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Enno Stahl: Sanierungsgebiete

Lynn ist ratlos. Bald ist ihr Architekturstudium zu Ende, es fehlen nur noch die Diplomarbeit und ein mehrmonatiges Praktikum. Aber sie weiß nicht, worüber sie schreiben soll, weiß auch nicht, wie sie an eine Praktikumsstelle kommen soll, nun, da es alle Studenten absolvieren müssen. Warum sie nicht über ihre Straße schreibe, fragt Frank, ihr Kommilitone. Da sei so viel saniert worden seit der Wende, das wäre doch bestimmt ein gutes Thema. Lynn wohnt in der Rykestraße und diese Straße am Prenzlauer Berg ist ausgewiesenes Sanierungsgebiet. Hier, so hat der Senat von Berlin festgelegt, sollen bauliche Maßnahmen an den zu DDR-Zeiten lange nicht modernisierten Gebäuden unterstützt werden. Und ebenso soll die Infrastruktur verbessert werden, durch Spielplätze und Grünflächen beispielsweise und verkehrsberuhigte Zonen.

Lynn nimmt die Idee auf, entwirft ein Konzept und schlägt das Thema ihrem Professor vor. Der akzeptiert es, auch wenn Lynn hier mehr soziologische als bautechnische Forschungsfragen aufwirft. Denn ihr Interesse liegt ja vor allem bei der Frage, wie die Sanierungen auf die dort wohnenden Menschen wirken. Dabei steht Lynn, die Tochter einer Anwältin aus Düsseldorf, die die Wohnung für die Zeit des Studiums der Tochter gekauft hat, prototypisch für die Veränderungen, die hier vor sich gehen: Vermögende Wessis kaufen Eigentum in den gut sanierten Häusern, leben selbst dort oder vermieten die Wohnung. Verdrängt werden die ursprünglichen Bewohner.

So die ältere Dame aus Lynns Hinterhaus. Die hat versucht, sich das Leben zu nehmen, hat das Gas aufgedreht an dem Tag, an dem ihr per Räumungsklage angekündigt wurde, dass sie ausziehen müsse. Über 80 Jahre ist sie und hat vierzig Jahre hier gewohnt. Aber umziehen, auch wenn ein Umzugsunternehmen hilft, in eine neue Wohnung, die der Vermieter besorgt hatt, das wollte sie nicht.

Auch Stone ist schon weggezogen, nach Neukölln. Dort geht er jetzt immer mit seiner Hündin Else in der Hasenheide spazieren. Manchmal bessert er sich seine Einkünfte vom Amt mit kleinkriminellen Tätigkeiten auf. Lynn führt mit ihm ein Interview über seine Zeit in der Rykestraße. So lernen sie sich kennen und bleiben verbunden, auch als er Luzie kennenlernt und die beiden beschließen, aufs Land zu ziehen, dort einen Späti aufzumachen und den Boots-Verleih am Kanal zu betrieben.

Enno Stahl wendet sich in seinem Roman, der am Ende der 2000er Jahre angesiedelt ist, mit dem Blick auf die Immobilienfrage einem – immer noch – aktuellen, einem politischen Thema zu. Ähnlich wie Anke Stelling, die auch schon mehrfach von Gentrifizierung und ihren Auswirkungen erzählt hat, zuletzt so virtuos in „Schäfchen im Trockenen“. Durch Lynns Diplomarbeit, durch ihre Recherchen, durch eigene Erhebungen und Analysen statistischer Daten über die zwei Jahre, die sie für ihre Arbeit benötigt, wird der Verdrängungsprozess und die vielen Einflüsse, die ihn so deutlich befördern, sehr differenziert ausgelotet. Dabei ist der zeitliche Rahmen der Diplomarbeit eben der Zeitraum, von dem hier erzählt wird, so dass die Leser*innen Veränderungen im Kiez hautnah miterleben können, genauso die Leben der Protagonisten. Und ihre charakterlichen Brüche.

Ein Nachbar von Lynn, nur ein paar Häuser weiter wohnend, ist Otti, Ottmar Wieland. Er kommt aus Rostock, lebt aber schon seit dem Studium in den 1980er Jahren in Berlin. Und eigentlich auch nur im engsten Umkreis der Rykestraße. Hier ist sein Umfeld, hier kennt er sich aus, hier kennt er die Menschen, sitzt in den Kneipen, trifft sich mit den alten Freunden, um wieder neue Aktionen zu planen, eine neue Zeitschrift herauszugeben. Gerade arbeiten sie am Konzept einer Zeitschrift mit dem sprechenden Namen „Der Weg nach unten“. Otti ist ein eingefleischter Linker, jedes auftauchende Problem, jede gesellschaftliche Frage kann er einwandfrei marxistisch erklären. Und so wie er sich in der DDR als regimekritisch gezeigt hat, so empfindet er auch jetzt „den Staat“ – vor allem verkörpert durch die Mitarbeiter der Arbeitsagentur – als seinen natürlichen Feind.

Natürlich erst recht die vom Kapitalismus angetrieben Immobilienbesitzer. Denn Otti liegt im Klinsch mit seinem Vermieter Huber, der vor Monaten eine Renovierung angekündigt und dann erst einmal ein Gerüst mit Sichtschutz hat aufbauen lassen. Da sind schon die ersten Mieter ausgezogen, von ganz alleine sozusagen. In der zweiten Stufe haben Hubers Handwerker nun damit begonnen recht viel „Dreck, Lärm und Staub“ zu machen, umdie noch hier wohnenden Mieter zu vergraulen.

