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Ian McEwan: Kindeswohl

McEwan_2Mitten hinein in die Räume der bürgerlichen Gesellschaft, mitten ins Herz des aufgeklärten Rechtsstaates führt Ian McEwans neuer Roman „Kindeswohl“. Und geht dabei der Frage nach, wie Freiheit und Selbstbestimmung in der modernen Gesellschaft gelebt werden können, vor allem, welche Dilemmata an der Grenze zwischen Freiheit und Selbstbestimmung auf der einen und Moral und Religion auf der anderen Seite entstehen können. Damit wendet sich McEwan einem sehr aktuellen Thema zu und setzt sich über seine Figuren, ihre Haltungen, Werte und Wünsche aus verschiedenen Perspektiven mit den Grenzen von Freiheit und Selbstbestimmung auseinander.

Fioana Maye ist Richterin am High Court in London. Dort erlebt sie den sich stetig verändernden gesellschaftlichen Diskurs anhand der Fälle, die sie entscheiden muss. Viele dieser Konflikte würde sie gar nicht kennenlernen, wären nicht Kinder involviert. Denn Erwachsene dürfen sich, so ist es Grundlage unserer Gesellschaft im Allgemeinen frei entscheiden. Wenn es sich aber um Kinder handelt, deren Möglichkeiten einer freien Persönlichkeitsentwicklung, somit auch einer Wahl zwischen den unterschiedlichsten Lebensentwürfen, eingeschränkt werden, und oftmals begründen sich diese Einschränkungen aus religiösen Motiven, dann kann ein Gericht in die elterliche Entscheidung eingreifen.

Und genau diese Fälle hat Fiona in letzter Zeit vermehrt auf dem Tisch liegen. Da ist der Streit über die Schulwahl zweier charedimischer Mädchen, hinter dem eigentlich ein Streit der Eltern über die engen Glaubensregeln der Gemeinschaft steckt. Die Mutter möchte diese engen Regeln nicht mehr akzeptieren, sie fordert für sich und ihre Töchter eine Bildung, die Selbstständigkeit und Eigenständigkeit, die vor allem ein wirtschaftlich unabhängiges Leben ermöglicht. Und da ist der Fall der siamesischen Zwillinge, ein Fall, der Fiona ganz besonders belastet. Einer der Zwillinge, Marc, könnte gesund weiterleben, wenn die Zwillinge getrennt würden, der andere jedoch würde dann sterben müssen. Für die Eltern, strenggläubige Katholiken aus Jamaika, bedeutete diese Entscheidung einen Mord, sie verweigern die Einwilligung zur Operation, auch, wenn dann in letzter Konsequenz keiner der Säuglinge würde überleben können: „Das Leben kam von Gott, und nur Gott durfte es nehmen.“

Und nun hat Fiona wieder mit einem religiös motivierten Fall zu tun: Adam Henry, siebzehnjährig, hat Leukämie. Damit seine Behandlung umfassend – und mit guten Chancen, zu seiner Gesundung zu führen – durchgeführt werden kann, benötigt er Bluttransfusionen. Die lehnt er aber seines Glaubens wegen ab: er ist ein Zeuge Jehovas. Die Klinik fordert nun vor Gericht das Recht ein, ihm diese Transfusion, auch gegen seinen Willen und den seiner Eltern, zu geben. Und die Entscheidung muss schnell fallen, denn Adams Zustand verschlechtert sich zusehends.

Ganz ausführlich – über 30 Seiten – erleben wir die Gerichtsverhandlung mit, können die Plädoyers aller drei Seiten, nämlich die des Krankenhauses, die der Eltern sowie die Adams, ausgesprochen durch einen Rechtsanwalt und seine Sozialarbeiterin, nachvollziehen und versuchen zu verstehen. Wir nehmen teil an einer Gerichtsverhandlung, die es ernst nimmt mit den Meinungen der Betroffenen, die allen Betroffenen Zeit und Gelegenheit einräumt, sich zu äußern und die Nachfragen erlaubt.

In diesem Fall aber reicht Fiona das Austauschen der Meinungen und ihrer moralischen, gesetzlichen und religiösen Begründungen nicht aus. Sie will sich ein eigenes Bild von Adam machen, so wie es früher, als die Gerichte noch nicht so überlastet waren, üblich war. Sie will wissen, ob Adam wirklich eine selbstständige Entscheidung treffen kann – in ein paar Monaten, nach seinem achtzehnten Geburtstag, würde das Gesetz ihm diese Fähigkeit ohnehin zusprechen – , sie will in Erfahrung bringen, ob er wirklich ermessen kann, was seine Glaubensgemeinschaft ihm abverlangt und welche Art des Sterbens ihm bevorstehen wird, ob er ein Bild davon hat, welcher Lebensmöglichkeiten er sich beraubt. Und so besucht Fiona ihn im Krankenhaus und findet einen blitzgescheiten, heiteren jungen Mann vor, der Gedichte schreibt und angefangen hat Geige spielen zu lernen, also durchaus eine Zukunft für sich sieht, gleichzeitig aber ganz entschlossen davon spricht, sterben zu werden, denn eine Bluttransfusion lehnt er ab.

