Lesen, Romane

Barbara Honigmann: Chronik meiner Straße

Honigmann_2Vor ein paar Jahren hat Jenny Erpenbeck in ihrem Roman „Heimsuchung“ ein Haus zum Helden ihres Romans gemacht. Indem sie davon erzählt, wer in welchen Zeiten in diesem Haus lebte, welchen Tätigkeiten die Menschen jeweils nachgingen, welche Konflikte sie austrugen, wann sie ein- und auszogen und aus welchen Gründen, welche Besitzerwechsel es gab, hat die Autorin am Beispiel dieses Hauses und ihrer Bewohner nicht nur auf höchst interessante Art deren individuelle Geschichten erzählt, sondern – fast nebenbei – auch die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Barbara Honigmann hat nun ein ähnliches Erzählexperiment gewagt. Sie macht die Straße, in der sie in Straßburg seit dreißig Jahren wohnt, zur Heldin ihres Erzählens. Und indem sie diese dreißig Jahre zurückschaut, bekommen wir einen Eindruck der Veränderungen in dieser Straße, sehen am Beispiel ihrer Bewohner ein Stück gesellschaftlicher Entwicklung, noch dazu in einer Straße, die von ihren Bewohnern als „Straße des Anfangs“ bezeichnet wird. Als Barbara Honigmann mit ihrer Familie 1984 aus der DDR ausgewandert ist, ist sie gleich soweit nach Westen gereist, dass sie in Straßburg angekommen ist. Dort hat die Familie eine Wohnung bezogen, ganz im Osten der Stadt – sozusagen mit Blick auf Deutschland, wenn man Richtung Westen schaut -, in der Rue Edel. In diese Straße verschlägt es viele Menschen, die sich aus mannigfaltigen Gründen neu in Straßburg niederlassen, die dann aber meistens schnell von dort wegziehen in andere, in „bessere“ Stadtviertel, weshalb die Rue Edel eben als „Straße des Anfangs“ bezeichnet wird. Die Honigmanns aber wohnen immer noch dort, im zweithässlichsten Haus sogar, wie die Autorin berichtet, leicht zu finden, weil es direkt gegenüber dem hässlichsten Haus liegt, und das gehört der Telekom. Und auch die Umgebung scheint nicht gerade attraktiv und einladend zu sein: Es gibt keine Bäume, keine Sträucher, keinen Park in der Nähe „kein Europa Parlament, keine Kathedrale und keine Ill, dem Blick bietet sich nichts als die baumlose Straße und die gegenüberliegenden Häuser, von denen einige sehr häßliche Betonklötze sind“. Dafür aber gibt es in der kurzen Straße, eingeklemmt zwischen der European Business School im Norden und der Ècole internationale im Süden der Straße, viele Menschen mit ihren ganz besonderen Geschichten, Flucht- und Migrationsgeschichten zumeist, und an den Wellen, in denen immer wieder neue Ströme von Menschen in die Straße des Anfangs ziehen, lassen sich politische Entwicklungen, Krisen und Kriege, leicht ablesen. Und es lässt sich erkennen, wie diese „vielen Völker“ mit ihren vielen Sprachen und Kulturen, natürlich zusammen mit denen, die Honigmann als das „andere Frankreich“ bezeichnet, hier in der Straße zusammenleben, sodass sich ein ganz besonderer Mikrokosmos entwickelt. In den fast dreißig Jahren ihres Hier-Wohnens hat Barbara Honigmann also viele Menschen kommen und gehen sehen, hat mit ihnen gesprochen, sich manchmal befreundet und kann Veränderungen beschreiben. So hat sie beschlossen, eine Chronik ihrer Straße zu schreiben, vielleicht sogar als Gegenentwurf zu den vielen eher negativen Beschreibungen solcher Gegenden, wenn der Zuzug von Ausländern immer wieder gleichgesetzt wird mit zunehmender Kriminalität und wachsendem Chaos. Herausgekommen ist eine Chronik, die keine einzige Jahreszahl enthält, kaum ein politisch denkwürdiges Ereignis, vielmehr aber die Geschichten vieler Menschen erzählt, die die Autorin kennengelernt hat, im Hausflur, auf der Straße, durch die Kinder. Honigmann erzählt vom Leben und vom Zusammenleben, vom religiösen Leben, von den ganz normalen Problemen und Konflikten, von Gerüchten über den oder jenen, von den Künstlern, die, ganz nach Pariser Vorbild, im Café leben und arbeiten, von den drei Verrückten in der Straße, von Hunde- und Katzenbesitzern und den vielen, vielen Erinnerungen an die verlassene Heimat, die hier fast jeder mit sich herumträgt. Und die Kinder, die hier ganz selbstverständlich aufwachsen, entwachsen den Erinnerungen der Eltern, auch den Sprachen, irgendwann möchten sie die Geschichten von früher nicht mehr hören, schämen sich, weil die Eltern die Sprache ihres neuen Vaterlandes immer noch nicht fehlerfrei sprechen. Von den „vielen Völkern“ spricht die Autorin immer wieder und meint damit das bunte Völkchen, das in den Häusern der Straße wohnt. Viele Juden gehören dazu, manchmal werde die Straße auch liebevoll das zweite Ghetto genannt, es sind viele Araber da, Türken und Kurden, Pakistani, Inder, Sikhs und Chinesen, Japaner, Koreaner, dann Portugiesen, Russen und andere Osteuropäer, Albaner, Bosnier. Sie reden mehr oder weniger lautstark ihre vielen Sprachen, laufen manchmal in großen Gruppen und mit „gut eingeübten Choreographien“ über den Bürgersteig, sodass an ihnen nur vorbeikommt, wer entweder „ein Mann ihres Stammes ist“ oder wer beherzt auf die Straße springt, und sie zeigen sich in ihren vielen unterschiedlichen Kleidungen, in Turban und Sari, in bunten langen Kleidern, in vielen Formen der Verschleierung, durchaus auch in Kopftuch und „knallengen Hosen und Stöckelschuhen“. Im eigenen Haus wohnen die drei jüdischen Witwen, die die Heimat verloren, den Holocaust überlebt haben. Sie lassen sich von Barbara Honigmann helfen, die Formulare auszufüllen, Briefe und Erklärungen zu schreiben, Telefonate, Nachfragen und Korrespondenzen zu führen mit Anwälten, Notaren, Ämtern und Fonds, um jetzt vielleicht doch noch die letzte Chance auf Entschädigungen und Renten zu nutzen. Nach dem Krieg haben sie es versäumt, weil sie sich damals, „viel zu verletzt gefühlt hatten und aus einer Art Stolz nichts mehr und schon gar keine Wiedergutmachung fordern mochten oder nicht die Kraft hatten, sich in die dazugehörige bürokratische Schlacht zu werfen, oder sie wollten einfach überhaupt nichts mehr hören und nichts mehr sehen von diesem Land, dass sie so gedemütigt und der Verfolgung und dem Tod ausgeliefert hatte.“ (S. 27) Meistens haben die Kinder sie ermutigt zu diesem Schritt, um wenigstens ein wenig Geld zu erhalten, um sich nun, viele Jahre später einen kleinen Luxus leisten zu können, eine Reise vielleicht. Im Nachbarhaus ist vor Kurzem ein „fremdes Volk“ eingezogen, Kasachen oder Kirgisen oder Kaukasier, die Autorin weiß es nicht. Die Zugehörigen dieses neuen Volkes sprechen so laut, dass sie zu hören sind, lange bevor man sie sehen kann, vielleicht, weil sie ständig miteinander laut und aufgeregt schimpfen oder sich ihre Sprache so anhört, als ob sie laut miteinander schimpfen. Honigmann kennt das aus dem Ungarischen, der Muttersprache ihrer Mutter, das sich selbst bei den harmlosesten Plaudereien anhöre, als würde man sich streiten. Noch viel mehr Neugier als Herkunft und Sprache aber erregen die großen Autos, in denen die Männer vorfahren, interessanterweise nicht nur mit französischen, sondern auch mit belgischen, luxemburgischen und deutschen Kennzeichen. Dabei halten die Fahrer es gar nicht erst für nötig, irgendwo einzuparken, sie bleiben einfach in zweiter Reihe stehen und verstopfen solange die Straße, bis sie sich entschließen, wieder wegzufahren. Und da es vor dem Abfahren immer ganz viel zu hören und zu sehen gebe, springt die Autorin oft von ihrem Schreibtisch am Balkonfenster auf und eilt auf den Balkon, um die Prozedur der Abfahrt von ihrem Beobachtungspunkt aus zu genießen. Und dann wohnt natürlich auch noch „das andere Frankreich“ in Honigmann Straße. In dem historischen Wohnblock mit den hundertundeins Wohnungen leben sie meist, diese Franzosen, die nicht so dem sprichwörtlichen französischen Chic entsprechen, sondern ungepflegt und in Pantoffeln über die Bürgersteige nicht flanieren, sondern schlurfen. Vor der Einfahrt zu diesem Wohnkomplex steht oft Sperrmüll herum, manchmal auch nur Müll. Und dies ist auch das Haus, in dem die meisten Hunde und Katzen der Straße wohnen, so beispielsweise der dreibeinige Hund, der mit einer vierbeinigen Katze als Partnerin zusammenwohnt und einem Menschen, von dem wohl nicht ganz genau gesagt werden kann, ob es Mann oder Frau ist. Jedenfalls liegen Mensch und Katze oft am Fenster ihrer Hochparterre-Wohnung und grüßen Barbara Honigmann, wenn sie am Haus vorbeigeht. Von diesen vielen Menschen also erzählt Barbara Honigmann, manchmal neugierig, manchmal kopfschüttelnd, manchmal ironisch, durchaus auch selbstironisch, aber immer mit großer Wärme und mit großem Respekt. Aus den vielen kleinen Geschichten, die sie erzählt, aus den vielen kleinen Facetten alltäglichen Lebens entsteht vor dem Auge des Lesers ein ganz lebendiges, ein ganz buntes Bild der großen Welt im kleinen Abbild dieser französischen Straße. Und wenn Honigmann erzählt, wie sich diese vielen Völker und das andere Frankreich dienstags und samstags auf dem Markt treffen, dann kann da an den Spannungen, die sich schon einmal erkennen lassen, auch die große Politik mit ihren meist weit entfernt liegenden Konflikten abgelesen werden. So zeigt diese Straße, so wie Erpenbecks Haus, ein Stück (Welt-)Geschichte der Jahrtausendwende und kommt zu einem sehr versöhnlichen Ergebnis, denn im Großen und Ganzen leben die Menschen in dieser Straße doch ganz friedlich zusammen. Barbara Honigmann (2015): Chronik meiner Straße, München, Carl Hanser Verlag

