Es gibt diese Fragen, die bei den Antworten ganz grundsätzliche Entscheidungen einfordern und auf die wahrscheinlich keiner eine ehrliche Antwort finden kann, solange er nicht selbst in der ganz konkreten Situation ist. Agnes, die Heldin in Bakkers Roman, hat ihre ganz persönliche Antwort gefunden auf die Frage, die ihr gestellt worden ist: „Was würdest Du tun, wenn Du nur noch einige wenige Monate zu leben hast.“ Und die Frage kann sicherlich nicht beantwortet werden, wenn nicht auch das Leben bis hierher bilanziert wird, die Beziehungen zu Familien und Freunden geklärt werden, die Zufriedenheit mit dem Beruf – und im schlechtesten Fall auf einmal feststeht, dass man das falsche Leben gelebt hat.
Agnes und ihr Mann haben sich in ärztliche Behandlung begeben, um ein Kind zu bekommen. Im Rahmen der notwendigen Untersuchungen ist bei Agnes eine bösartige Krankheit, den Symptomen nach Krebs, auch wenn dies im Roman nie explizit benannt wird, diagnostiziert worden. Agnes spricht mit niemandem darüber, mit ihrem Mann nicht und nicht mit ihren Eltern. Auch über ihre Kündigung als Literaturdozentin an der Uni erzählt sie nicht viel; der Versuch, ihrem Mann die Affäre mit dem Studenten zu erklären, die diese Kündigung verursacht hat, scheitert.
Der Student. Sie hatte es ihm selbst erzählt, sehr ruhig. Hier, in diesem Wohnzimmer, an einem Sonntag abend. Er war gerade von einer Runde Laufen zurückgekommen, hatte noch nicht geduscht. Es sei längst vorbei, sagte sie. Und fügte hinzu, dass es der eigentliche Grund für ihre Entlassung gewesen sei. Beim Joggen hatte er den Herbst gerochen, sich auf Läufe im Nieselregen gefreut. Die Herbstwettkämpfe. Schwitzend, die Brust noch geweitet, stand er im Zimmer. Hörte ihre nüchterne Beichte an, so ruhig wie sie. Inzwischen wusste er, dass sie ihm etwas anderes verschwiegen hatte. Eine Woche waren sie sich aus dem Weg gegangen, dann verschwand sie. Zwei Tage später fiel ihm eine leere Stelle im Wohnzimmer auf. Nach einer Runde durchs Haus, bei der er feststellte, daß noch mehr Dinge fehlten (…) (S. 153)
Agnes hatte tatsächlich ein paar Möbel auf einen kleinen Anhänger gepackt, mit der Fähre nach Großbritannien übergesetzt und in Wales ein kleines Haus auf dem Land gemietet, in dem bis vor Kurzem noch eine alte Witwe gelebt hat. Die ersten Wochen lebt sie dort sehr einsam und abgeschieden, sie hat keine Uhr mehr und weiß nie die genaue Zeit, sie nimmt keinen Kontakt zu anderen Menschen auf, selten liest sie in ihrer Emily Dickens Biographie, die sie mitgebracht hat. Nach ein paar Wochen aber beginnt sie, ihre Umgebung zu erkunden, macht längere Spaziergänge, beobachtet die Tiere, Dachse, den roten Milan, die Kühe und Schafe auf den umliegenden Weiden und sie taucht tief in die Landschaft ein. Sie kauft eine Wanderkarte und traut sich längere Wege zu, sie fährt in einen Baumarkt und kauft Pflanzen, weil sie den Garten ihres Hauses neu gestalten möchte. Ein unsympathischer Nachbar, ein Schafzüchter, taucht auf, der sie immer wieder daran erinnert, dass ihr Mietvertrag bald ausläuft und dass sie verantwortlich sei für die zehn Gänse, die neben dem Haus auf der Weide stehen. Und dann kommt auch noch Bradwen, ein junger Mann, der einen neuen Fernwanderweg auskundschaften möchte, und einen Umweg gemacht hat, weil er eben auch einen Bezug zu diesem Haus hat und seiner ehemaligen Bewohnerin, denn er ist es gewesen, der die tote Witwe auf der Gänseweide gefunden hat. Bradwen bezieht das zweite Schlafzimmer, er beginnt, für Agnes einzukaufen, zu kochen, hilft ihr bei der Gartenarbeit, die ihr an manchen Tagen so schwer fällt. Agnes kauft ein Radio, einen Fernseher, zu Weihnachten sucht sie ein Geschenk für Bradwen aus. Auch wenn sie beide nur wenig sprechen und kaum etwas über sich erzählen – Agnes nennt ihm nicht einmal ihren richtigen Namen, entsteht doch eine Beziehung zwischen ihnen – die, auch wenn es immer wieder zu Spannungen kommt, von Respekt vor dem anderen, auch vor seinem Schweigen, getragen ist. Und so lebt Agnes für ein paar Wochen eine Art Familienleben.
Agnes hat ihre Entscheidung getroffen und sie lässt sich, auch wenn sie so lange wartet, wie sie zunächst nicht gedacht hat, letztendlich weder durch Bradwen noch durch ihren Ehemann, dem es nach einigen Wochen doch gelingt, ihren Aufenthaltsraum zu ermitteln, beirren, sie auch umzusetzen. Und so lotet der Roman auch die Frage aus, welche Spannungen entstehen durch Agnes Entscheidung, es selbst in der Hand haben zu wollen, wo und wie sie stirbt; welche Kraft und Konsequenz diese Entscheidung einfordert, welche Einsamkeit sie als Konsequenz nach sich zieht. Wie wohl die Familie und die Freunde mit der Entscheidung, die sie ja alle nicht kennen, zurechtkommen werden, darüber schweigt der Roman.
