Flucht und Entwurzelung, Lesen, Romane, Wirtschaft

Imbolo Mbue: Das geträumte Land

„Das geträumte Land“ hätte DER Roman werden können für „Das graue Sofa“, ein Roman, der auf das schönste die beiden Schwerpunktthemen, nämlich die Ökonomisierung aller Facetten unseres Lebens und die Probleme um Flucht, Vertreibung und Heimatlosigkeit hätte verbinden können. Denn der Roman erzählt genau von diesen beiden Themen, indem er die Wege von Jende Jonga und seiner Frau Neni, kamerunische Flüchtlinge in New York, mit denen der Bankerfamilie Edwards just zur Zeit der Lehmann-Pleite 2008/2009 verknüpft.

Wie Jendes Leben in Limbe ist, welche Chancen in der Gesellschaft er hat, das ist schon bei seiner Geburt festgelegt worden. Er entstammt einer armen Familie, einer Familie ohne „Namen“ und wird nie eine Möglichkeit zum Aufstieg haben. Der Job als Straßenfeger ist gleichzeitig auch das Ende der Karriereleiter. Und bedeutet auch, dass er niemals Neni wird heiraten können, denn Neni entstammt einer Familie, die – zumindest für ein paar Jahre – Geld hatte. Damals nämlich, als ihr Vater im Hafen beim Zoll (!) arbeitete und so viel verdiente, dass die Familie sich ein Haus leisten konnte und seit dem auch den Anspruch auf einen reichen Schweigersohn pflegt, einen, der genug Geld hat, um auch dem Schwiegervater unter die Arme greifen zu können. Dass Neni schwanger ist, dass schließlich ihr Sohn Liomi geboren wird, verändert die Haltung des Vaters nicht.

Für Jende gibt es nur einen Ausweg: die Flucht in das gelobte Land, in das erträumte Land Amerika. Er beantragt ein Besuchervisum, schwört im amerikanischen Konsulat, dass er nach drei Monaten wiederkommen. In Amerika angekommen, arbeitet und spart er, bis er so viel Geld zusammen hat, dass er das Brautgeld für Neni zahlen kann und das Ticket für ihren Flug nach New York.

Seit drei Jahren kämpft Jende nun schon um sein Bleiberecht, hat einen Asylantrag gestellt, hat immerhin eine vorübergehende Arbeitserlaubnis. Neni lernt Englisch, besucht die Schule, jobbt als Altenpflegerin und träumt davon, Pharmazeutin zu werden. Allen Widrigkeiten zum Trotz will sie es schaffen in Amerika, will, solange es auch dauert, ihre Ausbildung zu Ende bringen, will ihren Kindern eine gute Bildung zukommen lassen. Als Jende durch Vermittlung seines Cousins, der Wirtschaftsanwalt an der Wall Street ist, einen gut bezahlten Job als Chauffeur für Mr Edwards, einem hochrangigen Banker bei Lehmann Brothers, bekommt, scheint der Weg der kleinen Familie in der neuen Welt, endlich geebnet zu sein. Und dann bietet sich Neni auch noch die Möglichkeit, für Mrs Edwards, die die heißen Monate im Sommerhaus in den Hamptons verbringt, im Haushalt zu arbeiten und sie kann und in vier Wochen so viel verdient, wie sonst in drei Monaten.

Aber die Katastrophen lassen nicht lange auf sich warten: Neni wird wieder schwanger und Jende, auf einmal und ziemlich unmotiviert ganz Macho, verbietet ihr, weiter arbeiten zu gehen und verlangt, dass sie auch ihre Studien ruhen lässt. Die Lehmann-Pleite bedeutet zwar für Jende noch nicht das Ende seiner Chauffeurtätigkeit, weil Mr Edwards in die neue Bank übernommen wird. Aber im Zusammenhang mit den hohen staatlichen Zahlungen zur Rettung der Banken, fängt die Öffentlichkeit an, sich für die moralisch fragwürdigen und verantwortungslosen Banker zu interessieren und so kommt ans Licht der Zeitung, dass auch Mr Edwards sich gerne zum Stressabbau in eines der Hotels in der Nähe der Bank hat fahren lassen. Jende gerät mitten hinein in den sich anbahnenden Ehekonflikt, wird von Mr Edwards zum Sündenbock gemacht und verliert so dann doch seinen Job. Und der Asylantrag wird auch abgelehnt, nicht weiter verwunderlich, denn auf der Suche nach einem plausiblen Asylgrund hat der angeblich so versierte Anwalt – oder der Anwalt, der es so sehr auf Jendes Geld abgesehen hat – tatsächlich angegeben, dass Jende von seinem Schwiegervater verfolgt werde. Nun muss Jende mit illegalem Status die schlecht bezahlten Jobs in der Gastronomie annehmen, gleich zwei, um die Familie über Wasser zu halten.

Interessant ist der Roman immer dann, wenn er Einblick gibt in das Leben der kleinen Einwanderungsfamilie. Wenn erzählt wird, wie sicher und selbstbewusst sie sich in ihrem eigenen Umfeld bewegen, bei ihren Arbeiten, beim Studium, mit Freunden, in ihrem Viertel. Und wie diese vermeintliche Sicherheit bröckelt, sobald sie dieses Umfeld verlassen, sobald sie mit Weißen zusammen sind. Wenn die Teilung der amerikanischen Gesellschaft so deutlich zu Tage tritt, weil die Einwanderer aus Afrika meistens die dienenden Arbeiten haben. Und diejenigen, die es bis zur Wall-Street geschafft haben niemals eine weiße Frau heiraten würden. Wenn in Gesprächen und Erzählungen die vielen Auswandererschicksale Gesichter bekommen und die immer gleichen Gründe angeführt werden, dass gerade Amerika das erträumte Land ist, denn Amerika, so glauben und hoffen sie alle, gewähre Chancen auf Jobs, ermögliche den Kindern eine gute Bildung, damit es ihnen später besser als den Eltern geht. Wenn Jende immer wieder diese dramatischen Anrufe aus Kamerun bekommt und um finanzielle Hilfe angefleht wird, weil eine ganz wichtige Krebsbehandlung notwendig ist, weil eine Trauerfeier zu bezahlen ist, und er immer wieder Beträge des mühsam ersparten Geldes für die eigene Familie per Western Union nach Afrika transferieren muss. Wenn Jende erzählt, dass keiner der Auswanderer nach Hause zurückkehrt, wenn er es nicht geschafft hat in Amerika, wenn er nicht allen zeigen kann, dass er „seinen Teil von der Milch und dem Honig und der Freiheit abbekommen hatte, die in Amerika, dem Paradies für Selfmademen, flossen.“

Richtig überzeugen kann der Roman trotzdem nicht. Das liegt zum einen an der Gestaltung seiner Figuren, die alle Klischees bedienen, die vorstellbar sind: die weiße, reiche Bankerfamilie ist natürlich völlig kaputt, Mr Edwards arbeitet nahezu rund um die Uhr, ist selten zu Hause, nimmt sich nur Zeit, wenn es eine gesellschaftlich wichtige Verpflichtung gibt; seine Frau ist in ihrem sehr goldenen Käfig unglücklich, trinkt zu viel, wird später daran auch sterben, der ältere Sohn rebelliert gegen den Lebensstil der Eltern und geht – wohin wohl? – nach Indien; der jüngere Sohn schlägt sich mehr oder weniger alleine durch sein vermeintlich gutes Leben, ein Terminkalender so gefüllt mit Aktivitäten wie der seines Vaters.

