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Marlene Streeruwitz als Nelia Fehn: Die Reise der jungen Anarchistin in Griechenland

Streeruwitz_3Das ist er also, der Roman im Roman. In Marlene Streeruwitz´ „Nachkommen.“ hat Nelia Fehn davon erzählt, wie es einer jungen Autorin ergeht, die mit ihrem Erstling, eben dem Buch über „Die Reise der jungen Anarchistin in Griechenland“ völlig überraschend auf die Shortlist des Deutschen Buchpreis gelangt. Mit großen Augen erlebt sie die Feierstunde des Deutschen Buchpreises – sie geht leer aus -, ebenso staunend läuft sie durch Frankfurt, erlebt die Buchmesse und die wichtig-grotesken Abendessen mit Verlegern und Geldgebern, die merkwürdige Welt der Interviews, die gähnende Langeweile an abgelegenen Ständen, die High Society der Literaturkritiker und andere Absurditäten.

Nun können wir uns also auch ein Bild über den nominierten Roman machen – und natürlich auch Nelias Erfahrungen auf ihrer griechischen Reise nacherleben. Da erzählt eine Neunzehnjährige was ihr passiert auf der Fahrt von Kreta nach Athen, erzählt eine Roadnovel, in die sie durch Evangelos, den übergriffigen Freund des Schwagers, geraten ist, zum Teil aber auch durch ihre unglaubliche Naivität. Diese Naivität, gepaart mit ihren sehr klaren, oder auch altklugen, Lebensweisheiten und Zwängen, sind manchmal schwer erträglich. Schon bei ihren Wanderungen durch Frankfurt, hungernd und frierend, hätte man sie das eine oder andere Mal gerne sanft geschüttelt. Bei ihrer griechischen Reise aber ist die Geduld schneller erschöpft – obwohl diese Geschichte ja vor der Reise nach Frankfurt und vielleicht mehr Langmut gefordert wäre – aber die Fallen, in die sie nun treffsicher tappt, sind vorhersehbarer als die in Frankfurt. Vielleicht ist die ein oder andere Neunzehnjährige so, anstrengend ist es allemal.

Nelia reist von Kreta, dort hat sie ihre Schwester besucht, die ein Ferienresort leitet, nach Athen, wo sie mit Marios verabredet ist, ihrer großen Liebe. Marios ist in Athen politisch aktiv und demonstriert gegen die Regierung, die die Forderungen der Troika zur „Sanierung“ des Staates umsetzt. Die Sanierung führt dazu, dass der Großteil der Bevölkerung, also die Mittelschicht, die sowieso durch die Wirtschaftskrise schon arbeitslos ist, nun auch noch durch überbordende Steuern, z.B. auf das kleine Häuschen, das sie von den Großeltern geerbt haben, ins weitere finanzielle Elend gestürzt wird. Davon erfahren wir immer mal wieder, verabredet haben die beiden sich aber zu einer Demonstration, in der sie für die Rechte von Prostituierten kämpfen wollen, die – zu Unrecht – als ausländische HIV-Infizierte denunziert wurden.

So steht Nelia nun im Hafen auf Kreta, schaut der „davonsegelnden“ Fähre hinterher, auf der Evangelos, der Freund des Schwagers und auch ein Verwandter Marios, nach Athen reist. Er wollte sie mitnehmen nach Athen, hat dann aber die Gunst der Stunde genutzt, sich während der Auffahrt auf die Fähre über den Beifahrersitz geworfen und Nelia geküsst, die sich nur noch durch einen beherzten Sprung aus dem immerhin „rollenden“ Auto in Sicherheit bringen konnte. Nun kann sie Marios nicht mehr informieren, dass sie heute nicht mehr kommen wird, denn der ist für sie per Handy nicht erreichbar, nutzt er doch ständig neue Telefonnummer und Prepaid-Karten, um Polizei und Geheimdienst nicht in die Fänge zu gehen. Sie ruft aber auch nicht die Schwester an, um zu erzählen, was passiert ist, sondern wandert – wir kennen es schon aus „Nachkommen.“ – wieder einmal plan- und ziellos in die Stadt, sucht ein Restaurant, geht an allen vorbei, sucht eine billige Pension, denn viel Geld hat sie auch nicht mehr, und landet im 5-Sterne Hotel, in dem sie sich vor allem wegen der Sauberkeit so wohl und beruhigt fühlt. Aber schon geht der Parforceritt durch die Abgründe der Gesellschaft weiter, denn vor ihrem Zimmer auf dem Balkon stehen zwei masturbierende Männer, die sich auf deutsch mit „Du geile Sau“ anfeuern, sonst aber türkisch miteinander sprechen.

