupellos er bei seinen Ermittlungen vorgeht, und damit selbst schuldig wird, so sehr schaut er weg, wenn es um seine Geschichte, um seine Herkunft geht. Denn der so bewunderte Großvater, der ihm viel mehr als seine Eltern immer wieder die wichtigen Lektionen des Lebens vermittelt hat, ist auch einer der Industriellen, um die es bei seinen Recherchen geht. Auch der Großvater gibt in seinem „Mischkonzern“ 33.000 Mitarbeitern einen Arbeitsplatz und kann es sich locker leisten, seiner Tochter, die einen jüdischen Professor geheiratet hat und selbst als Hochschullehrerin arbeitet, und damit ganz bewusst einen ganz anderen Lebensstil pflegt, eine Brosche zum Geburtstag zu schenken, die einhunderttausend Francs kostet – dem Familienstreit wohl wissend ins Auge blickend.

Und so verknüpfen sich in der Figur Marc Rappaports viele Facetten moralischen Denkens und Handelns, so ergibt sich aus seinen Schnüffeleien ein vielschichtiges Bild des heutigen Frankreichs, so lernen wir aus dieser vorwiegend spannenden Lektüre aber auch vieles, was zur Entwicklung des heutigen Frankreichs beigetragen hat. Auch Gila Lustiger hat also ganz offensichtlich mit ihrem Roman einen weiteren wichtigen literarischen Baustein zur aktuellen Debatte geliefert.

Gila Lustiger (2015): Die Schuld der Anderen, Berlin Verlag, Berlin

Die Autorin hat während der Leipziger Buchmesse auch auf dem blauen Sofa Rede und Antwort gestanden.

pingback: Thomas Brasch

2 Kommentare

  1. Hallo Claudia,
    das klingt ja ganz nach einer Lektüre, bei der der diagnostische Blick auf eine Gesellschaft erfolgreich mit einer spannenden Geschichte verbunden wird. Wäre ohne deine Besprechung komplett an mir vorbeigegangen.
    Einen schönen Frühlingstag! Anna

    • Liebe Anna,
      ja genau so ist es: spannend und aktuell, wie es oft bei Krimis so ist, und doch auch ein Roman, in dem auch der Protagonist eine Entwicklung macht bzw. machen muss. Und Marcs unverstellter Blick ist schon sehr beeindruckend, ich musste ganz viele Textstellen anstreichen, weil er so schön deutlich und prägnant analysiert.
      Viele Grüße, Claudia

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