Lesen, Romane

Sharon Dodua Otoo: Adas Raum

Was Literatur alles kann, wenn mit großer Experimentierfreude auf ihrer umfangreichen Klaviatur gespielt wird, das zeigt Sharon Dodua Otoos Raum „Adas Raum“. Da folgen wir Leser:innen einer Geschichte „in Schleifen“ durch die Jahrhunderte und durch verschiedene Länder, immer auf der Spur von Ada, die sich ihren Raum wieder und wieder erkämpfen muss – und ein ums andere Mal scheitert. Sie hat immer eine Helferin an ihrer Seite, eine Freundin, eine Schwester, aber immer wieder taucht auch ein Wilhelm auf, der seine eigenen Interessen hat. Ein Knabbern am Daumennagel taucht immer wieder auf, eine Narbe über der Augenbraue, Blut auf der Stirn in der längsten Nacht des Jahres und immer wächst Ada ohne Mutter auf.

Manche Szenen sind niederschmetternd, wenn es wieder und wieder – und im KZ Mittelbau-Dora natürlich ganz besonders – um Gewalt geht. Aber dieser Schwere, diesem Schrecken, setzt die Autorin auch Leichtigkeit entgegen und Humor. Dazu trägt das erzählende Wesen bei, das mal ein Lufthauch ist, der – mit viel Freude natürlich – einem älteren Herrn das Toupet vom Kopf weht, mal ein Reisigbesen, der, soweit es in seiner Macht steht, in die Situation eingreift, und das sich immer mal wieder mit Gott streitet. Das ist eine ganz andere und ausgefallene Erzählerstimme, eine ganz originelle Perspektive auf das Geschehen, die die Geschichten um die vier Adas zusammenhält. Und es erweist sich so aufs Schönste, wozu ein Verfremdungsverfahren in der Lage ist, nämlich eine Distanz entstehen zu lassen zu der jeweils ausweglosen Situation Adas.

Durch die Erzählung dieses Wesens, das immer wieder in andere Dinge hineinschlüpft, Objekte also belebt, und doch nichts mehr ersehnt, als eines Tages als Mensch geboren zu werden, bekommt die Geschichte eine zusätzliche Ebene, eine komplexere Sichtweise über die Jahrhunderte hinweg. Und auch wenn das sehr spielerisch und leicht ist, so fühlt das Wesen doch mit den Adas mit, verzweifelt fast, dass es nicht mehr eingreifen kann und möchte endlich zu einem guten Ausgang beitragen.

„Wir bereiteten uns auf die nächste Schleife vor – es war wieder so weit. Gott nahm die Form einer Brise an. Wie sie es schaffte, so anmutig durch die Gegend zu driften, schüchterte mich einigermaßen ein – trotzdem machte ich es ihr nach und wurde zu einer Brise. Möglicherweise klingt das einfach, aber ich sage euch: Diese Verwandlung hatte es in sich. Reisigbesen, Türklopfer und Zimmer, das sind greifbare Gegenstände. Sie sind klar umrissen, einigermaßen beständig und haben eine monothematische Funktion. Brisen sind eindeutig anders.“

Die Geschichten der Adas wiederum sind wie (musikalische) Variationen, die im Grundsatz in allen Jahrhunderten gleich sind, durch die Bedingungen ihres jeweiligen geschichtlichen Kontextes jedoch veränderliche Ränder haben. Da ist zunächst die Ada in Totope im März 1459. Sie hat zum zweiten Mal einen Sohn verloren, den ersten direkt bei der Geburt, diesen zweiten nun fünf Tage danach. Sie ist untröstlich über den Verlust, versteht nicht, dass es ihr nicht glückt, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen. Und möchte dem Sohn bei einer Verabschiedungszeremonie ihr Armband mitgeben, ein Armband mit Goldkugeln, es soll ihn auf seiner weiteren Reise schützen.

Dieses Armband wiederum entdeckt Guilherme, ein portugiesischer Kaufmann. Wegen seiner Pleite hat er sich auf das Abenteuer der Schiffsreise nach Afrika eingelassen.  Immerhin munkelt man, dass es dort Gold gebe. Nun hat er beim Wetten an Bord bis auf sein sprichwörtlich letztes Hemd alles verloren. Und bei seinem ersten Landgang entdeckt er das ungewöhnlich gefertigte Armband bei Ada und ihrem toten Baby erweckte, das sofort seine Begehrlichkeiten weckt

So nimmt das Verhängnis für Ada seinen Lauf. Und das Armband gelangt nach Europa. Dort bekommt es vierhundert Jahre später Ada Lovelace zur Hochzeit geschenkt, so sieht es die Familientradition der Familie King vor. Während der Ehegatte auf politischen Reisen ist, gönnt Ada sich eine Liaison mit Charles Dickens. Der, ganz Mann seiner Zeit, nimmt Adas mathematische Arbeiten nicht so recht ernst. Immerhin gilt sie heute als die erste Informatikerin, die die Möglichkeiten einer analytischen Maschine schon in den 1840er Jahren sehr genau beschreibt.