Am nächsten Morgen, wieder am Hafen, lässt Nelia sich von einem Mann überreden, die Überfahrt nach Athen doch statt für 38 Euro auf der Fähre für 25 Euro auf einem Segelboot zu verbringen, zwei Skipper hätten gerne Gesellschaft – und verdienen sich so etwas dazu, wenn sie bei der Überführung der Privatjacht des Auftraggebers Personen mitnehmen. So landet Nelia, auch wenn sie argwöhnt, dass Drogen im Spiel sein könnten, als einzige Passagierin auf der funkelnagelneuen Segeljacht. Anfangs findet sie die Segelei ja sehr angenehm, als die Skipper aber in abgelegenen Buchten Waren mit anderen Männern in Motorbooten tauschen, wird ihr Argwohn immer größer. Später laufen sie den Hafeneiner Insel an, denn ein Sturm zieht auf. Nelia nutzt die Gelegenheit zur Flucht und gerät prompt auf dem dem Wind völlig ausgesetzten Küstenweg in diesen heftigen Sturm. Gerettet wird sie dann doch – von deutschen Urlaubern, einem Regisseur aus Berlin und seinen Freunden.

Bis Athen fährt sie nun wieder auf Fähren – woher nun das Geld kommt, wird nicht erzählt. Und als sie dann abends in Athen ankommt, zur U-Bahn geht, mit ihr in die Stadt fährt, sieht sie dort Demonstranten. Die müssen doch Marios kennen und wissen wo er ist, denkt sie sich, und hält ihnen gleich mal das Handy unter die Nase. Und so gerät sie, sie weiß nicht wie, ganz zufällig in die vorderste Reihe, ganz zufällig in ein Handgemenge mit der Polizei, sie verliert das Handy, ihre Auskunftei mit allen Telefonnummern und Adressen, und wird dann auch gleich festgenommen. Und so können wir Leser auch noch erfahren, wie es zugeht auf Athener Polizeistationen, bzw. in deren Kellern, in denen die Demonstranten verwaltet und verängstigt werden. Und auch hier stehen Nelias Gedanken nicht still:

Ich hatte im Lieferwagen schon mein iPhone vermisst. Das war weg. Das war verschwunden. Wahrscheinlich war es mir beim ersten Schlag auf die Schulter aus der Hand gefallen. Ich schämte mich, dass ich mich so widerstandslos niederschlagen hatte lassen. Ich setzte mich an die Wand und ärgerte mich (…). Ich hatte mich selbst wehrlos gemacht. Ich fühlte mich restlos dadurch gekränkt. Es war richtig peinlich, was für ein Mädi ich da wieder gewesen war. Es war aber alles so schnell gegangen. (S. 158/159)

Natürlich bietet Nelias Reise auch in diesem Roman viele literarische Anknüpfungspunkte: Die Reise als Metapher für Nelias Suche nach der ganz eigenen Identität, die sie in Abgrenzung zur konservativen Familie ihrer verstorbenen Mutter noch sucht; für ihre Suche nach dem Glück, das für sie darin besteht mit Marios zusammen für mehr Gerechtigkeit in seinem Land zu kämpfen, z.B. bei einer Demonstration gegen die Verunglimpfung und Vorverurteilung von angeblich HIV-positiven ausländischen Prostituierten. Die Reise bietet auch viele Gelegenheiten, unterschiedliche Menschen kennenzulernen, und so die verschiedenen Facetten der Gesellschaft zu beschreiben: die reichen Deutschen, die ihren Urlaub auf den griechischen Inseln verbringen und für die Einheimischen zur fast einzigen Einnahmequelle werden; die Skipper, die keine Gelegenheit verstreichen lassen, sich bei – vielleicht sogar illegalen – Überführungsfahrten von Segeljachten griechischer Bürger etwas dazuzuverdienen; überall Menschen, die ihre Häuser verlieren werden, weil sie die hohen Immobiliensteuern nicht mehr zahlen können; Menschen ohne jede Krankenversicherung, die in ehrenamtlich errichteten Krankenhäusern von Ärzten versorgt werden, die selbst auch arbeitslos geworden sind.