pingback: Lesen macht glücklich

11 Kommentare

  1. Oh, schon wieder ein Buch, das direkt auf meine Wunschliste wandert. Danke schön, wäre sonst komplett an mir vorbeigegangen. Ein schönes Wochenende, Anna

    • Liebe Anna,
      es ist ein kleines, sehr schön zu lesendes Buch, das es aber faustdick hinter den Ohren hat, denn es möchte gleich mehrmals erlesen werden, weil es so viele tolle Facetten hat, die beim ersten Lesen alle gar nicht richitg zur Geltung kommen. Genau das richtige für die Osterlesetage :-).
      Dir auch ein schönes (schon Ferien-?)Wochenende, Claudia

  2. Beim ersten raschen Recherchieren klingt die Autorin insgesamt ganz interessant. War mir vorher gar kein Begriff. Der nächste Buchladen wird geentert. Ja, es ist das erste Ferienwochenende. Allerdings war der Einstieg in die Ferien ganz leise, da ich seit Wochen mit einer heftigen Infektion zu tun hatte, die mir auf Kehlkopf und Stimmbänder geschlagen hatte. So allmählich geht’s wieder, wenn auch die Stimme immer noch lädiert ist. Auch dir eine richtig schöne schulfreie (hoffentlich nahezu korrekturfreie) Zeit mit schönen Büchern und viel Spaß mit den Hunden 🙂

    • Ja, die Autorin ist wirklich interessant. Ich bin der festen Auffassung gewesen, schon etwas von ihr gelesen zu haben, aber mein Buchregal hat bei „Honigm…“ nichts vorzuweisen. So werde ich wahrscheinlich auch noch mehr von der Autorin lesen wollen. Korrigiert habe ich heute morgen die letzten beiden Deutsch-Vorabi-Klausuren, habe jede Menge „to do-Aspekte“ für in zwei Wochen auf gelbe Zettel geschrieben und werde nun NUR schöne Dinge machen, nämlich genau alle die, die Du schon beschrieben hast! – Eine Kehlkopfentzündung ist ja für Lehrer nicht so die richtig passende Krankheit. Meistens werden ja sowieso Menschen Lehrer, die Quaselwasser getrunken haben, meint mein Mann wenigstens, der kennt die vielen Schweiger im Lehrerzimmer eben nicht :-). Da kommt so eine Stimmbandhinderung ja doppelt schlecht. Aber jetzt in den Ferien, und sollte das Wetter etwas besser werden, werden Dich bestimmt alle letzten und restlichen schäbigen Keime verlassen! Und so wünsche ich Dir auch eine richtig gute Lese- und Erholungszeit.