Fiona entscheidet diesen Fall, wegen der Zeitknappheit beeindruckend schnell, und sehr umsichtig. Sie stützt sich dabei nicht nur auf ihre umfassenden Rechtskenntnisse, sondern auch auf ein komplexes Wertesystem, sozusagen ein inneres Leitsystem, sowie die Fähigkeit, verschiedene Argumente abwägen zu können. Sie findet eine Begründung, die das Wohl Adams im Auge hat:

Kurz, nach meinem Dafürhalten haben A, seine Eltern und die Gemeindeältesten einen Entschluss gefasst, der mit dem Kindeswohl von A, welches dem Gericht als höchste Richtschnur zu dienen hat, nicht zu vereinbaren ist. Vor diesem Entschluss muss es geschützt werden. Es muss vor seiner Religion und vor sich selbst geschützt werden.
Dieser Fall war nicht leicht zu entscheiden. Ich habe As Alter ebenso in meine Abwägung mit einbezogen wie den Respekt, der jeder Konfession gebührt, sowie die Würde des Einzelnen und das daraus hervorgehende Recht, eine ärztliche Behandlung zu verweigern. Nach meiner Überzeugung ist sein Leben wertvoller als seine Würde. (S. 131)

Das scheint alles ganz vernünftig, vor allem das Leben Adams ist gerettet – und seine Eltern sitzen nach der Bluttransfusion an seinem Bett und weinen. Sie weinen vor Glück, dass ihr Kind gerettet ist, dass sie aber für diese Entscheidung nicht verantwortlich sind. Adam wird gesund – aber abgeschlossen ist dieser Konflikt für ihn noch lange nicht.

Fiona, die Reine, die Weiße, hat aber nicht nur über Leben und Tod Adams zu entscheiden. Während sie diesen Fall bearbeitet, sich mit Vernunft und gestützt auf ihre Arbeitsroutinen mit dem Für und Wider auseinandersetzt, muss sie sich mit einem weiteren Problem beschäftigen, einem, das in Inneres erschüttert und sie ordentlich aus der Bahn wirft: Ihr Mann, Jack, Geschichtsprofessor, holt bei ihr die Erlaubnis ein für einen Seitensprung, einmal noch möchte er eine glückliche sexuelle Beziehung führen, wünscht sich Ekstase, möchte „vor Erregung fast ohnmächtig werden“:

Ich brauche das. Ich bin neunundfünfzig. Das ist meine letzte Chance. Für ein Leben nach dem Tod fehlt meines Wissens bislang jeder Beweis. (S. 8)

Auch in diesem Konflikt geht es um nicht mehr und nicht weniger als um die Möglichkeiten und die Grenzen der Selbstbestimmung, jetzt im privaten Umfeld, im Kontext der Werte eines Ehepaares. Auch hier kann einer eben nicht völlig losgelöst seine eigenen Bedürfnisse ausleben, Fiona erfährt es schmerzlich am eigenen Erleben. Wut, Enttäuschung, Selbstmitleid, Niedergeschlagenheit, das ganze Programm der Verlassenen überfällt sie, die sonst so tough ihr Leben bestreitet. Und immer wieder umkreist sie die bange Frage nach ihrer gesellschaftlichen Stellung nach einer Trennung. Das erscheint zunächst merkwürdig, aber im Prinzip treibt sie die gleiche Frage um, die auch Adam umtreibt nach seiner Bluttransfusion: Wohin gehöre ich nun, wie sehen die anderen aus meinem Umfeld mich, wie werden sie mit mir umgehen?

Ian McEwan setzt sich in seinem höchst lesenswerten Roman mit den Facetten unserer individuellen Freiheit auseinander, mit den Folgen unserer freien und selbstbestimmten Entscheidungen, aber auch mit der Frage, wie wir mit der Freiheit umgehen, und welche Konsequenzen das haben kann. McEwan hat seinen Roman ganz klassisch strukturiert, in fünf Akten quasi, so wie die „alten“ griechischen Dramen. Da wird schnell klar, dass die Handlung auf die unvermeidliche „Katastrophe“ hinausläuft, dass Fionas Entscheid der Vernunft nach zwar richtig war, dass sie aber die komplexen menschlichen Zugehörigkeiten und Verstrickungen aus ihrer aufgeklärten Sicht auf die Gesellschaft nicht mitbedacht hat.