Aber Charles´ abfällige Bemerkungen zu ihrer Forschungsarbeit sind nicht das einzige Problem an diesem Tag. Kaum ist er gegangen, klopft es nämlich wieder an der Haustür – mittels Türklopfer, der ja auch diese Episode erzählt. Doch statt Charles steht dort der Ehegatte – mit dem sie nun gar nicht gerechnet hatte. Und er, der sehr wohl den Liebhaber hat weggehen sehen, will nun nicht mehr und nicht weniger als das Armband. Aber Ada hat keine Ahnung, wo es ist. So nimmt auch diese Schleife ein unglückliches Ende.

Auf verschlungenen Pfaden reist das Armband weiter nach Deutschland und taucht dort 1945 wieder auf, im KZ Mittelbau Dora. Dort hat die Lagerleitung ein Bordell eingerichtet für die Insassen. Und Ada ist hier nicht nur selbst Gefangene, sondern wird auch noch zur Prostitution gezwungen, ist gleichsam doppeltes Opfer. Und wieder bringt das Auftauchen des Armbandes und die Anwesenheit eines Wilhelm Ada nur Unglück.

Es bedarf wieder einer Verschnaufpause, bis eine neue Schleife beginnt, nun in Berlin unserer Zeit.

„Die Zeit war jedenfalls gekommen, um Ada daran zu erinnern, dass alle Wesen – vergangene, gegenwärtige und zukünftige – in Verbindung miteinander sind, dass wir es immer waren und immer sein werden. Die Botschaft kann erdrückend sein, wenn mensch meint, sie zum ersten Mal zu hören. Wir wollten Ada damit nicht überrumpeln. Wir wissen ja, dass sie am Ende ihres Lebens zunächst immer eine Runde Abstand braucht. Also machten Gott und ich uns auf die Suche nach ihr – aber erst nachdem sie sich gänzlich im Weißen aufgelöst hat.“

Das Wesen ist hier ein britischer Reisepass und gehört – natürlich – Ada. Sie lebt bei ihrer deutschen Halbschwester, ist hochschwanger und sucht eine Wohnung. Einen eigenen Raum für sich und ihr Kind. Dabei wird sie mit den Auswirkungen eines völlig überhitzten Berliner Wohnungsmarktes konfrontiert. Und ihr Name – Ada Lamptey – macht die Suche nicht einfacher. Bessere Chancen hat sie, wenn ihre Halbschwester mit dem deutschen Namen den Termin ausmacht. Und dann, am Ende eines anstrengenden Wohnungssuchtages, trifft Ada auf Herrn Wilhelm, jenem älteren Herrn, dem die Brise im Park das Toupet vom Kopf gerissen hat.

Spielerisch ist Sharon Dodua Otoos Roman, innovativ, fesselnd, schockierend, immer wieder neue Blickwinkel ermöglichend und immer wieder mit einem Augenzwinkern. Fordernd auch, will die Leserin den Überblick behalten über alle Zeiten und Episoden, über alle Motive, die immer wieder auftauchen. So spielerisch und experimentierfreudig das auch ist, so erzählt die Autorin doch von den großen aktuellen Themen der Gegenwart, von Kolonialismus, von Rassismus und von Frauenverachtung. Ganz ohne erhobenen Zeigefinger, ohne didaktischen Kniff und ohne Anklage. Denn das Wesen, über die Jahrhunderte hinweg Teil der Geschichte und mit dem Ziel selbst einmal als Mensch geboren zu werden, hat ja eine besondere Motivation.

So ist der Roman ein mehr als gelungenes Debüt, eine Geschichte jedenfalls, die auch in 10 oder 20 Jahren noch lesenswert ist. So steigt die Vorfreude auf weitere Texte Sharon Dodua Otoos. Und ihre nächsten literarischen Einfälle.

Sharon Dodua Otoo (2021): Adas Raum, Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag