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Ursula Knoll: Lektionen in dunkler Materie

Der Astronaut Edward White ist voll und ganz mit seinem ersten Weltraumspaziergang beschäftigt. Er bemerkt nicht, dass sich ein ungesicherter Ersatzhandschuh langsam aus der Kiste löst und in den Weltraum auf und davon macht. Der Handschuh findet sich auf einer Umlaufbahn um die Erde ein, nimmt Geschwindigkeit auf und rast fortan mit 28.000 Stundenkilometern durch den Weltraum. Würde er auf ein Hindernis treffen, dann wäre aus dem ziemlich harmlosen Weltraumhandschuh ein fulminantes Geschoss geworden:

„Der getroffene Körper wäre zerrissen, der Satellit, die Raumstation oder der Versorgungstransporter zu unkontrollierbar schwebenden Einzelteilchen zersiebt, ein paar Menschenleben ausgelöscht, ein paar weitere beschädigt, GPS-Systeme und Datenübertragung auf die Erde lahmgelegt, Illusionen verletzt, Eitelkeiten vernichtet.“

Mit ihrem Prolog legt Ursula Knoll Ton und Tempo ihres Episodenromans fest: Zwischen Himmel und Erde passieren schon mal Dinge, die so eigentlich nicht passieren sollten. Zufälle und Unfälle, die bei all unseren Maßnahmen zur Risikovermeidung dann doch ab und zu mal für großes Chaos sorgen. Und das trotz der dunklen Materie, die, mit der großen Schwerkraft, die sie ausübt, „wie ein Kitt die Strukturen im Universum zusammenhält“. Manchmal aber geht der Zufall nicht so harmlos aus wie beim verloren Handschuh, manchmal lassen sich die Menschen vom Kitt nicht in ihren gewohnten Bahnen halten, manchmal flippen sie einfach mal aus.

Es ist der heiße Sommer 2018, Kevin, Lorin und Mike heizen Mittel- und Südeuropa ordentlich ein. Die Hitze wabert durch die Straßen, schon am frühen Morgen sind es 28 Grad. Die Zimmerpflanzen leiden, die Felder sind vertrocknet und in Griechenland brennt der Wald. In Genua ist in diesen Tagen eine Autobahnbrücke zusammengebrochen. Das alles setzt den Menschen zu.

Da ist zum Beispiel Ines Geiger, die beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl arbeitet und Bescheide ausstellt, ob ein Mensch bleiben darf oder gehen muss. Sie arbeitet sich durch Akten, führt Gespräche mit den Antragstellern, immer über den Umweg einer Dolmetscherin, um dann einen negativen Bescheid auszustellen. Irgendeine Ungereimtheit gibt es ja immer in den manchmal tatsächlich auch sehr durchsichtigen Geschichten der Asylsuchenden. Ihre Kollegin ist schon länger krank, der Chef mahnt mehr Bescheide pro Mitarbeiterin an und ihrer Katze geht es auch schlecht. In ihrem Frust über die immer gleichen Geschichten der Antragstellenden, über nicht übersetzte Sätze der Dolmetscherin, über die so negativen Sätze der Textbausteine, die sie für ihre Ablehnungen nutzt, und über den stetig steigenden Arbeitsdruck gibt es diesen einen Punkt, an dem sie beschließt, nur noch positive Bescheide zu formulieren. So lässt sich der Ordner mit den abgearbeiteten Fällen viel schneller füllen Und vor allem: „Die Enge in der Brust lässt nach.“

Da ist auch Heide, eine alleinerziehende Mutter. Nach einem abendlichen Unfall mit einem Känguru – es muss eines gewesen sein, denn so einen langen Schwanz hat kein Reh – ist ihr Auto kaputt und mit den Öffentlichen schafft sie es einfach nicht vom Hotel, wo sie die Zimmer reinigt, pünktlich zur Kita, um Linus abzuholen. Dort ärgert sich Fatima, die Erzieherin, weil sie wieder wegen Heides Zuspätkommen viel länger in der Kita bleiben muss. Und so beschließt Heide, einfach zu bleiben, die Kita zu besetzen, denn die viel zu kurzen Betreuungszeiten sind ja ein grundsätzliches Problem für alle Eltern. Mit Linus bemalt sie ein Betttuch mit ihren Forderungen, das sie ins Fenster hängen. Und es dauert gar nicht lange, bis sich weitere Eltern anschließen.

Ihre Ex-Frau Katalin reist derweil in der ISS um die Erde. Sie hat es als Astronautin in den Weltraum geschafft, wahrscheinlich eher weil sie eine eineiige Zwillingsschwester hat und so die Auswirkungen der Raumfahrt gut untersucht werden können. Psychisch scheint sie nämlich nicht so ganz geeignet für die sechsmonatige Tour um die Erde. Schon nach ein paar Tagen geht ihr die Enge und die Beschwerlichkeiten des Lebens auf der Raumstation auf die Nerven. Und der kleine blitzgescheite Roboter Simon, der die Astronauten bei Laune halten soll, aber vielleicht doch nur ihre Verhaltensdaten sammelt und ins Kontrollzentrum nach Oberpfaffenhofen weiterleitet, erkennt ihren Wunsch nach Distanz nicht. Stattdessen kommentiert er ihr Treiben auf Heides Bankkonto.

Ursula Knoll erzählt in ihren „Lektionen von dunkler Materie“ von fünf ungewöhnlichen Frauen, die, von der Hitze und manchmal auch lange aufgestautem Ärger alle einfach mal aus der Haut fahren. Dabei springt sie beim Erzählen immer wieder zwischen ihnen hin und her, sodass wir Lesenden diejenigen sind, die aus den scheinbar zusammenhanglosen Mosaikteilchen ein ganzes Bild entwickeln müssen. Um so auch die parallel geschnittenen Ereignisse erkennen zu können. Und die Verbindungen, die zwischen den Protagonistinnen bestehen.

Sicherlich ist manche Wendung der Geschichten nicht ganz realistisch. Aber auch nicht völlig abwegig, wenn man die Hitze berücksichtigt und die bizarren Zumutungen, die die moderne Welt manchmal an uns stellt. Es ist ja wirklich verwunderlich, dass es nicht häufiger mal jemanden gibt, die ihre Frustration in der Tomatenabteilung des Supermarktes abreagiert oder die dem neunmalklugen Roboter zu Leibe rückt.

Neugierig bin ich den Geschichten der fünf Frauen gefolgt, die sich so spannend entwickelten, dass ich das Buch kaum weglegen konnte. Knolls Blick für die besondere Komik der einen oder anderen Situation, ihr gutes Timing für dramatische Wendungen und ihre pointierten Dialoge haben zum Lesespaß natürlich auch beigetragen. Dabei zeigt die Autoren hinter der Oberfläche ihrer Geschichten ein ganzes Spektrum aktueller gesellschaftlicher Probleme auf: Die alleinerziehende Mutter wird aufgerieben zwischen ihrem prekären Job und den Öffnungszeiten der Kita. Milka setzt sich ein für faire Arbeitsbedingungen im Tomatenanbau und findet keine Abnehmer für ihre im Vergleich zur Konkurrenz zu teuren Tomaten. Eszter macht mit Hochrisikowetten an der Börse denjenigen Unternehmen den Garaus, die sich nach ihrer Recherche als besonders gierig, unlauter und korrupt erwiesen haben. Katalin nervt die permanente technische Überwachung und Ines die inhumane Asylpolitik. Es sind die ganz normalen Zumutungen unserer Gesellschaft, die den Frauen so zusetzen.   

Einmal, nämlich als sich andere Eltern und sogar Fatima Heides Kita-Besetzung und ihren Forderungen nach längeren Öffnungszeiten anschließen, scheint so etwas zu entstehen wie dunkle Energie. Die findet der kluge Roboter Simon eigentlich viel besser als die dunkle Materie. Denn die schaffe Platz und vergrößere das Universum. Solidarität so scheint es also, könnte diese dunkle Energie sein. Und natürlich: die Liebe.

Ursula Knoll hat in diesem Jahr „Debüt 2022 – Bloggerpreis für Literatur“ gewonnen.

Ursula Knoll (2022): Lektionen in schwarzer Materie, Wien: Edition Atelier

1 Kommentar

  1. Hallo Claudia,
    danke für die Lektüre – mir scheint, dass die Autorin den Bloggerpreis erschrieben verdient hat.
    „Es sind die ganz normalen Zumutungen unserer Gesellschaft, die den Frauen so zusetzen.“
    Ja, es sind viele Zumutungen geworden, und die setzen auch mir zu.
    Solidarität und Liebe sind erhellende Materie.
    Schöne Grüße
    Bernd

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