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Tom McCarthy: Satin Island

Ein Anthropologe untersucht das Wesen der menschlichen Existenz, besonders gerne in Gegenden, die möglichst abgelegen, am besten gar abgeschnitten vom Rest der Welt, sind. Meistens reist er in diese Gebiete, lebt mit den Menschen dort wochen- und monatelang zusammen und kommt durch die Methodik der „teilnehmenden Beobachtung“ und unter Wahrung seiner eigenen Distanz zu den beobachteten Menschen zu seinen Erkenntnissen. Er untersucht alles an der Art der Menschen zu leben und bezieht dabei auch die unterschiedlichen kulturellen Kontexte mit ein, die verschiedenen wirtschaftlichen Bedingungen und die differenzierten religiösen oder weltanschaulichen Werte und Normen. So kann er herausfinden und erklären, warum uns die Menschen so „fremd“ sind.

Tom McCarthy macht in seinem Roman einen Anthropologen zum Protagonisten. Der aber soll nun nicht die ungewöhnlichen Riten von Menschen an unzugänglichen oder vergessenen Stellen der Welt durch Beobachtung, Systematisierung, Analyse und Interpretation untersuchen, sondern hat den Auftrag bekommen, den Großen Bericht zu schreiben über uns und unsere Art zu leben. Gleich im ersten Kapitel des Romans können wir lernen, wie ein Anthropologe unsere Welt sieht: wie sich reales und mediales Erleben überschneiden und wie in diese Wahrnehmungen auch eigene Erinnerungen und Assoziationen verwoben werden. Das alles beobachtet er – auch an sich selbst -, als er für Stunden auf dem Turiner Flughafen gestrandet ist. Und es ist eine fulminante Erzählung über die sinnlose und zusammenhanglose Informationsflut, die ewig auf uns einströmt und eine ganz wesentliche Facette unseres Erlebens ausmacht.

„Die Überlappung dieser verschiedenen Elemente und der dadurch entstehende Collageneffekt blieben konstant – doch änderte sich, da die Stunden voranschritten, die Gewichtung der Mixtur. Die Luxusartikel und ihre Etuis blieben natürlich so, wie sie waren – aber nach und nach verblassten die Fußballhöhepunkte und die Autobombenszene, die Clips von ihnen wurden kürzer und seltener; während im Gegenzug der Ölkatastrophe immer mehr Sendezeit eingeräumt wurde. Offensichtlich war es eine große Katastrophe.“

U., so stellt sich der Anthropologe dem Leser vor, arbeitet für eine Unternehmensberatung in London, im Roman immer „die Firma“ genannt. Peyman, der Chef, hat U.s Dissertation gelesen, eine Feldforschung über die Clubkultur im London der 1990er Jahre. U. hat drei Jahre dazu geforscht mit allem, was die Methodik der Feldforschung hergibt: Er hat als Barmann gearbeitet, hat arbeitsfreie Nächte in anderen Clubs verbracht, hat alle Drogen ausprobiert, die jeweils angesagt waren, hat daran mitgewirkt, illegale Raves vorzubereiten. Nach drei Jahren hat er sich zur Datenanalyse und Auswertung zurückgezogen, während der nächsten zwei Jahre seine Arbeit dokumentiert und hat dabei besonders über die „zeitgenössischen Methoden der Ethnografie und ihre diversen Dilemmata reflektiert.“ So ist Peyman auf ihn aufmerksam geworden, den Anthropologen, der sich mit der Jetztzeit auseinandersetzt, der in der Gegenwart, in der er selbst lebt, forscht, der immer wieder sich auch auseinandersetzt mit den Problemen der Anthropologie der Gegenwart, indem er immer wieder reflektiert über das Verhältnis von Feldforschung und Laborforschung.

U. also arbeitet nun in Diensten dieser Firma; so zeigt sich, wie die Ökonomie sich die Wissenschaft einverleibt, wie sie Methoden und Theorien für unternehmerische Zwecke nutzt, wie sie sich wissenschaftlichen Erkenntnisdrang zu eigen macht, indem sie wissenschaftliche Arbeitsweisen nutzt, um Produkte in einem ganz neuen Bedeutungskontext zu zeigen. Das Konzept des Narrativen, so nennt Peyman diese Vorgehensweise. Denn die Firma bietet ihren Kunden keineswegs finanzwirtschaftliche Beratungsleistungen an, sondern entwickelt erzählende Kontexte für die Produkte der Kunden. Solche Leistungen nehmen alle gerne an: Unternehmen, aber auch Städte, Regionen, natürlich auch Regierungen. Und so werden die Frühstücksflocken so aufgewertet, dass der Konsument sich durch ihren Genuss in einer neuen Welt wähnt oder einen ganz neuen Lebensstil erprobt. Die Bügelfalte in der Jeans bekommt eine ganz neue kulturelle Bedeutung und der Riss, der schon einmal bei Abnutzung entstehen kann, wird mit einer philosophischen Bedeutung aufgeladen, wenn er definiert wird als Geburtsmarke einer besonderen Individualität, als „Zeugnis des Bruchs des Individuums mit der allgemeinen Geschichte, erfolgreiche Etablierung einer persönlichen Zeit“.

