Identität, Romane

Yannic Han Biao Federer: Tao

Es sind gleich zwei Verluste, die Tobi belasten. Da hat einmal gerade Miriam mit ihm Schluss gemacht und er muss sich eine neue Bleibe suchen. Es wird ein Einzimmer-Apartment in Köln-Kalk, der Eingang liegt zwischen dm und einem Pizza- und Döner-Imbiss, hinter dem Haus ein Parkplatz vor dem Aldi-Markt, gegenüber dem Haus die Fassade eines alten Kaufhofs, in den gerade ein Kaufland einzieht. Das Zimmer riecht nach Kunststoff und die Küchenmöbel haben auch schon bessere Tage gesehen, aber der Hausverwalter überlässt sie ihm, einfach so. Es scheint, als spiegele sich Tobis innere Welt in der ungemütlichen äußeren.

Warum Miriam Schluss gemacht hat, das weiß er nicht genau. Sie kennen sich seit Schultagen. Aber damals war sie mit Markus zusammen. Der hat ihn immer „Schlitzi“ gerufen, weil Tobis Vater Chinese ist. Und einmal hat er ihn auch übel verprügelt im Keller der Schule, weil es das Gerücht gab, Tobi habe mit Miriam geschlafen. Tobi und Miriam haben sich später erst in Freiburg wiedergetroffen und sind dann zusammen nach Köln gezogen. Miriam ist die einzige, die ihn mit seinem richtigen Namen Tao anspricht, wenn sie alleine sind, wenn sie miteinander schlafen. Und sie haben beide die Erfahrung gemacht, dass der Vater stirbt. Miriam mag darüber nicht ausführlich sprechen. Auch eine Therapie lehnt sie ab. Und Tobi beschäftigt der Tod seines Vaters natürlich auch, der doch nach Hongkong gereist war, seinen Familienwurzeln auf der Spur.

Tobi beginnt darüber zu schreiben. Er steht frühmorgens auf, um sich vor der Bürozeit noch zu Hause an den Laptop zu setzen. Er schreibt dann weiter in seinem Büro an der Uni in der Mittagspause. Und irgendwann hat Miriam die Manuskriptseiten gesehen auf seinem Schreibtisch, er hatte sie nicht rechtzeitig weggelegt.

„Es muss sie Überwindung gekostet haben, als sie sich irgendwann zu mir setzte und sagte, ich will nicht, dass du über meinen Vater schreibst. Und über meine Familie. Über mich. (…)

Es war mir peinlich, ich hätte wissen müssen, dass Miriam so etwas nicht wollen konnte, weil sie ja auch sonst kaum darüber sprach oder nie, irgendwo, tief in ihrem Inneren, musste sie einen Wall aus feuchter Erde aufgeschüttet haben, der inzwischen längst schon dicht begrünt war, aufwendig bepflanzt, ein blühender Hang, und alles, was geschehen war, lag jenseits davon, sie mied es hinauszusteigen, hinüberzusehen.“

Aber so wie Miriam, so lässt sich auch der Ich-Erzähler Tobi nicht ins Innere schauen, so wie sie erzählt er nicht, wie es ihm geht, spart konsequent aus, was er empfindet. Aber er ist ein sehr guter Beobachter seiner Umgebung, hat, wie ein guter Fotograf, einen Blick für besondere Situationen, für skurrile, nachdenklich machende, manchmal augenzwinkernde. Aber vor allem auch für alles, was brüchig ist, was angeschlagen ist und vergänglich. Mit ein paar treffenden Beschreibungen führt uns Tobi in die Situation und lässt uns anschaulich teilhaben an den kuriosen Dingen, die es in der Welt für die zu sehen gibt, die sehen können. Oder kann Erklärungen so visualisieren wie es das Beispiel des begrünten Walls in Miriams Innersten zeigt.

Und es ist ja nicht nur der Verlust von Miriam, der schmerzt, es ist auch der merkwürdige Tod des Vaters in Hongkong, der in einer Nebenstraße gefunden wurde, bekleidet nur mit dem Hotel-Bademantel und den Hotel-Pantoffeln. Dabei ist der Vater nach Hongkong gereist, um das Dorf seines Vaters zu finden, das irgendwo in der Nähe sein muss, in einem ehemals landwirtschaftlichen gebiet, dass die Metropole sich längst einverleibt hat. Ein paar Jahre nur hat der Großvater hier gelebt, dann haben seine Eltern ihn weggegeben, nach Indonesien, weil sie zu wenig zu Essen hatten für die große Familie. Wie also soll er dem Geheimnis des Vater-Todes auf die Spur kommen?

