Anthologie, Lesen

Warum Lesen. Mindestens 24 Gründe, hrsg. von Katharina Raabe und Frank Wegner

Menschen, die sich für Bücher interessieren oder gar etwas mit Büchern zu tun haben, braucht man wohl kaum zu fragen über ihre Gründe des Lesens. Da wundern sich dann eher die Zuhörerinnen ohne besondere Bindung ans Buch, was für eine Argumentationslawine Leserinnen lostreten, wenn sie zu ihrer Passion befragt werden. Und dabei haben doch die Nicht-Leser oft das Gefühl, die Leser entziehen sich mit dem Buch auf den Knien und der Lesebrille auf der Nase schlicht der Realität und den konkreten Aufgaben, die das Leben im allgemeinen und der Alltag im Besonderen an sie stellt.

So ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch die vierundzwanzig Autoren des Suhrkamp-Verlages, darum gebeten, Gründe ihres Lesens offen zu legen, wortgewaltig erklären können, was es mit ihrer Leidenschaft auf sich hat. Da kommen, wenn man genau zählt, viel mehr als vierundzwanzig Gründe zusammen. Denn so unterschiedlich die Autoren sind, die einen schreiben Geschichten, die anderen forschen über das Zusammenleben der Menschen oder über das Gehirn, der eine übersetzt, der andere macht Musik und schreibt Gedichte und der nächste zeichnet Comics, so unterschiedlich, so unterhaltsam, so fesselnd und interessant, so vnachdenkenswert ist ihre Herangehensweise an das „Warum lesen“.

Clemens J. Setz greift gleich zu Beginn des Bandes das Motiv des Lesenden als weltentrückten Sonderling auf. In einer Episode der Fernsehserie Twilight Zone ist es der Bankangestellte Henry Bemis, der seine Nase so gerne Stunde um Stunde in ein Buch steckt und sich damit den Unmut von Frau und Kollegen einhandelt. Dass die Filmaustatter ihm auch noch eine Brille mit richtig dicken Gläsern (Link) verpasst haben, rundet sein kauziges Bild ab. In der Bank schließt Bemis sich dann in der Mittagspause im Tresorraum ein, um endlich in Ruhe lesen zu können. Dort ist er aber so abgeschieden von der Welt, dass er als einziger eine Bombendetonation überlebt, die die gesamte Menschheit vernichtet. Voller Verzweiflung über seine Einsamkeit beschließt Bemis, sich zu erschießen, findet aber genau in diesem Moment die aus der Bibliothek herausgeflatterten Bücher und beschließt, seine Zeit – nun hat er ja genug davon – mit dem Lesen all der Bücher zu verbringen, die er schon immer lesen wollte: Dickens, Shelley, Keats!

„Auf den Stufen der Bibliothek liegt ein Buch im Staub. Der Zuschauer kann nicht erkennen, welches es ist, denn nichts steht auf dem Umschlag. Henry bückt sich nach dem Buch. Und da, ach, fällt ihm natürlich seine Brille vom Gesicht und die Gläser zerbrechen. Er kann nichts mehr erkennen, nichts mehr lesen. Er ist verloren.“

Aber, überlegt Setz, ist Brevis nicht doch eher gerettet durch den Verlust der Brille? Weil er sich – mit Brille – durch die Weltromane lesend, jetzt als letzter und einziger Mensch auf der Welt in jeder Figur, in jeder Handlung und jedem Charakterzug wiedererkannt hätte. Zum Lesen, so Setz, gehören also die Anderen immer mit dazu. Sie besänftigen, so schreibt er, die Fiktionen, die ohne dieses Regulativ zu nächtig werden. Und er empfiehlt dringend:
„Drum wirf, liebe Leserin, solltest du je in eine ähnliche verlockende Falle geraten, die Brille besser fort. Es gibt noch anderes zu tun, jenseits der Menschen.