Ian McEwan (2015): Kindeswohl, Zürich, Diogenes Verlag

Ein Interview mit dem Autor könnt Ihr hier sehen.

14 Kommentare

  1. Liebe Claudia,
    mich hatte vor Jahren sein Roman „Enduring Love“ begeistert und dachte erst, dass mich „Kindeswohl“ nicht so sehr interessiert. Aber dank deiner Besprechung ist er jetzt ganz oben auf der Wunschliste und wird dort vermutlich nicht lange bleiben, sondern demnächst hier die Bücherstapel verstärken. Wer weiß, vielleicht schneien wir ja noch mal ein und dann ist es doch gut, wenn man genügend Bücher zur Hand hat 🙂
    Dir noch eine gute Woche. Anna

    • Liebe Anna,
      ich habe auch nicht alles von McEwan gelesen, weil mich manche Themen nicht so angesprochen haben. Aber dieser Roman hat mir sehr gut gefallen, weil er eben ein ganz aktuelles Problem mit den strengeren und enegeren Glaubenskonzepten aufzeigt. Da funktioniert dann auch im ersten Schritt der Rechtsstaat – also ein Zeichen für unsere aufgeklärte Gesellschaft und im Roman eine ganz tolle Szene -, im zweiten Schritt aber stehen die Betroffenen alleine da und kommen eben nicht mit den Freiheiten klar. Und so lässt sich der Romankontext sicherlich auch gut auf andere Situationen übertragen. – Und da es ja bestimmt bis Ostern, oder gerne auch über Ostern, schneien wird, macht sich der Roman doch bestimmt sehr gut auf Deinem Buchstapel :-). Im Roman übrigens regnet es fortwährend, den ganzen Sommer über, von Juni bis zum Spätherbst, alle Figuren werden tropfnass, wenn sie nicht mir Schirmen laufen – und dann spritzt ihnen das Pfützenwasser an die Knöchel. Typisch englisches Wetter könnte man meinen, aber McEwan hat diesem Naturphänomen auch die Erklärung des aus der Fassung geratenen Jetstreams hinzugefügt. Es gerät halt alles ein wenig aus den Fugen.
      Viele Grüße, Claudia

      • Hallo Claudia,
        da musste ich doch gerade an einen Schüler denken, der religiös so sozialisiert war, dass er grundsätzlich nicht fernsehen durfte und dementsprechend keine Videosequenzen in meinem Unterricht anschauen wollte.
        Hmm, der viele Regen, das braucht’s jetzt eigentlich nicht und erinnerte mich an einen der deprimierendsten Romane, die ich je gelesen habe: den Regenroman von Karin Duve.
        Buch von McEwan müsste morgen in der Buchhandlung da sein.
        Mit diesen auch etwas aus den Fugen geratenen Fußnoten einen schönen Abend! Anna

      • Es soll ja am Wochenende wieder weniger frühlingshaft werden, genau die richtige Gelegenheit für eine warme Tasse Tee und „Kindeswohl“. Bin super gespannt auf deine Eindrücke…
        Viele Grüße, Claudia

  2. Danke für deine ausführliche Besprechung, Claudia! Spontan dachte ich: Da ist aber eine Menge hineingepackt in das Buch. Die Fälle und dann auch noch die (angekündigte) Midlife Crisis von Fionas Mann. Na, mal sehen… Bisher kenne ich nur „Abbitte“ von McEwan (und die Verfilmung dazu). Liebe Grüße!

    • Liebe Maren,
      die vielen Fälle, die ich aufgezeigt habe, sind im Buch kaum länger beschrieben, als in meiner Besprechung. Ich wollte nur den Kontext aufzeigen, nämlich dass Fiona immer wieder mit diesen religiös inspirierten Familienkonflikten zu tun hat. Hauptsächlich setzt der Roman sich schon mit Adams Fall und der Entscheidung über die Gabe oder Nicht-Gabe der Bluttransfusion auseinander und zeigt uns sehr ausführlich und anschaulich die betiligten Personen, ihre Motivation, ihr Verhalten. Adam und seine Eltern sind durchaus sympathische, liebenswerte Menschen, die ganz liebevoll und zugewandt miteinander umgehen. Die Eltern fördern Adam, versuchen alles zu ermöglichen, damit es ihm gut geht. Nur die Frage mit der Bluttransfusion erscheint dem Leser dann noch merkwürdiger und unverständlicher. Und natürlich beschäftigt der Roman sich mit Fionas anderem „Fall“, den ich übrigens gerade noch einmal in einem anderen Roman gelesen habe – scheint wohl wirklich ein Männer-Midlife-Crisis-Thema zu sein. Ich denke aber, dass auch der andere Fall mit Adams Fall zu tun hat, dass Fiona hier selbst erlebt, wie es sein könnte, aus einem gesellschaftlichen Kontext herauszufallen. Das ist jetzt aber meine Deutung. Vielleicht läuft Dir „Kindeswohl“ ja doch einmal über den Weg…
      Viele Grüße, Claudia

