Arthur Galleij ist auf seinem Weg in das Leben als Erwachsener ein einziges Mal falsch abgebogen. Und für sechsundzwanzig Monate im Gefängnis gelandet. Nun ist er entlassen und kann ein Jahr lang in der Wohngemeinschaft von „weitermachen e.V.“ leben, mit Therapiesitzungen bei Konstantin Vogl, genannt Börd, täglichen Gesprächsrunden mit den anderen Jungs auf ihrem Resozalisierungsweg und ständigen Bewerbungen um Praktika oder Ausbildungsstellen. Aber mit diesem Makel im Lebenslauf ist es gar nicht so einfach, in ein Leben zurückzukehren, das auf mehreren Märkten stattfindet: dem Arbeitsmarkt und Wohnungsmarkt, dem Partnermarkt. Mal davon abgesehen, dass Arthur sich ja auch ganz allgemein im Leben nicht so richtig zu Hause fühlt.
Birgit Birnbacher erzählt in ihrem Roman den Weg Arthurs während dieses Resozialisierungsjahres nach seiner Entlassung. Dass am Gefängnistor nicht seine Eltern stehen, sondern die schwer kranke Grazetta, das erklärt schon einige seiner Probleme. Und die zeigen sich im Laufe dieses Jahres in vollem Ausmaß. Dann, wenn sich Arthur zurückerinnert an sein Leben in Hallein in der Eisenbahnersiedlung oder im Hospiz in Spanien. Und wenn er für seine Therapie das so genannte Schwarzsprechen durchführt. Das ist eine der besonderen Therapieansätze Börds, nämlich das Sprechen ohne Gegenüber, das Arthur selbst auf Band aufnimmt und das im Institut dann aufgeschrieben wird und das Börd – vielleicht – liest. So entfaltet sich Stück für Stück und fast chronologisch in Erinnerungen und über die Gesprächsnotate Arthurs Leben.
Arthur ist jedenfalls nicht in die beste Umgebung hineingeboren. Bei seiner Geburt hatte sein Vater schon die Geliebte Jean und die Mutter Marianne muss ihr Glücksgefühl über das Baby „produzieren“, weil sie „von Natur aus“ darüber nicht verfügt. Dass es die Kinder, da ist auch noch der ältere Bruder Klaus, überhaupt gibt, ist auch vielmehr „Unfällen“ zu verdanken, einer Nacht mit viel Alkohol einmal, einer Vergewaltigung beim zweiten Mal. Geplant sind Klaus und Arthur jedenfalls nicht. Und dann gibt es auch noch Streit wegen seines Namens, denn die Mutter möchte ihn Mario nennen. Das aber findet der Vater Ramon Galleij unmöglich, immerhin müsse ein Junge einen richtigen Jungen-Namen haben, nicht so heißen wie die Mutter. Also schreibt er einfach „Arthur“ auf das Geburtsblatt und Marianne nennt ihn noch lange heimlich Mario.
Das ist kein richtig guter Einstieg ins Leben für Arthur. Von dem aber erzählt wird, er sei ein glückliches Kind gewesen, er habe schon bei der Geburt gewusst, was man von ihm erwartet.
„Die Leute sagen oft: Arthur ist ein Kind, das man gar nicht spürt. Marianne lernt, das als Kompliment zu betrachten, und Arthur lernt es auch. Er braucht nicht viel, man spürt ihn nicht, und mit der Zeit trifft es sich ganz gut, denn Marianne hat meistens mehrere Jobs.“
Marianne und Ramon sind mit Selbstständigkeiten zweimal gescheitert. Erst einmal beim Verwalten eines Campingplatzes – Ramon ist doch kein Hausmeister, er war ja bei der Armee! – und dann mit einer Pizzeria. Also landet Marianne mit den beiden Söhnen Klaus und Arthur in der Eisenbahnersiedlung, in sechsstöckigen Häusern in Vierkantanordnung mit „Abstandsgrün, Eisenstangen ohne Wäsche, quadratischer Waschbeton, vier mal vier Meter, theoretisch für Tisch und Bänke. Aber das ist immer nur eine Möglichkeit geblieben.“
Arthur ist sieben, als Marianne den Kindern Georg vorstellt. Und mit Georg, der die Nase rümpft über die „Türken“, die mehr und mehr in die Eisenbahnersiedlung ziehen und eigentlich aus Tirana kommen, aus Skopje und Mostar, entwickelt sie den Plan, in Spanien ein Hospiz, oder besser: „ein Zentrum für Palliativpflege im Luxussegment“ aufzubauen. So zieht die Familie 1997 nach La Puerta, in eine sandige Steppe ans Meer, in deren Umgebung Siedlungen mit unbewohnten Häusern entstanden sind, Zeichen der spanischen Immobilienblase. Im Juli schon kommen die Pflegerinnen und Pfleger, die Ärztin, die Krankenschwestern, die Reinigungskräfte und die ersten Patienten, Gäste nennt sie Marianne, ziehen ein. Noch nie hat Arthur so ein schönes Zuhause gehabt wie hier, in einem neugebauten Anwesen, das wirkt wie ein Hotel, alles sauber, geputzt bis in die letzte Ecke. Marianne hat es geschafft, mit einer unerwarteten Selbstverständlichkeit füllt sie die Rolle der Geschäftsführerin aus. Gleich mehrere soziale Schichten ist sie nun aufgestiegen.