Und während U. solche Dossiers für die Kunden schreibt, kleinere Fingerübungen fast, im Vergleich zu seiner Aufgabe, den Großen Bericht zu schreiben, bekommt die Firma auch noch den Zuschlag, am Koob-Sassen-Projekt mitzuarbeiten, einem Auftrag, über den U. sich zu schweigen verpflichtet hat, von dem er aber zumindest so viel verrät, als dass Regierungen und Verwaltungen daran mitwirken, dass es ein Projekt sei, dass uns alle angehe, ein Projekt, von dem wir alle betroffen seien…

Sein Alltag gestaltet sich recht eintönig: er trifft ein paar Mal in der Woche Madison, eine Frau, die er vor nicht langer Zeit kennen gelernt hat. Manchmal trifft er auch Petr, einen Freud, der an Krebs erkrankt und bei den Treffen immer wieder berichtet, welche abenteuerliche Therapie er nun gerade erfolglos ausprobiert habe. Petrs Tod, der Jahreswechsel, die Einsicht, dass er immer noch keine Form und keinen Inhalt für den Großen Bericht gefunden habe, das alles verursacht eine depressive Verstimmung bei U. Seine Geniephantasien, denen er sich so gerne hingegeben hat, als er über seine ganz eigene anthropologische Methodik nachgedacht hat, die Präsenzanthropologie, die er sich gleich mit einem Warenzeichen sichern will, ersetzt er durch Phantasien vom Widerstand gegen das System.

Eine spannungsreiche Handlung gibt es nicht in U.s Erzählungen, vielmehr den Bericht eines recht gleichförmigen Lebens, wie viele Menschen es ja führen, und viele Reflexionen. Die sind nicht immer leicht zu lesen, denn sie kreisen auch um die Fragen der wissenschaftlichen Methodik, vergleichen die Arbeitsweisen Lévi-Strauß mit Verfahren, unsere Welt heute zu erschließen, und diskutieren Vor- und Nachteile und Grenzen, sodass es einem schon schwindelig werden kann. Immer wieder auch vergleicht U. die Riten von indigenen Stämmen mit Verhaltensweisen, die uns heute eigen sind, und lässt uns dabei auch über die Frage staunen, wer denn hier der Fremde ist.

Dabei legt McCarthy so geschickt seine Erzählfäden aus, dass sich der Leser ganz schnell dabei ertappt, selbst mit wissenschaftlicher Neugier dem Erzählen U.s zu folgen, Motive zu identifizieren, Wiederholungen zu erkennen, Deutungen vorzunehmen, Bedeutungen zuzuweisen. Und schon ist er mittendrin in einem grandiosen Spiel, bei dem es um nicht mehr und nicht weniger geht als der Enträtselung unserer heutigen Zeit.

Wenn sich der Name des Protagonisten U. schon leicht als das You/Du enträtseln lassen kann, wenn das Logo der Firma, der verfallene Turm zu Babel, eine besondere Narration hat, wenn der Chef Peyman heißt, ein Hinweis auf seine multiethnische Herkunft, aber ohne viel Phantasie auch ein Hinweis auf seine Rolle in der Firma und in der weltweiten Ökonomie, dann beginnt der Leser mit wachem Blick nach weiteren Andeutungen Ausschau zu halten. Und wird schnell und überall fündig: die runden Ölflecken, die sich im Meer immer weiter ausbreiten und an den Rändern immer mehr ausfransen, haben eine ähnliche Form wie ein Fallschirm, der wiederum aus Seide ist und schon ist da U.s Traum von „Satin Island“ einer geheimnisvollen Insel. Die ihn in der Realität an Staten Island erinnert, die Halbinsel vor Manhattan, auf der gerade eine große Müllhalde in einen Park umgewandelt worden ist.

Und am Ende, wenn U. entschlusslos an der South Ferry in Manhattan steht und nicht nach Staten Island übersetzt, um den Park anzuschauen, hat der Leser doch den Eindruck, ihn gelesen zu haben, den „Großen Bericht“ über unser Hier und Heute, unser Jetzt. Dabei hat U. ihn ja gar nicht geschrieben, hat nur aus seinem Leben und von seinen Gedanken erzählt. Doch der Leser hat durch distanzierte Beobachtung am Leben U. s teilgenommen, hat analysiert und systematisiert und hat alle wichtigen Zeichen gedeutet. Dabei erscheint uns U als gar nicht einmal so fremd.

Tom McCarthy(2016): Satin Island, aus dem Englischen von Thomas Melle, München, Deutsche Verlags-Anstalt

3 Kommentare

  1. Schön, dass du über deine Leseerfahrung berichtest. Ich habe eine Leseprobe gelesen und kann mich nicht recht entscheiden, ob ich dem Buch eine Chance geben soll. Das Thema ist ja unglaublich spannend, aber es ist ja doch ein ziemlich komplexes …

    • Der Roman bereitet auch ein ganz bgesonderes Leseerlebnis, finde ich. Weil man eben selbst anfängt, die einzelnen Fäden zu entknäulen, Bedeutungen zu sehen, Zusammenhänge zu entdecken. Dafür hat man dann aber auch ein Buch vor sich, das nicht nach den üblichen Mechanismen des Romans gestrickt ist, also auch recht wenig Handlung hat, dafür mehr Reflexionen bietet. Vielleicht versuchst Du es ja doch einmal mit dem ganzen Text, so als Leseexperiment.

  2. Danke für diese Besprechung. Die „Präsenzanthropologie“ des Protagonisten und des Autors macht neugierig. Den Blick auf das Selbst zu richten, ist seit dem delphischen Orakel und der sokratischen Pägung aufgegeben: Erkenne dich selbst. Anthropologie legte den Blick auf den „fremden Wilden“ in kolonialen Umständen. Vielleicht hilft es nun, unsere Gegenwart zu verstehen. In diese Richtung ging kürzlich auch ein interkulturelles Training „Dem fremden Du und Ich begegnen“.

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