Mitte Februar gab es in den deutschen Feuilletons ein interessantes Phänomen zu beobachten: Quer zur üblichen politischen Haltung der Zeitungen wurde Frank Schirrmachers neues Buch „Ego“ überraschenderweise dort bejubelt, wo konservative Äußerungen sonst eher kritisch beurteilt werden, während sich in eher konservativen Publikationen die negativen Stimmen zur Wort meldeten [1]. So schreibt dann auch Augstein in seiner Kolumne auf spiegel online:
Vor allem aber ist die Tatsache, dass dieses Buch aus der Feder des konservativen Journalisten Schirrmacher stammt, ein weithin sichtbares politisches Signal: Die Kapitalismuskritik ist inzwischen im Herzen des Kapitalismus angekommen. [2]
Schirrmacher also, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die ihre deutliche Ausrichtung auf wirtschaftliche Themen ja duurchaus als Alleinstellungsmerkmal sieht, geht in seinem Buch den Spuren nach, die, seiner Meinung nach, zu dem von ihm diagnostizierten Egoismus in unserer Gegenwart geführt haben. Er macht das Modell des „Homo oeconomicus“ aus, das, zu Beginn des 20. Jahrhunderts fast vergessen, in den 1950er Jahren reanimiert wurde und zusammen mit der neu entwickelten Spieltheorie John von Neumanns und John Nashs (wir kennen ihn aus dem Spielfilm „A beautiful mind“) zu einem Werkzeug wurde, das menschliches Verhalten mathematisch berechenbar und somit vorhersehbar machte. Wenden Menschen dieses Verhaltensmodell in der Realität an, so werden sie zu Pokerspielern, die ihre wahren Interessen nicht nur verbergen, sondern ihr Gegenüber auch immer wieder täuschen, oder so tun, als würden sie täuschen, mit dem Ziel, ihre egoistischen Vorstellungen effizient umsetzen zu können. Und, so die These der Modell-Befürworter: Menschen wenden dieses Modell an, weil dieses Verhalten alleine die rationale Umsetzung der eigenen Ziele ermögliche, immer unter Berücksichtigung der Entscheidungen des Gegenübers, dessen Ziele aber auch leicht erkennbar sind, denn er will ja auch nur seinen Egoismus umsetzen.
Zum Modell des Homo oeconomicus als einem Modul und der Spieltheorie als zweitem gesellte sich als drittes Modul die rasante Weiterentwicklung der Computertechnologie im Rahmen der militärischen Forschung, die in Zeiten des Kalten Kriegs von der amerikanischen Regierung mit großen Budgets ausgestattet wurde. Zahlreiche Physiker trieben hier die Computertechnologie voran und erreichten so die Verquickung von theoretischem Entscheidungsmodell (Homo oeconomicus) und rationaler Entscheidungsregel (Spieltheorie) in Form von Computeralgorithmen. Somit können verschiedene Entscheidungen (Spielzüge) blitzschnell und umfassend berechnet und durchgeführt werden. Auf diesem Weg, so Schirrmacher, entstand die Basis, dass „der Westen“ den Kalten Krieg gegen die Sowjetunion gewinnen konnte.
Nach 1989 mussten sich dann die bisher unter dem weiten Mantel des Staates arbeitenden Physiker eine neue Branche suchen. So wechselten viele von ihnen an die Wall Street und setzen hier ihre Kenntnisse ein, um den heute bekannten rasanten Aktien- und Derivatehandel nicht nur zu beschleunigen, sondern auch zu verselbstständigen. Und somit war Nummer 2 in eine neue Dimension eingetreten, Numnmer 2 als der Computer nämlich, der spieltheoretisch rational entscheidet – und dabei auch schon verschiedene Spielzüge des Gegners, die der möglicherweise in der Zukunft machen könnte, vorwegnimmt – und dies alles viel besser als die Nummer 1, der Mensch.
Und nun erkennt Schirrmacher, dass Nummer 2 dabei ist, in alle menschlichen Lebensbereiche einzudringen und sie sich nach seiner rationalen Maxime zu unterwerfen, also die Regeln des Spiels zu bestimmen (Überschrift des ersten Kapitels). Und nicht nur das, Nummer 2 tritt auch an, uns selbst so zu verändern, dass wir seine Algorithmen und Entscheidungsregeln zu unseren machen. Nummer 2 will also nichts anderes als die Menschen selbst zu optimieren, so die Überschrift seines zweiten großen Kapitels.
