Lesen, Wirtschaft

Lese-Schwerpunkt I: Das ökonomische Denken – und wie es in alle Lebensbereiche eindringt

LS2_ÖkonomieMein besonderer Leseblick fällt, berufsbedingt wahrscheinlich, immer wieder auf die Bücher, die sich mit aktuellen wirtschaftlichen Entwicklungen und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft und den Einzelnen beschäftigen.

Vor fünfzehn Jahren schon hat Uwe Jean Heuser in seinem Buch „Das Unbehagen im Kapitalismus“ darüber geschrieben, wie sich das „Prinzip Markt“ stetig ausbreitet, vordringt in immer mehr Bereiche unserer Gesellschaft. Was sich zum einen gut und vernünftig anhört, dass wir nämlich in immer mehr Bereichen selbstständige und eigenverantwortliche Entscheidungen treffen können, immer unter der Prämisse, ein „gutes Ergebnis“ zu erzielen, kann auch zur Last, zur Überforderung werden. Wir können einfach nicht immer Unternehmer in eigener Sache sein, immer nach dem Kalkül entscheiden, die beste Lösung – wie auch immer die definiert ist – auszuwählen.

Schneller als gedacht haben sich tatsächlich diese Wettbewerbs- und Marktprinzipien in Bereichen eingenistet, die in „grauen Zeiten“ einmal explizit von Marktmechanismen ausgenommen wurden, nämlich genau in die Bereiche, die uns als gesellschaftliche Grundversorgungen so wichtig erscheinen, wenn wir ein gut funktionierendes Gemeinwohl aufrechterhalten wollen.

Schneller als gedacht gibt es Wettbewerbs- und Marktmechanismen an vielen Arbeitsplätzen, und seien sie noch so weit vom Kaufen und Verkaufen entfernt. Es gibt mehr oder weniger sinnvolle Zielvorgaben an Arbeitsplätzen, die die Mitarbeiter gerne auch schon einmal zu illegalem Verhalten zwingen – und damit ist jetzt nicht nur Korruption gemeint. Es gibt provisionsabhängige Gehaltsbestandteile, Jahres- und bzw. oder Mitarbeitergespräche.

Welche Folgen hat es für die Gesellschaft, für Kollegien, für Freunde und Bekannte, letztlich: für die Familie, wenn wir in einer solcherweise durchökonomisierten Welt leben, in ständiger Sorge um den Erhalt des Arbeitsplatzes, der Erfüllung der Ziele, aber auch der Erfüllung der Konsumwünsche, die in immer mehr Bereichen und weit über den des PKW hinaus zum Statussymbol zu werden scheinen?

Bücher, Romane so wie auch Sachbücher, die sich mit dieser Thematik auseinandersetzen, möchte ich in dieser Rubrik zusammenfassen, sodass sich – hoffentlich – ein sehr unterschiedliches, sehr vielschichtiges Bild ergibt. Einige Texte habe ich schon gelesen und hier besprochen, neue sollen dazu kommen.

10 Kommentare

  1. Keine Frage, spannendes und wichtiges Thema. Habe heute erst ein Radiofeature über die Schriftstellerin Gisela Elsner gehört (bei SWR online), die schon in den 1970er Jahren die Auswirkungen der Ökonomisierung auf die zwischenmenschlichen Beziehungen thematisiert hat. In der Gegenwart sind die Auswirkungen noch deutlicher zu spüren – es gibt kaum mehr Nischen, wie eine Staatsreligion macht sich der Kapitalismus überall breit. Gut, dass es Autorinnen und Autoren geben, die das thematisieren.

      • Liebe Ingrid, lieber Tobias,
        vielen Dank für Euren aufmunternden Zuspruch. Ein bisschen habt Ihr, die Leser und vor allem die Kommentatoren meiner Beiträge, ja mit daran gewirkt, dass ich selbst auch über meinen Leseschwerpunkt mehr Klarheit bekommen habe und so ist dann diese Kategorisierung entstanden. Und beim Blättern durch meine bisherigen Beiträge konnte ich dann tatsächlich erkennen, dass da wirklich schon einiges zusammengekommen ist. Die jetzt vorliegenden Verlagsschauen habe ich auch schon mit meinem „Wirtschaftsblick“ durchgeblättert, es kommen auch im Herbst wieder einige Romane, die sich mit Aspekten dieser Ökonomisierung auseinandersetzen. Der Stoff geht mir also nicht aus. Und ich freue mich auf schon auf Eure Kommentare!
        Sonntagsgrüße ins Bergische und in den Süden, Claudia

  2. Liebe Claudia,
    finde ich gut, dass Du das jetzt in einem eigenen Leseschwerpunkt zusammenfasst, was bei Dir ja tatsächlich ein Schwerpunktthema ist – ich freue mich auf kluge Besprechungen und fruchtbare, erkenntnisbringende Diskussionen!
    Viele Grüße, Birgit

