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Niklas Maak: Technophoria

Die zumeist positiv geführte Diskussion um die fortschreitende Digitalisierung, gerade noch befeuert durch ihre Lösungsansätze während der Corona-Pandemie, erinnert auch an die Technikbegeisterung vergangener Perioden. Die Lösung fast all unserer Probleme scheint durch die Digitalisierung möglich; Smarte Cities beispielsweise sollen durch eine komplette Vernetzung nicht weniger als die Umwelt- und Klimaprobleme lösen und die Sicherheit der Bürger gewährleisten, das smarte Home das Leben für seine Bewohner bei optimaler Ressourcennutzung bequem gestalten und Gadgets zur Messung verschiedener Körperwerte dazu beitragen, fit und gesund zu bleiben.

Niklas Maak lässt in seinem Roman nun nicht die Titanic untergehen, um in den Abgesang auf die Idee der omnipotenten Segnungen der digitalen Technik einzustimmen. Aber er zeigt uns doch die eine oder andere Tücke der Vernetzung auf – mit für einige seiner Figuren desaströsen Ausgängen. Doch diese Probleme bleiben auf der individuellen Ebene, während das technologische Großprojekt, dessen Entwicklung und Entstehung den roten Faden des Romans bildet, umgesetzt wird, wie die Leser schon zu Beginn des Romans erfahren.

Mit Blick auf die vernetzte Stadt, um die es immer wieder geht, siedelt Maak seinen Roman aber nur vermeintlich auf der Grenze zwischen Jetztzeit und einer Science-Fiction-Welt an. Denn Unternehmen bauen auch heute schon smarte Cities – mit Technologien, die zum großen Teil bereits existent sind und genutzt werden, so Google/Alphabet in Toronto, Toyota in Tokio und Siemens will ein solches Viertel in Berlin bauen (Quelle)

Driessen ist in Maaks Roman einer dieser innovativen Stadtentwickler, der ins sandige Berliner Umland ein digitales Testhaus gebaut hat. Die Verhandlungen mit der Stadt Berlin gestalten sich positiv, er bekommt den Zuschlag für den Bau eines smarten Stadtviertels. Das neue Viertel mit Wohnungen, die die Daten ihrer Bewohner sammeln, um sich deren Lebensgewohnheiten anzupassen, mit selbstfahrerenden Elektro-Autos, mit Straßenlaternen, die nur angehen, wenn auch ein Passant daher kommt und mit Kameras überall. Praktisch für Touristen, die am Ende ihrer Stadtbesichtigung ein kleines Album erwerben können mit Bildern, die von ihnen in der Stadt gemacht wurden.

Tatsächlich sind die Wohnungen im neuen Vierteil ein Verkaufsschlager, es gibt fünfmal mehr Bewerber als Wohnungen. Und das Viertel hält, was es verspricht: es wird 60 % Strom eingespart, die Umsätze der Läden steigen um 28 %, weil den Passanten beim Vorbeigehen die Angebote per SMS zugestellt werden, die Luftqualität ist bemerkenswert gut, die Zahl der Diebstähle auf Null gesunken und der Mann, der einen vierjährigen Jungen angesprochen hat, ist durch die Gesichtserkennung identifiziert und von der Polizei befragt worden.

Driessen denkt aber noch viel größer. In Ägypten nämlich wird  eine Idee aufgegriffen, die schon in den 1960er und 1970er Jahren entwickelt, dann jedoch verworfen wurde: die unter dem Meeresspiegel liegende Quattara Depression, eine Senke der Wüste zwischen Ägypten und Libyen, soll mit Wasser aus dem Mittelmeer geflutet werden. Der neu entstehende See mit einer Größe von 80 mal 120 Kilometern werde, so die Erwartung der Befürworter, die Temperatur in der Region abkühlen und für Regen sorgen. Dabei könne nicht nur der Klimaerwärmung vorgebeugt werden, die gerade diese Region unbewohnbar machen und weitere Flüchtlingsströme nach Europa hervorbringen würde. Es könne auch die Meeresspiegelerhöhung insgesamt eingedämmt und somit Überschwemmungen von New York über Mumbai bis Amsterdam und London verhindert werden.

Im Oktober 2019 spricht also eine Delegation der Ägypter bei Elon Musk vor und erklärt das Projekt. Ein paar Wochen später sind weitreichende Verträge unterzeichnet: ein französisch-britisches Konsortium wird den Tunnel bauen, um das Wasser in die Senke zu leiten – und Driessens Unternehmen die Städte am großen Quattara-See. Alles smarte Cities mit „automatisierten Häfen, intelligenten Wohnungen und selbstfahrerenden Autos“.

Sara ist Driessens Mitarbeiterin, die das Quattara-Projekt als Leiterin begleitet. Eine Frau in den 30ern, die souverän mit den Ägyptern verhandelt und den Beduinen, die in der Quattara-Senke leben, die Chinesen mit ins Projekt holt und sie wieder hinaus katapultiert, die sich in den Hotels und Tierparks in Afrika so selbstverständlich bewegt wie bei Hippie-Aussteigern in der Wüste der USA und bei ihrem Yoga-Urlaub in Goa.

Und dann ist da noch Turek, der (Anti-)Held des Romans, der für Driessen die PR macht. Er ist ähnlich unbehaust wie Sara, lebt manchmal in dem Testhaus, reist dorthin, wo er für Driessen Lobbyarbeit betreiben soll, hat später auch eine Wohnung in der neuen smarten Stadt. Eigentlich hat er Architektur studiert und Kunst, hat einige Monate im Auto gewohnt, bis er zu Evangelina gezogen ist. Als die ihn verlassen hat, ist er ein paar Monate später nach New York gegangen und hat bei Doctoreff gearbeitet. Doctoreff und sein Buddy Michael Bloomberg

„hatten die Chance ergriffen, sich als Politiker zu verkleiden und die alte Stadt im Namen von Ökologie und Sicherheit komplett auszuschlachten, so wie man von einem alten Haus nur die Fassaden stehen ließ und alles herausriss, was daran nicht smart war, und das war fast alles – Verkehr, Dämmungen, Versicherungen, die ganze Art, wie Politik gemacht wurde…. (…) Sie hatten aus New York ein Unternehmen gemacht, sie hatten die Stadt so umgebaut, dass sie noch mehr Geld abwerfen, noch mehr Touristen anziehen konnte.“

Jetzt ist Doctoreff bei einer Tochterfirma von Google, die in Torontos Hafengelände eine smarte City baut. Und Turek für das gute Bild Driessens in der Öffentlichkeit zuständig. Als die Öffentlichkeit erfährt – ausgerechnet in der Bauphase des Berliner-Viertels -, dass Driesssens Unternehmen in Afrika auf wenig nachhaltige, auf ausbeuterische und den Bürgerkrieg unterstützende Weise Coltan fördert, ein notwendiges Erz für die Elektrokondensatoren in allen digitalen Geräten, bespielt Turek alle Saiten des Instrumentes Greenwashing. Wenn die Roboter in der smarten City ein menschenfreundlicheres Aussehen bekommen sollen, damit sie von Bewohnern und Touristen positiver wahrgenommen werden, dann reist Turek nach Japan und schaut sich dort die verschiedenen Versionen von menschlich wirkenden Androiden an. Und so sehr Driessen ihn auch lobt und befördert – beim ersten (PR-)Gau, als nämlich doch ein Auto im Berliner Vorzeigeviertel einen Menschen überfährt, als die Stadt sofort alle weiteren Gelder einfriert, da bekommt Turek postwendend die Kündigung.

Im Laufe der Handlung werden einige Probleme der digitalen Entwicklungen ausgelotet und bringen die eine oder andere Person in Bedrängnis. Turek, der gleich mehrmals vor den Eigenwilligkeiten eines smarten Hauses kapitulieren muss, den eine nicht berücksichtigte Müdigkeitsmeldung seines Autos zum Mitschuldigen an einem Unfall macht. Driessen, dessen Seitensprung durch die ungewollten Aufnahmen seines Sprachassistenten an die Öffentlichkeit gelangt. Andere problematische Aspekte – die Fragen um die Gesichtserkennung an allen Orten beispielsweise, um das permanente Saugen und Verarbeiten von Daten, sogar im eigenen Zuhause, dem Ort, der doch eigentlich Schutz bieten sollte – werden zumindestens diskutiert. Und wenn Turek nach Japan reist, um dort den Forschungsstand zu humanoiden Robotern zu begutachten, wenn er beschreibt, wie er einem sehr menschlich wirkenden Gegenüber begegnet, dass manchmal gar nicht mehr erkennbar ist, wer Mensch, wer Androide ist, dann haben diese Begegnungen auch eine Wirkung auf die Leserin, die plötzlich jeder Figur der Erzählung misstraut.