Trotzdem: Richtig überzeugend ist Nelias doppelter Suchprozess nicht. Ihre Stimme ist ermüdend, wenn sie ihre Handlungen und Beobachtungen erzählt, dann wieder Deutungen dessen, was sie sieht und hört, wenn wir also dieses ständige Hin und Her, das ihr durch den Kopf geht, lesend nachvollziehen. Alles scheint gleich bedeutsam zu sein, die Suche nach Essen, die Suche danach, ob Coca-Cola den veganen Bedingungen genügt, steht auf derselben Bedeutungsstufe wie die Entscheidung, auf dem Segelboot mitzufahren oder nicht; die Demonstration zum Schutz der angeblichen HIV-Prostituierten hat dieselbe Bedeutung wie die Demonstrationen des Großteils der Bevölkerung gegen Steuererhöhungen und Rentenkürzungen. Das ist schade, denn es werden viele Chancen vergeben, genauer über die Missstände zu erzählen, die Nelia in Athen und in den Begegnungen mit den Menschen dort hätte erfahren können. Offensichtlich geht es hier doch mehr um die Reise einer jungen Frau als die einer mehr politisch denkenden und beurteilenden Anarchistin. Und das ist, nun können wir die Entscheidung der Buchpreisjury aus dem Roman „Nachkommen.“ gut nachvollziehen: nicht buchpreiswürdig.

Marlene Streeruwitz als Nelia Fehn (2014): Die Reise der jungen Anarchistin in Griechenland, Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag

12 Kommentare

  1. Liebe Claudia,
    da gibt es einen Halbsatz von Dir, ganz am Ende Deiner Besprechung: „Ihre Stimme ist ermüdend, … “ – leider ging es mir mit den Büchern des ‚Originals‘ meist genauso, weshalb ich auch keines bis zum Ende gelesen habe. Dieses hier wird wohl auch auf mich verzichten müssen. Na, es wird es ertragen…
    Danke für die aussagekräftige Besprechung, wie immer ein Gewinn, dieses mal vor allem ein Zeitgewinn…
    Liebe Grüsse
    Kai

    • Lieber Kai,
      bei „Nachkommen.“ hat mir die Sprache, also Nelias Stimme, noch ganz gut gefallen, es schien mir ganz passend zu ihrer Verfasstheit. Aber in diesem zweiten Roman bin ich deutlich ungeduldiger gewesen, vielleicht bin ich einfach zu alt für dieses ewige Hin und Her. Vielleicht ist auch der erste, dickere Roman, in sich thematisch komplexer, sodass die Stimme noch trägt. Nun ist es mir jedenfalls schwer gefallen mit der Lektüre, ich habe schon mehrere Anläufe gebraucht, um durchzuhalten. Und so wünsche ich Dir einen schönen Zeitgewinn, Du kannst ihn ja gerade für Bella gut gebrauchen.
      Viele Grüße, Claudia
      PS: Ich hoffe, mein Mail-Eingriff ist in Ordnung?!

      • Liebe Claudia,
        das erste Ja: Dein Mail-Eingriff ist mehr als in Ordnung, ich bin geich beim abschicken also dermassen rot geworden vor Scham, dass ich froh war, alleine zu sein, bzw. Bella war es eigentlich egal, Hauptsache Spielhuhnweitwurf. Ich hoffe, Du kannst meinen Fauxpas noch mal entschuldigen!
        DAS zweites Ja und a pro pos Bella: da hast Du allerdings recht, es macht aber auch so einen Spass mit diesem kleinen bekloppten Hündchen…
        Liebe Grüsse
        Kai

      • Dann ist Spielhuhnweitwurf auf jeden Fall ein lohnenderes Projekt! Findet Bella bestimmt auch.
        Viele Grüße, Claudia

  2. Liebe Claudia,

    ich habe Nachkommen zwar hier liegen, aber noch nicht gelesen. Ich finde das Buch als Konstrukt spannend, besonders die Idee des Buches im Buch, das nun auch tatsächlich erscheint. Aber es scheint ja – wenn ich deine Besprechung richtig deute – bei der spannenden Idee zu bleiben.
    Nachkomen werde ich wohl auf jeden Fall noch mal lesen, dieses hier bleibt dann aber erst einmal auf der Leseliste stehen und wird nicht gekauft.