Darüber zu schreiben, ist vielleicht eine Möglichkeit. Und so beginnt Tao/Tobi ja auch mit dem Schreiben, der literarischen Verarbeitung seiner besonderen Lebensgeschichte. Er erschafft den protagonisten Alex, der viele Ähnlichkeiten aufweist zu ihm selbst, in dessen Geschichte sich aber auch Unterschiede zeigen. Da der Ich-Erzähler Tobi Alex´ Geschichte aus der Er-Perspektive erzählt, kann er sich darüber hinaus der Figur und ihrer Handlungen noch einmal ganz anders nähern, als er das bei seinem eigenen Erleben kann.

So erschafft Federer ein packendes literarisches Spiel mit zwei Figuren, die beide um ihre Herkunft und den Tod des Vaters kreisen. Er spiegelt in beiden Erzählsträngen Motive, die aber immer wieder eine Nuance verändert sind und somit eine andere, eine neue Bedeutung haben. Und ich musste beim Lesen schon sehr aufpassen, wenn ich den Überblick behalten wollte, ob ich gerade Taos Geschichte lese oder Alex´. Oder mich wunderte, weil ich genau diese Textstelle doch vor ein paar Seiten schon mal gelesen habe – aber eben in der Geschichte des anderen Protagonisten. Zumal beide Erzähler in knappen Vignetten erzählen, gegenwärtiges Erleben auf der einen Seite und Erinnern auf der anderen immer wieder abwechseln.

Und dann ist da ja auch noch Tobis Freund Micha, ein Autor für Hörspiele, mit dem Tobi immer wieder chattet. Micha ist derjenige, der die Dokumentationen über Hongkong und die Regenschirm-Revolution schaut und Tobi davon berichtet. Micha schaut sie auch, weil er als Hörspiel-Autor recherchiert und gerade eine Geschichte schreibt über Tomi, der Autor werden will und Halbchinese ist, „aber die meisten sehen ihm das nicht an, und manchmal vergisst er es auch selbst.“

„Hey Tobi, sitze im Café und arbeite meinen Text um. Tomi heisst jetzt Yán und entscheidet sich im Laufe der Story gegen eine literarische Karriere, er bleibt an der Uni und promoviert über Apokalypse und Carl Schmitt. Also die Figur hat schon gewisse Züge von dir, aber mehr nicht.“

In dieses literarische Spiel ist auch der Autor verwickelt, von dem Wikipedia zu berichten weiß, dass er im Breisgau geboren und aufgewachsen sei als Sohn einer indonesischen Mutter und eines deutschen Vaters. Der promoviert habe über das Thema „Masse & Apokalypse“. Und so ist Federers Geschichte über die Vater-Suchen seiner Protagonisten auch ein Ausloten dessen, was die Autofiktion als literarisches Genre zu leisten vermag. Und das keineswegs didaktisch konstruiert, sondern ganz organisch und lebendig.

Dass Federer sich mit dem Thema der Autofiktion beschäftigt hat, wird auch in seinem Radio-Essay „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ deutlich, in dem er im dritten Teil dieser Frage in der Literatur nachgeht. Als Beispiel dient ihm Max Frischs „Montauk“, einem als Erzählung deklariertem Text über ein Wochenende Max Frischs in Montauk. Lange also bevor der Begriff der Autofiktion im Zusammenhang der Arbeiten von Annie Ernaux und Karl Ove Knausgard entstanden ist, hat Frisch sich also schon damit auseinandergesetzt. In Montauk ist auch die Bemerkung Marianne Frischs zu lesen, dass sie kein Material seiner Fiktion werden möchte. So, wie es auch Tobis Miriam nicht wollte.

Yannic Han Biao Federer (2022): Tao, Berlin, Suhrkamp Verlag

2 Kommentare

  1. Da passt noch Ursula Priess zu erwähnen, die schreibende Tochter von Frisch, und ihren Roman „Sturz durch alle Spiegel“, wodurch „Montauk“ und das Autofiktionale Erzählen eine weitere Facette bekommt, die des berichtenden beobachteten Beobachters. Was „Montauk“ für mich auszeichnet, ist diese seltsame Ruhe zwischen den Zeilen, diese Nicht-mehr-eilig-Haben. Ich schaue in „Tao“ mal rein, ob es ähnlich ruhig daherkommt wie die schöne Besprechung. Viele Grüße!

    • Und ich schaue mir mal Ursula Priess und ihren Roman an. Vielen Dank für den Tipp!
      Viele Grüße, Claudia

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