Alejandro Zambra erzählt die Geschichte vom lesender Vater aus Mexiko, der ein viel konkreteres Leseproblem hat, nämlich ein Übersetzungsproblem. Sein Sohn, mit zwanzig Monaten im schönsten Vorlesealter, will unbedingt die Geschichte vom Maulwurf (ja, wir ahnen es schon, es ist der, dem auf den Kopf gemacht wurde!) hören. Das Buch aber hat die Mutter gekauft, leider auf Französisch. Und diese Sprache beherrscht der Vater kaum. Nun, der Sohn gibt keine Ruhe, der Vater lässt sich ein, denn er möchte diese kostbare Vater-Sohn-Zeit, die längst ein Ritual der beiden geworden ist, nicht aufs Spiel setzen. So liest der Vater vor, stattet jedes Tier mit einer eigenen Stimme aus und übersetzt dabei „so gut er kann“. Das Kind aber, das die Geschichte ja schon kennt, bemerkt jeden Unterschied der Vater-Geschichte im Vergleich zur Mutter-Geschichte

„und mit unverhoffter Liebenswürdigkeit, als verstünde es die Lage und wollte die Gefühle des Vaters nicht verletzten, korrigiert das Kind, feilt an der Übersetzung, und beim Wiederlesen, schon beim ersten Wiederlesen, baut der Vater die neuen Nuancen ein, die ihm sein zwanzig Monate alter Sohn offenbart hat, so dass die Geschichte jetzt glatter fließt und er den Vortrag verbessern kann.“

Später resümiert der Vater, dass die Geschichte vom Maulwurf das erste Buch gewesen sei, dass er komplett auf Französisch gelesen habe. Dass ihm dabei sein Sohn bei der Lektüre geholfen habe, nimmt ihn zusätzlich für das Buch ein. Aber er fragt dann doch die Mutter, warum sie ausgerechnet den Maulwurf auf französisch gekauft habe. Ach, entgegnete sie, er sei auf Spanisch nicht da gewesen undachten, denn sie kenne ihn ohnehin auswendig, ihre Mutter habe ihr das Buch ja auch schon vorgelesen. Was mit dieser spanischen Version passiert sei, fragt er. Ihre Mutter habe die Kinderbücher irgendwann einmal verschenkt. Nein, denkt der Vater, nie werde er die Bücher seines Sohnes verschenken. Und er beschließt auf der Stelle, nun nur noch Kinderbücher zu schreiben.

Von der Magie der Geschichten in der Kindheit erzählt auch Katja Petrwoskaja. Bei ihr ist es „Der blaue Vogel“ von Maurice Maeterlinck, ausgestattet mit zarten Aquarellen. Und es ist diverses Buch, dass ihr immer wieder bestätigt, was Kinder sowieso wissen: „dass alle Gegenstände eine Seele haben – aber nur nachts.“ Petrowskaja denkt in ihrem Beitrag über ihre Entwicklung als Leserin nach, über ihr Lesen während einer rätselhaften Krankheit, die sie ins Krankenhaus brachte. Über die Geschichten aus „Tausendundeine Nacht“, die sie während dieser Zeit las. Über die Märchen überhaupt, die sie als Kind so interessierten und die ihr Vater aus allen Ecken der Welt gesammelt hatte. Wie sich ihr Lesen und ihr Zugang zur Literatur durch ihr Literaturwissenschaftsstudium veränderte. Und in welche reale Gefahr sich ihr Vater mit seiner Bibliothek und den dort gesammelten Büchern begeben hatte, mit den Büchern, die doch aus dem sozialistischen Alltag heraus Fluchten in die Freiheit ermöglichten. Es ist ein Büchlein mit Gedichten Pasternaks, die der Vater ausgewählt, mit der Schreibmaschine abgeschrieben und selbst geheftet hat, das zum Verhängnis wird. In Russland nämlich gab es zeitlich parallel zum Erscheinen des Doktor Schiwago und des Literaturnobelpreises 1957 eine Kampagne gegen den Autor. Irgendjemand musste Petrowskajas Vater wegen seines im Selbstverlag erstellten Pasternak-Buches denunziert haben. Und so fand er in kommenden 30 Jahren in seiner Heimat Kiew keinen Job mehr.