      • Ah, danke für die Klarstellung, Claudia. Adams Konflikt finde ich schon sehr interessant. Vielleicht finden das Buch und ich doch zueinander. Aber jetzt lese ich erstmal Jan Wagner: Ein Lyriker als Buchpreisträger und dann auch noch gebürtiger Hamburger – ich bin begeistert! 🙂

      • Ja, der Preis wird sicherlich der Lyrik einen großen Schub geben. Schön. – Und Du findest bestimmt wieder schöne Zeilen zu Deinen Bildern!

  3. Wir – das ehrenamtlich tätige Leitungsteam – haben das Buch gerade für unsere Gemeindebücherei gekauft. Ich werde so schnell wie möglich „zugreifen“.

    • Dann aber schnell (:-), ich bin neugierig, ob es Dir auch so gut gefällt wie mir und was Dich besonders beeindruckt.
      Viele Grüße, Claudia

  4. Vielen Dank für diese ausführliche Rezension! Ich bin hin- und her gerissen, denn einerseits klingt dieses Buch sehr spannend und lehrreich, andererseits klingt es auch nach vielen schweren Schicksalen, die da in einer Geschichte konzentriert sind. Gerade wenn Kinder involviert sind geht mir das immer sehr nahe. Aber das macht vermutlich auch die Stärke der Geschichte aus!
    Vielleicht werde ich es lesen.

    • Ich kann Deinen Einwand gut verstehen. Bei Kindern, alten Menschen und Tieren bin ich auch sehr kritisch und mag es nicht, wenn die, manchmal auch noch des dramatischen Effektes willen, ins Unglück stürzen oder gar sterben. Das ist in McEwans Roman aber ganz anders. Einige Fälle mit jüngeren Kindern werden nur aus der Distanz erzählt und vor allem auch mit Blick auf Fionas Entscheidungsproblem. Da lernen wir kein Kind so kennen, dass wir anfangen würden, Mitleid zu empfinden. Insgesamt zielt der Roman überhaupt nicht auf Rührseligkeit ab, ganz im Gegenteil. Adam ist am Anfang des Romans eben noch siebzehn, weil der Fall sonst nicht vor Gericht käme und wir nichts davon erführen. Durch seine Volljährigkeit ein paar Monate später kommt dann eine weitere Facette hinzu. Ich fand den Roman sehr interessant zu lesen, auch vor dem Hintergrund dieser fünfaktigen Struktur und der Überlegung, die dann beim Leser bleibt, wie es zu der „Katastrophe“ kommen konnte.
      Viele Grüße, Claudia

  5. Liebe Claudia, danke für diese gute Buchbesprechung und die Empfehlung. Ich bin neulich beruflich mit so einem medizinisch-ethischen Konflikt konfrontiert gewesen (glücklicherweise nicht unmittelbar, aber es berührt einen doch schon sehr) und ich werde das Buch unbedingt lesen.
    Auch an dieser Stelle noch einmal beste Wünsche für das noch junge Jahr, Tag für Tag ein bisschen Glück und Heiterkeit (mindestens ein bisschen)
    Herzliche Grüße,
    Marlis

    • Liebe Marlis,
      ich möchte auch nicht in der Haut derjenigen stecken, die in solch einem Dilemma, bei dem ja jede Handlungsoption weitere Probleme mit sich bringt, zu einer Entscheidung kommen müssen. Und ich kann gut verstehen, dass auch als nicht mittelbar Betroffene der Konflikt große Betroffenheit auslösen kann. Es ist wohl die Hilflosigkeit in diesen Fällen, auch das Erkennen um die immer ungünstigen Konsequenzen, die so belastend wirken. Und das erzählt McEwan in seinem Roman ganz überzeugend, finde ich. Die Gerichtsszene mit dem so sachlichen und argmentativ fundierten Austausch der verschiedenen Sichtweisen, ist aus meiner Sicht auch ein ganz positives Bild unseres Rechtssystems und wie hier – wenn es gut läuft – ernsthaft und vertieft um eine „richtige“ Position gerungen wird. Und wie es dann trotzdem nachher noch chief laufen kann. So wünsche ich Dir eine ganz spannende und anregende Lektüre!
      Und natürlich auch ein gutes neues Jahr!!!
      Viele Grüße, Claudia

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