Und die Jongas? Da die Erzählung mehr bei ihnen bleibt, werden die Charaktere immerhin etwas genauer und vielschichtiger dargestellt. Aber auch hier sammeln sich die, manchmal ganz klar der Dramaturgie geschuldeten vorhersehbaren Verhaltensweisen und Schicksalsschläge an. Natürlich sind die Edwards-Kinder angetan von der Wärme des Familienlebens der Jongas, wenn sie gemeinsam auf dem Teppich sitzen und die exotischen Speisen essen, wenn sie sich dabei unterhalten, wenn sie mit den Kindern spielen. Das alles kennen sie aus ihrem Elternhaus nicht. Dass Jende sich zum autoritären Familienoberhaupt entwickelt, dass er immer streitbarer und gewalttätiger wird, ist schon plausibel, in seiner Figur aber im Grunde nicht angelegt.  Allein Neni bricht aus diesem Korsett der passgenauen Zuschreibungen aus, bricht mit ihrer Rolle als nette, freundliche, immer zum Dienen bereite Frau und zeigt, dass unter dieser freundlich-gefälligen Oberfläche auch noch eine andere Frau steckt, eine zupackende, eine, die nicht vor kriminellen Handlungen zurückschreckt. Die so zwar der Familie ein Leben in Kamerun sichert, die sich aber nicht gegen Jende durchsetzen kann, so dass auch aus ihrem erträumten Land letztendlich das „geträumte Land“ wird.

Der Roman, chronologisch erzählt, meistens aus der Perspektive der Jongas, nur ganz selten in die Welt der Edwards wechselnd, kann aber vor allem wegen seiner Sprache nicht überzeugen. Nun sind amerikanische Romane eher auf das Vorantreiben der Handlung angelegt, und weniger auf Reflexion. Aber die einfache Sprache und der einfache Satzbau bieten einfach keine Widerstände beim Lesen, keine Widerhaken, an denen der Leser hängenbleibt, keine ungewöhnlichen Bilder, keine Sätze, die angestrichen und festgehalten werden möchten. Vielleicht soll dies genau die Sprache der Jongas abbilden, aber für die erzählenden, die reflektierenden Passagen ist diese Sprache zu wenig literarisch. Dass es auch im amerikanischen Roman ganz anders sein kann, dass auch eine Sprache, die auf Handlung und Authentizität abzielt, spannend, interessant und den Blick erweiternd sein kann, das beweist ja Paul Auster in seinem aktuellen Roman zur Genüge. Gerade der Beginn seines Romans, auch eine Einwanderungsgeschichte, die im Januar 1900 beginnt und die harten Beschwernisse des Einwandererlebens erzählt, zeigt die erzählerischen und sprachlichen Unterschiede deutlich. Natürlich, Auster hat ein ganzes Autorenleben auf diesen Roman hingeschrieben, während Mbue mit ihrem Amerika-Roman gerade den ersten Schritt in ein Autorenleben gemacht hat.

Trotzdem: „Das geträumte Land“ bleibt hinter den Erwartungen zurück, der Roman ist eben nicht DER Roman für „das graue Sofa“, der Roman mit der gelungenen Verknüpfung von Ökonomisierung und Entwurzelung.

Imbolo Mbue (2017): Das geträumte Land, übersetzt von Maria Hummitzsch, Köln, Verlag Kiepenheuer & Witsch

7 Kommentare

  1. Das klingt wirklich reichlich klischeehaft, liebe Claudia. Und wenn dann auch noch die Sprache zu wünschen übrig lässt… Kennst du „Americanah“ von Chimamanda Agozi Adichie? Dort sind einige der hier angesprochenen Themen (in diesem Fall zwischen Nigeria und USA) differenziert und, wie ich finde, sehr lesenswert abgehandelt.