    • Liebe Birgit,
      ich liebäugel ja schon etwas länger damit, so einen Lesenschwerpunkt zusammenzustellen, aber es war bisher immer so … lästig. Nach den Diskussionen zu den letzten Büchern habe ich mich aber nun doch einmal aufgerafft, Ihr habt ja ein ums andere mal so deutlich geschrieben, dass diese gesellschaftlichen Entwicklungen wohl mein Thema seien – und so schwierig, alles unter dieser Kategorie auffindbar zu machen, war es dann ja auch nicht. Dazu habe ich für das Bild noch ein paar Bücher aus dem Regal gezogen, die ich hier noch gar nicht vorgestellt habe, sodass sich mein Schwerpunkt dann noch ein bisschen füllen kann. Und ich freue mich natürlich auch auf viele weitere spannende Diskussionen.
      Viele Sonntagsgrüße in den Süden, Claudia

  3. Ein spannendes weites Feld, dass man ja kaum objektiv ohne Prägung durch die Herkunft beackern kann. Um im Bild zu bleiben, ist die erste selbstkritische Betrachtung die eigene Ausgangsposition: ist man Saisonarbeiter, angestellter Knecht, Grund besitzender Bauer oder gar Gutsherr?

    Ein andere Frage ist: wo beginnt die Ökonomisierung? Für mich zum Beispiel schon in der verbreitenden Bilanzierung in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen. Fast jeder wägt heute seinen Anteil an eingebrachten „Leistungen“ gegenüber seinem Partner, Freunden etc. ab, führt ein imaginäres Konto und ist frustriert oder empört, wenn Soll & Haben seiner Ansicht nach nicht mehr akzeptabel gegenüberstehen.

    Eigentlich amüsant, doch für die Betroffenen selten lustig, ist es, wenn man jeden getrennt fragt, wie hoch er seinen prozentualen Anteil an Engagement und Aufgaben etc. einschätzt. Addiert man diese dann, kommen immer weit über 100% raus. Noch nie habe ich ein Ergebnis unter 100% erlebt. 😉

    • Lieber Thomas,
      die eigene Betroffenheit, das eigene Erleben der Abhängigkeiten, vor allem das Gefühl, als Spielball dem Geschehen einigermaßne hilflos ausgeliefert zu sein, ist sicherlich ein erster betroffener Blick auf die Folgen der Ökonomisierung unseres Lebens. Von diesen Erfahrungen haben wir wahrscheinlich alle bereits mehr oder weniger viele und tiefe Kratzer davon getragen. Und auch die beste Ausbildung schützt vor diesen Kratzern offensichtlich nicht mehr. Das beobachte und erlebe ich seit knapp 20 Jahren – und deshalb gefällt mir Kirsten Bilkaus Roman „Die Glücklichen“ so gut, weil sie dieses Ausgeliefertsein und seine Wirkungen bis in den privatesten Bereich so anschaulich beschreibt.
      Wenn ich davon ein Stück abstrahiere, handelt es sich ja um ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, eine starke Verunsicherung, die in fast allen Familien Einzug gehalten hat. Befristete Jobs, prekäre Jobs, Druck über Ziele, Wettbewerb unter Kollegen (wer verkauft die meisten Lebensversicherungen an über 60 Jährige?), Arbeiten in Projekten mit immer wieder neu zusammengewürfelten Teams und den entsprechenden Konflikten – das wären doch alles ganz wunderbare Stoffe für die Literatur. Statt dessen – und nun bin ich ein bisschen polemisch, bitte nicht so ganz ernst nehmen – wird die abermillionste Coming-of-Age-Geschichte erzählt, die ebenso millionste Geschichte einer in die Jahre gekommenen Ehe…
      Und was Du schreibst zur Ökonomisierung von „Beziehungen“ (bei dem Wort fängt es ja schon an), da kann ich Dir nur zustimmen. Und es wird bei meinen Schülern noch schlimmer – mindestens einmal im Jahr haben wir diese Diskussion, wenn wir einen ethischen Text lesen, dann taucht genau die Frage auf, warum man irgendjemandem helfen soll, von dem man nichts zu erwarten hat. Und dann werden auch Freundschaften genau so bilanziert, alle Handlungen werden auf einem T-Konto aufgelistet, streng nach Soll und Haben. So eine Haltung ist schon erschreckend. Im Freundeskreis habe ich das in der Form allerdings – zum Glück – noch nicht so wahrgenommen.
      Ein weites Feld also, mal schauen, was die Literatur uns da noch beschert.
      Viele Grüße und einen schönen Sonntag, Claudia

    • Den „Frühling“ habe ich schon vor längerer Zeit gelesen und bin begeitsert gewesen. In der Literatur fanden sich ja in den letzten jahren nicht so viele Titel, die sich mit dem Ökonomisierungswahn beschäftigten – das scheint sich gerade ein wenig zu ändern. Und wenn man einen Titel finden konnte, war eher ein Banker der Protagonist (wie in Sascha Rehs Gibraltar) oder es waren die volskwirtschaftlichen Folgen, wie in Lüscher „Barbaren“. Und meine These ist ja, dass sich die vermeintlich Zivilisierten, nämlich die reichen Europäer und die reichen Tunesier, in der ganzen Novelle ziemlich barbarisch benehmen, nicht erst mit Zusammenbruch der britischen Währung. In der Zwischenzeit haben sich auch schon zwei Schülerjahrgänge an der Lektüre versucht. Hier kannst Du meine Überlegungen von damals nachlesen https://dasgrauesofa.wordpress.com/wp-admin/post.php?post=409&action=edit

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