Wir fehlbaren Menschen wurden mit all unseren Defiziten und falschen Kompromissen aus der Schleife, „out of loop“, genommen und durch Nummer 2 ersetzt. Jetzt, da Nummer 2 das Sagen hat, warnte Dave Cliff – einer derjenigen, der ganze Generationen des ökonomischen Agenten erschuf, eher er die Wall Street verließ – dass das gesamte System eines nahen Tages in eine „unendliche Schleife“ eintritt, die kein Mensch mehr unterbrechen kann. (S. 156)
Dem Buch kommt sicher das Verdienst zu, die Zusammenhänge zwischen dem wirtschaftsliberalen, oder auch neoliberalen, Denken und den Möglichkeiten moderner Computertechnologie deutlich herauszuarbeiten und damit einen Erklärungsansatz für die Börsennachrichten zu liefern, die immer wieder deutlich machen, dass an der Börse eben Entscheidungen nicht aus Rationalität im Sinne von kriteriengeleiteten, begründeten und nachprüfbaren Überlegungen gefällt werden. Dem Autor kommt sicher auch alleine durch seine Person das Verdienst zu, Kritik an gegenwärtigen wirtschaftlichen Entwicklungen auch bei den Menschen salonfähig zu machen, die bisher die üblicherweise als links geltende Kritik am Kapitalismus abgelehnt haben.
Aber: Schirrmacher wiederholt in seinem Buch so oft den Dreischritt Homo oeconomicus – Spieltheorie – Nummer 2, dass er – bei fast 300 Seiten – irgendwann zu langweilen beginnt. Und dabei übersieht er noch, dass es doch sinnvoll wäre, seine Modelle zunächst einmal vorzustellen, sie in ihre jeweiligen historischen Kontexte einzuordnen, sie differenziert und kritisch zu betrachten. Erst so hätte er eine Grundlage geschaffen, auf der er sich gemeinsam mit dem Leser auf die Suche nach den gegenwärtigen Problemen hätte machen können. So fällt jeder auf seine eigenen spekulativen oder rudimentären Kenntnisse der Modelle zurück, was deutlich unterstützt wird durch eine sehr wertende Sprache auch in solchen Passagen, in denen es eigentlich um eine Darstellung gehen sollte. Und nach 300 Seiten fragt sich der Leser doch, welcher Erkenntnisgewinn sich auf den letzten 200 Seiten eingestellt hat, es scheint alles immer nur wiederholt zu werden. Und die Beispiele und Belege, die er zur Stützung seiner Argumentation anführt, enstammen alle dem englischsprachigen Raum, kritische europäische oder gar deutsche Stimmen zum Thema nimmt er leider gar nicht wahr. Dass ein Autor, der die Computeralogithmen als Nummer 2, gar als Monster bezeichnet, sein komplettes Literaturstudium zu diesem Buch via Kindle edition durchgeführt hat, ist zumundest einmal: bemerkenswert.
Und: Mit der deutlichen Verengung seiner Argumentation auf Nummer 2, einer so sinnfälligen Anspielung auf den Science-Fiction Roboter Nummer 5, der sich ja leider auch einen ganzen Film lang immer selbstständiger von seinen Erschaffern macht, kreiert Schirrmacher eine völlig aussichtslose – schon paranoid anmutende – Atmosphäre, in der Rettung vor den entfesselten Kräften einer selbstständig lernenden Technik nicht mehr möglich ist. So verengt er das Problem auf die Technik, vergisst aber völlig zu betonen, dass diese Technik auch sehr gut zum Zeitgsteit der politisch Handelnden passte, die sich nämlich mehr und mehr neoliberaler Ideen öffneten. Und das begann mit dem Einfluss der Wirtschaftswissenschaftler der Chicago School auf die Regierungen in der 1970er Jahren, zuerst in Südamerika, dann in GB (Thatcher), den USA (Reagan) und anderen europäischen Regierungen seit Beginn der 1980er Jahre, also weit vor dem Fall der Mauer. Die Rolle und die Verantwortung der Politik aber lässt Schirrmacher so gut wie völlig außer Acht, auch hier fehlt eine differenzierte Analyse.
Die Freude also darüber, dass die „Kapitalismuskritik im Herzen des Kapitalismus“ (Augstein [2]) angekommen sei, ist nach der Lektüre des „Ego“ nicht besonders groß. Statt einer Kapitalismuskritik geht es hier doch eher um eine Technikkritik. Und selbst die bleibt im Keim stecken, denn außer ein paar ganz oberflächlichen negativen Anspielungen beschreibt Schirrmacher, mit Ausnahme des Börsenhandels, keines der Probleme, die aus der Analyse der unendlichen Daten, die wir überall hinterlassen, gewonnen werden können genauer. So bleiben die Erkenntnisse nach der Lektüre weit hinter den Erwartungen der klugen (und egoistischen?) PR-Strategie rund um Autor und Buch zurück.