Neben den Geschichten über das Vorlesen, das Lesen als Flucht vor dem grauen Alltag in Ost und West oder gerade auch über das Lesen als Weltverweigerung, über die Verwunderung von Annie Ernaux darüber, dass das Lesen für sie eine große Bedeutung hat, während es andere Menschen so völlig kalt lässt, über Maria Stepnovas Beschreibung der Verwandlung der Leserin in die Figuren, über die sie liest, bis hin zu Nicolas Mahlers Comic über die unerwartete Wandlung des Ansehens eines Comiczeichners – die vierundzwanzig Gründe des Lesens halten eine Menge an Argumenten, an Lob, an Geschichten vom Lesen und an Liebesbeweisen bereit. Und nicht zuletzt sind es auch die Soziologen, die – aus einer wissenschaftlichen – Perspektive heraus die Bedeutung des Lesens vom Bauch auf den Kopf stellen.

Reckwitz und Illouz, wenn sie über die Arten des Lesens nachdenken, und Nachtwey, wenn er am Beispiel der Lektorin in Ingo Schulze Roman „Die rechtschaffenen Mörder“ erklärt, dass „Lesen in der regressiven Moderne“ nicht automatisch zur Aufklärung führe und in die Verlage „Matthes & Seitz, diaphanes und Suhrkamp“, sondern die Leser durchaus auch in die Verlagshäuser der neuen Rechten bringen könne.

Hartmut Rosa greift – fast – noch einmal das Motiv des kauzigen Lesers Henry Bemis auf, wenn er in seinem Beitrag über die „Wunder der narrativen Resonnanz“ darlegt, welche bunte Welt Bemis beim Lesen in seinem Inneren erschafft. Rosa erklärt, was Spiegelneuronen in unserem Gehirn anstellen, wenn wir zusammen mit den Figuren der Geschichten lachen und weinen, uns eine Wut ergreift oder eine große Trauer, obwohl wir doch wissen, dass das alles Fiktion ist. Dabei sei Lesen eine nachhaltige Erfahrung, weil das Lesen von uns ja erfordert, dass wir – einem Regisseur gleich – die Schauplätze erschaffen und die handelnden Personen zum Leben erwecken müssen, weil wir gar „Farbe, Gerüche, Wärme, Weite“ imaginieren müssen. Dabei bleibe es nicht bei einer passiven Rezeption, sondern es komme, so Rosa, immer wieder zu einem Dialog, zu einer Beschäftigung mit der Geschichte, der Handlung, dem Protagonisten.

„Da spricht etwas zu mir, das mir neu ist, das anders ist als ich, und ich vermag, es zu hören, darauf zu antworten, damit etwas anzufangen. (…) So entsteht das Neue, im eigenen Leben und in der Welt. So entsteht Lebendigkeit. So können wir durch Literatur mit dem Anderen in uns selbst, in der Geschichte, in der Kunst, vielleicht sogar in der Natur in Resonanz treten. So entwickeln wir tragfähige Beziehungen zur Welt: angstfrei, neugierig, selbstwirksam, lebendig. So lautet meine Eloge auf das Lesen.“

Natürlich, Rosa lässt seine Eloge so nicht stehen. Aber wer seine Gegenrede dazu kennen lernen möchte, der möge: Lesen. Und vielleicht auch noch die vielen anderen Gründe, von denen hier ja gar nicht die Rede sein konnte.

Katharina Raabe, Frank Wegner (Hg.) (2020): Warum Lesen. Mindestens 24 Gründe, Berlin, Suhrkamp Verlag

1 Kommentar

  1. Danke, liebe Birgit,
    für die Buchvorstellung mit den eindrucksvollen Beiträgen und Deiner Lesung.
    Hatte heute Kinderstunde in der Gemeinschaftsunterkunft mit Spielen und Übungen im Lesen und Schreiben.
    Möge der Schulanfang coronafrei bleiben – und die Schule alle Kinder lesend bilden.
    Herzlich Bernd

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