Doch auch dieser Roman zeigt auf, wie schwer es ist, über die unmittelbare Gegenwart und nahe Zukunft zu erzählen: Die Darstellung der Handlungsumgebung, das Erzählen vom Leben in dieser Welt brauchen wohl so viel Energie, dass die Handlung und die Figuren zu kurz kommen. So sind auch Maaks Protagonisten blass, oft nur holzschnittartig gezeichnet, eine charakterliche Tiefe ist kaum zu erkennen. Vielleicht sind die zum Teil zusammenhanglosen Beobachtungen Tureks symptomatisch für sein Erleben, vielleicht zeigt das seine Haltlosigkeit in der Welt, für alle Figuren, die hier auftreten, reicht die Erklärung nicht. Dass Tureks Freundin Aura ausgerechnet über das Verhalten von Gorillas forscht und so die Motive Technik versus Natur in diesem Paar vereint sind, gehört zur oft klischeehaften Gestaltung der Erzählung.

Auch die deutlich konfrontativen Schnitte – die smarte Städteentwicklung auf der einen Seite, die Aussteigercommunities in Frankreich und in den USA auf der anderen Seite – sind sehr plakativ. Einen dritten Weg zwischen Technik-Euphorie und Technik-Phobie, der die Vorteile der Digitalisierung nutzt, die Probleme aber mit in den Blick nimmt und hier Lösungen unter Wahrung der Werte einer demokratischen Gesellschaft erarbeitet, zeigt der Roman leider nicht auf. Dabei berichtet Niklas Maak in einem Interview über solche – europäischen – Ansätze. Es ist schade, dass der Roman nicht auch diese Option mit in den Blick nimmt, denn in Punkto Aktualität ist Maaks Roman ja richtungsweisend.

Niklas Maak (2020): Technophoria, München, Carl Hanser Verlag

3 Kommentare

  1. Deine sehr gute Rezension habe ich mit besonderem Interesse gelesen, weil ich gerade bei der Lektüre von Huxleys „Schöne Neue Welt“ teils ähnliche Probleme hatte. Auch da ist der Entwurf eines dystopischen Szenarios weitaus stärker ausgearbeitet als Handlung und Charaktere, auch da fehlt mir die Alternative zwischen blinder Technikgläubigkeit und strikter Ablehnung des Fortschritts. Ich werde einige Deiner treffenden Sätze für meine Rezension klauen können 🙂

    • Vielen Dank für deine lobenden Worte! Dass du auf die älteren Dystopien hinweist und für die „Schöne neue Welt“ ähnliche Kritik anmeldest, wie ich es für „Technophoria“ getan habe, ist interessant. Ist es vielleicht so, dass die Romanhandlung, wenn denn der dritte Weg, der ja einer der Vernunft und des Abwägens ist, auch eine Rolle spielte, nicht mehr funktionieren würde? Weil der Konflikt dann nicht mehr so groß ist? Weil der Plot dann nicht mehr stimmig wäre? In „Technophoria“ würde man dann über die scheiternden Figuren nur noch den Kopf schütteln. Ich kann mich nicht mehr so richtig an die Handlung der „schönen neuen Welt“ erinnern (werde ich gerne bei dir nachlesen :-)), aber vielleicht könnte bei dem mittleren Weg auch dort die Wirkung nicht mehr erzielt werden.
      Ich bin gespannt auf deine Besprechung – gerne mit geklauten Sätzen.
      Viele Grüße, Claudia

      • Ja, das stimmt natürlich. Den goldenen Mittelweg wünscht man sich in der Lebenswirklichkeit, in einem Roman ist er einem funktionierenden Plot vermutlich nicht unbedingt förderlich. Vielleicht ist der dystopische Roman auch einfach nicht „mein“ Genre, in dem ich das finde, was ich in der Literatur suche…
        Viele Grüße,
        Andreas

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