    • „Americanah“ steht schon seit geraumer (schon fast zwei Jahre?) Zeit im Regal. Ich wollte es immer lesen, es ist aber immer ein anderes Buch dazwischen gekommen. Es könnte ja nun , nach Deinem Tipp, gut in den Urlaubsbücherkoffer wandern :-).
      Viele Grüße, Claudia

  2. Hallo Claudia,
    ach, das ist ja schade, dass auch dieser Roman ein wenig an Klischees und zu schlichter Sprache zu leiden scheint. Und mir geht das auch eher mit amerikanischen Romanen so. Dabei klang er zunächst ganz interessant. Aber es kann ja auch nicht jedes Buch ein Meisterwerk sein, sodass ich hier ganz beruhigt von etwaigen Kaufimpulsen absehe. Mein Regal freut’s. Hoffe, dass dich bald ein Buch wieder richtig begeistern kann.
    Liebe Grüße, Anna

    • Liebe Anna,
      es braucht wirklich nicht jedes Buch ins Regal zu wandern. Dann kommen auch die endlich zu ihrem Recht, die da schon lange stehen und warten. „Americanah“ ist vielleicht so ein Buch, wie Maren es mir nach dieser Rezension empfohlen hat. – Woran liegt es Deiner Meinung nach, dass die amerikanischen Romane so anders wirken als die europäischen, dass gerade die Sprache oft so einfach zu sein scheint? Schreiben und lesen die Amerikaner, auch die anspruchsvollen Leser, anders als wir? Oder hat es etwas mit der Sprache selbst zu tun?
      Viele Grüße, Claudia

  3. Hallo Claudia,
    das müsste man mal genauer recherchieren. Ich kann da auch nur Vermutungen anstellen. Ich glaube, das sind Trends und Geschmacks- und Marketingwellen. Amerikanische Romane sind ja nicht per se „einfacher“, man denke an Baldwin, Paul Auster, Richard Ford … Aber ich lese tatsächlich nicht so viele zeitgenössische amerikanische Autoren, hmm. Und dann die Klassiker, Steinbeck, Twain, Faulkner. Doch heutzutage schreiben beispielsweise Rabih Alamdeddine oder Julie Otsuka tolle Bücher. Vielleicht ist es einfach etwas schwieriger, die richtig guten Bücher zu finden, weil sie im Werbegetöse einiger Bestseller untergehen?
    Frühlingsgrüße von Anna

  4. Ruth Leukam sagt

    Ich muss hier einen kleinen Widerspruch einlegen. Sicherlich ist „Das geträumte Land“ kein hochliterarischer Text. Dafür ein Roman, der verständlich macht, warum Menschen ihre Heimat verlassen ( obwohl sie nicht politisch verfolgt , sondern „nur“ sog. Wirtschaftsflüchtlinge“ sind.)
    Und er zeigt deutlich, was sie auf sich nehmen, um irgendwann – wenn nicht für sich, dann wenigstens für ihre Kinder – ein besseres Leben, eine Perspektive zu haben.
    Außerdem finde ich gerade nicht, dass hier sämtliche Klischees bedient werden. Es ist keineswegs vorhersehbar, wie die Figuren reagieren. Dass ein Banker wenig Freizeit hat, ist wahrscheinlich eher die Realität als ein Klischee. Die Frau des Bankers ist auch nicht eine der reichen, gelangweilten Tussis, sondern eine Frau, die unter ihrer Vergangenheit leidet.
    Mir hat das Buch sehr gut gefallen. Es kommt nicht an das Niveau von „Americana“ heran, aber es ist trotzdem lesenswert!
    Liebe Grüße
    Ruth

    • Liebe Ruth,
      Dein „Widerspruch“ kommt sicherlich ganz zu Recht, immerhin ist Mbues Roman für den PEN/Faulkner Fiction Award nominiert. Auch auf den Blogs ist der Roman ja sehr unterschiedlich, meistens ja tatsächlich positiv, bewertet worden. Und bestimmt liegt seine Stärke darin, eine recht zugängliche Geschichte zu erzählen über die großen Probleme der Einwanderung, die eben gerade wegen der wirtschaftlichen Nöte in den Herkunfstländern als einziger Ausweg erscheint. Dass mir das nicht reicht für einen guten literarischen Roman, das habe ich zu bergünden versucht.
      Du machst mich aber nochmal darauf aufmerksam, dass ich wohl dringend „Americanah“ lesen sollte, immerhin steht der Roman ja auch schon im Regal.
      Viele Grüße, Claudia

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