Wie ein roter Faden zieht sich das Thema der Selbstbestimmung durch den Roman, in immer wieder anderen Konstellationen und Geschichten; so in der des Arztes, der Agnes zwar die gewünschten starken Medikamente nicht verschreiben möchte, das könne er nicht verantworten, sein Rauchen und die sich daraus jetzt schon erkennbaren Schäden kann er aber durchaus verantworten; oder in der Geschichte der Gänse, deren Anzahl sich immer weiter dezimiert, weil entweder ein Fuchs sie holt oder ein Raubvogel, und die sich auch durch Agnes Rettungsversuch, sie baut ihnen für die Nacht einen sicheren Bretterverschlag, in ihrem normalen Leben nicht einschränken lassen wollen, sondern mit ihrer Freiheit auch die Gefahr in Kauf nehmen. Und die Geschichte ihres Onkels geht Agnes nicht aus dem Kopf und hat sicherlich Einfluss auf ihre Entscheidung, alle Brücken hinter sich abzubrechen:
Daß sie hier war, hatte irgendetwas mit ihrem Onkel zu tun. Jedenfalls kam es ihr allmählich so vor. Es verging kaum ein Tag, an dem sie nicht an ihn dachte, ihn in dem spiegelglatten Wasser des Hotelteichs sah. Zu benebelt, um wirklich zu begreifen, daß er sich in hüfthohem Wasser nicht ertränken konnte, wenn er stehen blieb. Nicht imstande, sich fallen zu lassen, obwohl er sämtliche Taschen mit den schwersten Gegenständen vollgestopft hatte, die in einer Hotelküche zu finden waren. (S. 15)
Bakker beschreibt auch in diesem Roman, wie schon in „Oben ist es still“, Menschen, die, auch dann, wenn sie etwas gemeinsam machen, völlig vereinsamt sind, weil sie nicht miteinander sprechen können. So wie Agnes und ihr Mann, oder wie ihre Eltern, die es kaum einmal schaffen, den Fernseher leiser zu stellen, wenn der Schwiegersohn mit ihnen über Agnes´ Verschwinden spricht, weil sie gerade den „Superstar“ schauen müssen oder Eisschnelllaufen. Und so zeigt der Roman nicht nur die individuelle Geschichte von Agnes, sondern an ihrem Beispiel und dem ihrer Familie auch ein Bild unserer Gesellschaft, in der die Menschen keinen Kontakt (mehr?) zueinanderfinden, sodass ihnen letztendlich nichts anderes bleibt, als sich zum Sterben zu verkriechen, so wie man es auch Katzen nachsagt.
Wie ist es nun mit Agnes´ Entscheidung, wie ist sie zu beurteilen – für Agnes selber, aber auch für ihre Familie? Am Ende des Romans steht der Leser alleine vor dieser Frage und sie ist es, die ihn nach der Lektüre noch viele Tage weiter beschäftigt.
Eine kritischere Deutung ist bei Anne von buchpost zu finden. Dort gibt es auch Verweise auf andere Blogrezenionen des Romans.
Gerbrand Bakker (2012): Der Umweg, Berlin.
Hallo Claudia, deine Besprechung gefällt mir besser als der Roman selbst. Dankeschön für diesen Zugang zum Buch! Anna
Liebe Anna,
das hast Du aber nett geschrieben! Vielen Dank dafür.
Wir haben ja schon über unsere ganz unterschiedlichen Zugänge debattiert. Du hast ja schon gesagt, dass es ein großer Gewinn ist, wenn man über ein Buch so lange so angeregt diskutieren kann.
Und es kommt ja in der Blog-Welt gar nicht so oft vor, dass mehrere Blogger Bücher so parallel lesen, dass sich wirklich auch ein Austausch ergeben kann. Das finde ich nun bei diesem Roman und unseren Feedbacks ganz klasse.
Viele Grüße, Claudia
Pingback: Gerbrand Bakker: Der Umweg (2010) | buchpost
Liebe Claudia,
Gerbrand Bakker ist ein Schriftsteller, von dem ich nun schon so viel gehört habe, den ich aber selbst immer noch nicht entdeckt habe. Irgendwie drängeln sich dann doch immer andere Bücher vor, die reizvoller erscheinen und dann rutscht Gerbrand Bakker wieder nach hinnten. Das möchte ich nun endlich einmal ändern, Danke für deine interessante Auseinandersetzung mit diesem Roman. 🙂
Liebe Mara,
und damit Dein Stapel noch größer wird, empfehle ich gleich auch noch seinen Roman „Oben ist es still“, der mindestens genauso gut ist. (Ich muss mich ja mal ein bisschen revanchieren und Deinen vielen schönen und Begrierde weckenden Besprechungen etwas entgegen setzen!!!)
Viele Grüße, Claudia
Liebe Claudia,
„Oben ist es still“ habe ich geslesen. Das finde ich auch sehr bemerkenswert. Einsamkeit und Sprachlosigkeit ist so ein Thema. Vielen Dank für die Bespechung. „Der Umweg“ kommt ganz nach oben auf meine Leseliste.
Alles Gute, mick
„Oben ist es still“ hat mir auch sehr gut gefallen. Du wirst dann auch in dem „Umweg“ einige Motive wieder finden, so den Vogel, der auch schon mal einen Angriff fliegt auf die Menschen, die Beschreibung der Natur, ja, und eben die sehr einsamen, sehr sprachlosen Menschen. Es sind beides, sehr, sehr schöne Bücher und ich wünsche Dir ganz viel Spaß beim „Umweg“-Lesen.
Einen schönen sonnogen Frühjahssonntag wünscht Claudia