„Zur Strafe hat Otti die ohnehin schon spottbillige Miete gekürzt und den politischen Kampf gegen die feindliche Landnahme noch einmal verschärft. Mit einigen Leuten, die in einer ähnlichen Lage sind, hat er eine Initiative aufgebaut, die gegen die Verdrängungsprozesse im Viertel kämpft. Ihre Flugblätter haben – gerade wegen ziemlich radikaler Forderungen, Boykott- und Gewaltaufrufen sowie der Veröffentlichung privater Daten und Details über die hier tätigen Spekulanten – reißenden Absatz in der Szene gefunden.“

Otti war mit Donata verheiratet, sie kennen sich aus der Punk- und Widerstandsszene in Prenzlauer Berg, die sich in der 1980er Jahren entwickelt hat. Als nun alleinerziehende Mutter und Redakteurin beim „Voran“, der Gewerkschaftszeitung, versucht Donata politische Haltung und Lebensunterhalt zu vereinbaren. Als sich Karrierechancen bieten, greift sie zu, erklärt (sich) immer wieder, wie wichtig ein gutes Einkommen ist, um Sohn Jonathan beste Ausbildungschancen zu eröffnen. Oksana, eine Biologie-Studentin und Freundin Lynns, passt immer wieder auf Jonathan auf, wenn die Kita schließt und Donata noch Termine hat. So lernen sich auch Lynn und Donata kennen.

Zwischen diesen vier Personen wechselt die Erzählung hin und her. Und wir lauschen den Figuren zum Teil bei ihren inneren Monologen. Dabei berlinern Otti und Stone ordentlich und bringen so Lokalkolorit in die Erzählung. So wirkt die Erzählung sehr authentisch und realistisch. Kommentierungen der Ereignisse und der Haltungen der Figuren gibt es nur dann, wenn der eine über die andere nachdenkt, wenn Donata mal wieder die Augen zu verdrehen scheint wegen einer Äußerung Ottis.

Der wirklichkeitsnahe, der manchmal dokumentarische Charakter der Erzählung wird zudem unterstützt durch die Interviews, die Lynn und Donata führen. Durch Auszüge aus Archivtexten, Preislisten, Bestandsaufnahmen der Anzahl der Plattenbauten in Berlin, durch Redemanuskripte, Blogbeiträge und Vorlesungsmitschriften. Durch die lebendigen Schilderungen des Gewusels auf den Straßen des Kiezes, dem Gewimmel in den Kneipen.

Während ihrer Recherchen lernt Lynn Daniel kennen, die beiden werden ein Paar, auch wenn Daniel immer mal wieder für ein paar Wochen verschwindet, wenn Lynn ihn oft nicht erreichen kann. Durch ihre Gespräche mit einem Architekten, der an Sanierungen beteiligt gewesen ist, bekommt sie auch eine Idee, wie sie an einen Praktikumsplatz gelangen kann. Und findet tatsächlich eine Stelle im Architekturbüro Schmieder. Dort lernt sie auch die Formen ausbeuterischen Arbeitens kennen, denn nicht nur das Praktikum ist unbezahlt, auch ihre Arbeit, die sie weiterhin leistet, als ihre Zeit als Praktikantin längst vorbei ist. Ihre Mutter, immerhin Anwältin – und dies ist vielleicht eine der weniger plausiblen Ereignisse im Roman – fordert Lynn geradezu dazu auf, die Stelle auch ohne Bezahlung fortzuführen, immerhin lerne sie, könne so bei Bewerbungen Praxiserfahrungen nachweisen. Lynn bleibt also, auch als Schmieder selbst als Investor auftritt, Altbauten abreißt und Luxusapartments baut und somit gegen alles verstößt, was Lynn in ihrer Diplomarbeit, in ihren Zeitungsartikeln und Blogbeiträgen anprangert. Erst als Schmieder zwei Kommilitonen mit Werkverträgen einstellt, rebelliert sie.

„Sanierungsgebiete“ ist ein großartiger (Großstadt-)Roman, der nicht nur die dubiosen Praktiken der Immobilienhaie aufzeigt, sondern auch vom ganz normalen Chaos, von den ganz normalen Fährnissen des Lebens erzählt. Ein Roman, der sich – endlich einmal – um ein ganz wichtiges gesellschaftspolitisches Thema dreht, der das Weggucken von Poltitik und Verwaltung aufzeigt, als Voraussetzung für das ungehemmte Durchsetzen ökonomischer Interessen. Der nebenbei auch noch von den Arbeitsverhältnissen der Generation Praktikum erzählt. Und der dabei immer wieder aufzeigt, wie korrumpierbar der einzelne ist, wie opportunistisch selbst jene sind, die sonst doch immer so viel Wert auf bestimmte Werte legen.

Enno Stahl (2019): Sanierungsgebiete, Berlin, Verbrecher Verlag

2 Kommentare

  1. Hallo Claudia,
    das ist eine sehr überzeugende rezension. Das Thema, dass ja auch in anderen Romanen theatisiert wird betrifft mich zwar nicht selbst, empfinde ich aber als sehr spannend, weil sich darin viele Veränderungen in unserer Gesellschaft widerspiegeln.
    Auch die Schwierigkeit des Berufseinstiegs ist mir aus der Bekanntschaft heraus transparent.
    Von daher ein sehr aktueller Roman, für den du viel Interesse bei mir geweckt hast.
    Viele Grüße
    Silvia

    • Aber ein „dicker Schmöker“ – sei zur freundlichen Warnung hinzugefügt. Und demnächst gibts wieder einen Erzählband von Anke Stelling. Vielleicht auch mit Bezug zur Gentrifizierung.
      Viele Grüße, Claudia

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