    Liebe Grüße
    Mara

    • Liebe Mara,
      von den Nachkommen bin ich ja recht begeistert gewesen – und war erstaunt über teils heftige Verrisse. Aber nun habe ich wahrscheinlich zu viel erwartet und irgendwie gedacht und gehofft, es wäre mehr Politisches herausgekommen bei der Reise der Anarchistin. Indem Nelia verschiedene Griechen (meistens sind es Griechinnen) kennenlernt, erfährt sie natürlich auch etwas über ihr Leben und ihre Sorgen. Aber irgendwie stehen immer auch ihre manchmal verqueren Gedanken gleich daneben. Mich würde aber interessieren, wie Du Nelias Erzählungstimme findest, vielleicht ist sie Dir ja näher und Du hast mehr Verständnis. Ich will nicht wieder auf dem Alter herumreiten, aber vielleicht hat es ja doch etwas damit zu tun. Oder es passt eben auch bei jüngeren Lesern nicht.
      Viele Grüße, Claudia

  3. Hach, ein Buch, das nun mal nicht auf die Liste wandert. So eine Besprechung lese ich durchaus gern :-). Auch weil du die Kritikpunkte so nachvollziehbar darstellst. LG, Anna

    • Nach den „Nachkommen.“ hat mich dieser Roman wirklich nicht so gepackt. Muss aber ja auch mal so sein. Vielleicht gibt es ja noch irgrndwo eine andere Lesart, die mich dann doch noch etwas versöhnen kann.
      Ganz herbstliche Grüße, Claudia

  4. Liebe Claudia,
    vielen Dank für Deine kritische Rezension. Anscheinend hat das Buch Dich enttäuscht, vielleicht waren die Erwartungen nach NACHKOMMEN. auch sehr hoch, oder? Mir geht es jedenfalls so. Ich werde Nelia Fehns Roman trotzdem lesen, einfach, um das Bild zu vervollständigen und weil ich NACHKOMMEN. so grandios fand.
    Viele Grüße, Tobias

    • Lieber Tobias,
      vielleicht ist es wirklich so, dass ich mit meinen Erwartungen so klar war, dass ich nur enttäuscht werden konnte, dass ich mehr etwas in die Richtung erwartet habe, die konkrete Betroffenheit der Griechen durch Sparparkete, Lohn- und Rentenkürzungen, Arbeitslosigkeit bei gleichzeitiger Steuererhöhungen – und das alles nur für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, die andere leistet sich ja immer noch Segeljachten – erzählt zu bekommen, und eben nicht doch wieder bei den Männermachtspielchen zugucken zu müssen. Weil es so wenige Autoren gibt, wir haben es ja schon ein bisschen thematisiert, die sich um die wirtschaftlichen Verwerfungen kümmern, habe ich mir das wohl für diesen Roman zu stark vorgestellt und gewünscht. Und dann passten Erwartung und Erlebnis nicht zusammen – und schon gibt es eine miese Kritik. Ich warte also gespannt auf Deine Besprechung, vielleicht kannst Du ein bisschen wieder zurechtrücken, was mir meine Erwartung verrückt hat.
      Viele Grüße, Claudia

  5. Michael Weithmann sagt

    Liebes Sofa,

    meines Wissens ist noch keine Rezension auf den BUCHTITEL eingegangen, bzw. auf seine historische Assoziation:

    Barthélemy, Jean Jacques
    Titel: Voyage du jeune Anacharsis en Grèce, vers le milieu du IVe siècle avant l’ère vulgaire

    Verlagsort, Verlag, Jahr: Paris, Didier, 1843

    Autor: Barthélemy, Jean Jacques
    Titel: Voyage du jeune Anacharsis en Grèce, vers le milieu du IVe siècle avant l’ère vulgaire
    Verfasserangabe: par J.-J. Barthélemy
    Verlagsort: Paris
    Verlag: Didier
    Jahr: 1843
    Sprache: fre

    Schöne Grüsse
    Michael Weithmann

  6. Pingback: Rezensionen. Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland. @ Marlene Streeruwitz

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