Um die Kinder aber kann sie sich nun trotzdem nicht kümmern, wenn sie ständig unterwegs auf dem Gelände ist. Und Arthur lernt das Sterben kennen mit den Gästen, die hier herkommen und oft gar nicht lange bleiben. Da ist aber niemand, der mit dem Neunjährigen über das spricht, was hier passiert, der ihn in der neuen Situation unterstützt, ihm hilft, seine Fremdheit in dem Land, dessen Sprache er nicht kennt, zu überwinden. Immerhin lernt er später in der Schule Princeton und Milla kennen, seine besten Freunde. Mit Princeton steigt er in die leeren Häuser ein, ihm schaut er zu, wie er sich im Darknet bewegt, zusammen mit Milla verbringen sie die Abende am Strand, planen ein Studium in Barcelona, Biologie, weil Milla das so möchte. Und als Milla ertrinkt, genau zu dem Zeitpunkt, als Princeton Arthur unter Wasser zieht, als möchte er ihn töten, da bricht für Arthur alles zusammen. Ob das wirklich ein Badeunfall gewesen sein, fragt er sich. Schuldig fühlt er sich, weil er nicht geholfen hat. Und trösten kann ihn keiner – Marianne und Georg schon gar nicht.
Es ist wie ein Experiment, in das Birgit Birnbacher ihren unscheinbaren, genügsamen, nirgendwo auffallenden und alle an ihn gerichteten Erwartungen erfüllenden Helden schickt. So, als wolle sie ausprobieren, was noch alles passieren muss, bis er sich endlich wehrt. Und wolle sich genau anschauen, wie er das dann macht. Arthur jedenfalls verlässt Spanien nach Millas Beerdigung und reist nach Wien. Er findet Unterschlupf in der Wohnung des Sohnes einer Freundin seiner Mutter. Obwohl er höchst sparsam ist, wird ihm doch das Geld knapp. Die Mutter will er nicht fragen – und sein Konto hat ein Hacker leergeräumt. Das ist der Zeitpunkt, an dem er den falschen Abzweig nimmt: Er nutzt die Kenntnisse, die er bei Princeton abgeschaut hat, und verschafft sich nun seinerseits Zugang zu den Identitäten und Konten anderer. Bis er nach ein paar Wochen festgenommen wird und eben für 26 Monate in Haft kommt.
Es sind immer wieder starke Szenen, die Birnbacher erzählt. Wenn Arthur nur alleine beim Begriff „Mehrfachbelegung“ Angstattacken erleidet und Flashbacks ihn schmerzvoll erinnern an die Machtspiele, die seine Zellenkollegen mit ihm gespielt haben. Wenn er eine zugemüllte Wohnung besichtigt mit einer Wuchermiete, die kein normaler Mensch mieten würde, nur eben einer, in dessen Lebenslauf „Strafvollzug“ steht. Wenn wir Leserinnen von den merkwürdigen Sitzungen mit Börd und seinen therapeutischen Ansätzen erfahren. Einmal fährt Arthur weit mit der Straßenbahn aus der Stadt heraus zu einer Sportanlage, um mit Börd das Purzelbaumschlagen zu üben. Oder in Börd erklärt ihm seine Methode vom Erfinden eines idealen Ichs, an dessen Verhalten man sich in kritischen Momenten möglichst erinnern und es dann, wie eine Rolle, spielen soll. Das alles sind Szenen, die so anschaulich und intensiv oder mit so einem feinen ironischen Blick für das Absurde und Groteske erzählt sind, dass sie lange in Erinnerung bleiben.
Ob dann aber, nachdem der immer ruhige und besonnene Arthur sich schon mit einer ordentlichen Liste gekaperter Konten ins Gefängnis gebracht hat, auch noch die Geschichte mit Lennox, seinem Zimmernachbarn im Resozialisierungsprojekt, nötig ist, um Arthur auch noch die letzte Chance auf eine Praktikumsstelle zu verstellen, ist fraglich. Seine Geschichte hätte auch ohne dieses weitere Spannungsmoment auf die Leser gewirkt. Und hätte auch über die individuelle Geschichte Arthurs hinaus den Blick für die Probleme junger Menschen geöffnet, die weniger durch eigenes Zutun als mehr durch die Fährnisse ihres Lebens, um nicht zu sagen: durch das Versagen der Eltern, auf die schiefe Bahn geraten und da kaum noch wieder wegkommen.
Immerhin: Für Arthur tut sich doch noch eine Chance auf. Davon erzählt der Roman gleich im ersten Kapitel. Dass er nämlich aus St. Pölten nach Wien fährt und den Weg zur Uni nimmt, wahrscheinlich zu einer Vorlesung im Institut für Geowissenschaften, Geografie und Astronomie. Es scheint so, als sei Arthur doch angekommen, in seinem Leben, mit nichts als seinem klugen „Ich“ an seiner Seite.
Birgit Birnbacher: Ich an meiner Seite, Wien, Peter Zsolnay Verlag
Birgit Birnbachers Roman war nominiert für die Longlist des Deutschen Buchpreises.