[1] http://www.perlentaucher.de/buch/frank-schirrmacher/ego.html
[2] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/jakob-augstein-ueber-frank-schirrmachers-neues-buch-ego-a-882547.html
Frank Schirrmacher (2013): Ego. Das Spiel des Lebens
Eine interessante Besprechung, die ich mit viel Vergnügen gelesen habe, vor allem auch darum, weil meine Wunschliste nach deinen Eindrücken nicht Gefahr läuft, weiter anzuwachsen, da mich dieses Buch überhaupt nicht interessiert. 🙂 Um so eindrücklicher finde ich deine „Leistung“, dich durchgekämpft zu haben …
Liebe Mara,
vielen Dank für Dein Feedback. Mit meinen nächsten Rezensionen werde ich wieder mehr für Eure Bücherstapel tun!
So schlimm mit dem Durchkämpfen ist es aber gar nicht gewesen, denn ich habe ja bis fast zum Schluss auf die bahnbrechende, zusammenfassende und alles erhellende Aussage gewartet :-). Und ich finde es – manchmal, den Kirchhoff habe ich ja doch zur Seite gelegt – auch sehr interessant, eine negative Besprechung zu schreiben. Und so ist das hier auch gewesen. Ich musste mich geradezu zwingen, nicht noch fünf Seiten zu schreiben. Aber wer hätte das auch lesen wollen?
Viele Grüße, Claudia
Lieb Claudia,
ich habe mich auch schon manchmal, aber wirklich selten, denn so oft kommt es bei mir nicht vor, durch Bücher „gequält“, die mir nicht gut gefallen haben. Spaß am Rezensieren hatte ich anschließend aber irgendwie nie – ich neige glaube ich nicht zu Verrissen und selbst bei Büchern, die mich nicht beeindrucken konnten, versuche ich noch diplomatisch zu bleiben.
Ich freue mich aber schon auf deine nächsten Besprechungen und auf weiteren Zuwachs für meinen Bücherstapel. 🙂
Liebe Grüße
Mara
Ich werde mich ganz doll bemühen, an Euren Buchstapeln zu arbeiten :-)!
Und morgen endlich Deine nächste Besprechung ganz in Ruhe zu lesen!
Ganz gehetzte Grüße, Claudia
Danke für eine nachvollziehbare und fundierte Besprechung! LG Anna
Liebe Anna,
auch wenn ich in der Zeit keines der sicher viel schöneren anderen Bücher lesen konnte, hat es schon auch ein bisschen Spaß gemacht, mich mit Herrn Schirrmacher auseinanderzusetzen. Und mit weiteren Titeln des Autors brauche ich mich dann in Zukunft auch gar nicht mehr beschäftigen.
Viele Grüße, Claudia
Danke für diese Besprechung! Kapitalismuskritik ist in der Tat sehr en vogue, nicht nur aufgrund von Herrn Schirrmacher, .. leider erwächst aus ihr höchst selten etwas Fundiertes und Nützliches. Denn die Kritik am Gedanken des ewigen Wachstums ist ja notwendig und wichtig, bloß scheint mir die Kapitalismuskritik in letzter Zeit immer mehr zum boulevardesken Thema zu verkommen, mit dem man gut verkommen kann, was auch immer man damit garniert. Aber das ist ja auch so ein Problem dieses Systems .. es konstituiert sich sogar mit der Kritik an sich selbst. Selbst die wird wirtschaftlich verwertet und zu Geld gemacht.
Ja, und dann besonders bei einem so bekannten Autor. Es gibt aber viel bessere, komplexere, fundiertere Bücher zu diesem Thema, die in den Medien nicht ganz so hochgejazzt werden (da muss ich fast schon sagen: leider) und deshalb nicht so viel Aufmerksamkeit bekommen. Vielleicht würden sie aber auch sonst nicht so viel rezipiert, weil sie einfach zu komplex und deshalb schwierig sind, wer weiß. Ich denke da an Sahra Wagenknechts „Freiheit statt Kapitalismus“ oder auch an Christoph Bartmanns „Leben im Büro. Die schöne neue Welt der Angstellten“. Diese Autoren haben jedenfalls eine wesentlich differenziertere Argumentation als Schirrmacher.