  3. Bestell deinem Mann mal herzliche Grüße 🙂 Ich sitze auch an den letzten Korrekturen 🙂 LG, Anna

  4. In die Straße will man dank Deiner schönen Besprechung wirklich gerne lesend einziehen. Und auch ich grüble, woher mir der Name Barbara Honigmann ein Begriff ist.

    • Liebe Birgit,
      Barbara Honigmanns Schreibtisch an der Balkontür hätte ich schon gerne, ihren Blick nach draußen, im Sommer kann man dann immer ein bisschen von dem Treiben auf der Straße mitbekommen, so ein ständiges wuseliges Hintergrundgeräusch beim Denken und Schreiben. Und die „vielen Völker“ sind bestimmt auch ziemlich spannend. Aber so ganz ohne Grün in der Straße und nund rund herum, das wäre wohl nichts für mich. Immerhin aber ist es eine Straße, in der das Zusammenleben irgendwie funktioniert – und das ist toll zu lesen. Und lesend einziehen in die Rue Edel, das geht auf jeden Fall.
      Viele Grüße, Claudia

  5. Liebe Claudia,
    das ist mal wieder sehr gemein von Dir! Ich habe noch so viele schöne Bücher hier liegen und auf der Liste – und da kommst Du mit dieser Strasse an. Muss ich ja wohl haben. Deine Besprechung klingt jedenfalls ganz danach.
    Mit Barbara Honigmann geht es mir, wie Dir: ich stand eben vor meinem Bücherregalchaos und habe sie nicht gefunden. Ich weiss allerdings, welches Buch ich vor bald 30 Jahren von Ihr gelesen habe. Das hiess „Roman von einem Kinde“ und enthielt sechs knappe, sehr beeindruckende Erzählungen http://www.dtv.de/buecher/roman_von_einem_kinde_12893.html . Ich meine, es war ihr Debüt. Danach habe ich nur noch ein Buch gelesen, da war sie schon nach Strassburg ausgewandert und ich weiss tatsächlich nicht mehr, welches es war. Ich weis bloss noch, dass es mich ein bisschen enttäuscht hat. Das genannte Buch kann ich jedenfalls sehr empfehlen. Das sind bloss 120 Seiten, die es aber ebenfalls in sich haben.
    Liebe Grüsse
    Kai

    • Lieber Kai,
      dann kennst Du Dich ja schon ein bisschen besser aus im Werk von Barbara Honigmann. Schon merkwürdig, dass so viele ihren Namen kennen und meinen, sie hätten auch schon etwas von ihren früheren Büchern gelesen (Anna und Birgit und ich) und dann steht da doch nichts im Regal. Da dieses Buch aber so beeindruckend geschrieben ist – es ist so wie bei den Lyrikern, die auch eine ganz präzise Sprache haben, wenn sie sich Prosa verfassen, da stimmt einfach jedes Wort – werde ich bestimmt noch mehr von ihr lesen. Da schaue ich mir auch ihren „Roman von einem Kinde“ an. Vielen Dank also für den Tipp. Und ich bin gespannt, ob Du lesend auch in die Rue Edel einziehst. Dann musst Du aber auch wirklich mal wieder etwas dazu schreiben auf Deinem Blog!
      Viele Grüße, Claudia

  6. Liebe Claudia,

    dieses Buch wurde auch beim Hansertag kurz vorgestellt und bereits da hatte es mein Interesse geweckt, dabei habe ich bisher noch nie etwas von der Autorin gelesen. Nun steht es ganz oben auf meiner Wunschliste und wenn ich Nino Haratischwilis Wäzer durch habe, werde ich es mir gleich auf den Lesestapel legen!

    Liebe Grüße
    Mara

    • Liebe Mara,
      da freue ich mich ja, wenn ich Dir durch meine Besprechung noch einmal einen kleinen Schubs zum Lesen des Buches geben konnte, sonst ist es ja oft andersherum. Mich wundert ja, dass die „Chronik“ so gar nicht auf den Blogs auftaucht und auch im Feuilleton – ich habe jetzt allerdings auch nicht dazu ganz ausführlich recherchiert – ist es mir noch nicht begegnet. Das finde ich schade, denn es ist wirklich ein schönes Buch, toll geschrieben und über das Leben in der „Straße des Anfangs“, die eben nicht unbedingt DIE Vorzeigestraße ist, mit so vielen kleinen, scheinbar alltäglichen, aber doch ganz tiefgehenden Geschichhten über die Menschen, die dort zusammenleben. Ich bin gesapnnt, wie die „Chronik“ Dir gefällt.
      Viele Grüße, Claudia

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.