Lesen, Romane

Nino Haratischwili: Das achte Leben (Für Brilka)

Haratischwili_2Die Rezensenten im Feuilleton und die Besprechungen auf den Blogs haben – zumeist – eines gemeinsam: Sie übertreffen sich fast gegenseitig beim euphorischen Lob über Haratischwilis Roman. Dabei sehen sie Positives auf allen Ebenen, die einen Roman ausmachen: die spannende Handlung, die über 100 Jahre reicht und uns dabei die Fährnisse nahebringt, die die Mitglieder der Familie Jaschi während des 20. Jahrhunderts in Georgien – und damit in einem kommunistischen, vom Geheimdienst eisern unterjochten Land – erleiden; die eindringliche, bunte und mitreißende Sprache, umso überzeugender, als dass Haratischwili keine Muttersprachlerin ist; die chronologisch-linear erzählten Geschichten der sechs Generationen bzw. der sieben Leben, zum Teil sich zeitlich verschränkend und immer im Kontext der geschichtlichen Ereignisse, die manchmal mehr, manchmal weniger direkten Einfluss auf die handelnden Personen haben.

Nino Haratischwili entfaltet tatsächlich ein weites Panorama: Sie entführt uns nicht nur in ganz verschiedene geografische Bereiche, nach Tbilissi in Georgien, nach Petrograd/Leningrad, nach Moskau, Prag, London, Berlin und Wien, sondern sie schickt uns auch ins 20. Jahrhundert zurück, gleich Jahrhundertwende, als in Georgien Anastasia, genannt Stasia, geboren wird, Tochter des Schokoladenfabrikanten in einer Provinzstadt. Flankiert wird ihr Erzählen immer wieder durch historische Einsprengsel, die Orientierung geben, welche politischen Entwicklungen sich gerade mehr oder weniger unheilvoll entfalten.

Der Vater Anastasias hat eine Konditorenausbildung gemacht und sein Wissen dann in Prag, später in den besten Hotels Europas vervollständigt. Nach Georgien zurückgekommen ist er mit einer Gewürzmischung zur Verfeinerung von Schokoladen und verschiedenen Ideen, nämlich eine Schokoladenmanufaktur zu eröffnen mit angeschlossenem Lokal und seine Heimatstadt zum Nizza Georgiens werden zu lassen. Die kommunistische Revolution macht seinen Ideen ein Ende, das Land erleidet einen wirtschaftlichen Stillstand, aus dem exklusiven Lokal wird schnell eine Betriebskantine, er selbst als Angestellter des nun staatseigenen Betriebs immer weiter degradiert, dafür bereitet er auch nicht mehr allmorgendlich seine exquisite Gewürzmischung vor. Und nicht nur der Vater muss seine Träume begraben, auch Stasia, die doch Balletttänzerin werden möchte, am liebsten in Paris, muss sich in ihr Schicksal fügen – und heiraten, immerhin einen zaristischen Leutnant, der mit ihr die Liebe zum Reiten teilt.

Dieser Simon Jaschi entscheidet sich in den Revolutionswirren schnell für die richtige, nämlich die rote Seite und so reist er nach Petrograd/Leningrad ab, ein paar Wochen nach der Trauung mit Stasia. In den folgenden Jahren werden Stasia und Simon kaum ein Familienleben haben, Simon ist im militärischen Auftrag mit dem Aufbau der sozialistischen Gesellschaft in Leningrad und Moskau beschäftigt, weit weg von Georgien. Damit ist ein Lebensmuster angelegt, das auch die nachfolgenden Generationen leben: Kostja, der Sohn Stasias und Simons, folgt dem Vater zur Armee, begeistert sich für die Flotte und wird später, nach dem Zweiten Weltkrieg, U-Boot-Kommandant, zuständig für den Aufbau der atomgetriebenen U-Boot-Flotte. Andro Eristawi, der Freund Kittys, der Tochter von Simon und Stasia, kollaboriert im Krieg mit der deutschen Wehrmacht, denn der russische Staat hat seine Mutter ermordet und so strebt der Sohn ein freies Georgien an, die Deutschen haben versprochen dabei zu helfen, wenn sie den Krieg gewinnen. Nach Ende des Krieges landet Andro in einem Arbeitslager, ziemlich sicher wäre er dort zu Tode gekommen, wenn nicht Christine, die so gut aussehende Schwester Stasias, ihre sexuell erzwungenen Kontakte zum Geheimdienst nun endlich für die eigene Familie hätte nutzen können.

Es gehen Risse durch die Familie, von Generation zu Generation. Immer wieder brechen alte Wunden auf, immer wieder kommen neue Probleme, seien es politische Veränderungen, seien es die ganz normalen emotionalen Verwicklungen, hinzu. Gesprochen wird konsequenterweise kaum in der Familie, zumindest nicht über die wirklich großen, die zum Teil unfassbaren Erlebnisse. Kitty zum Beispiel erzählt weder ihrer Mutter noch ihrem Bruder davon, dass sie in die Fänge des NKWD (Vorläufer des KGB) geraten sei, zwei Monate vor Ende ihrer Schwangerschaft – natürlich, ist dieser Zeitpunkt von ihrer Folterin umsichtig, denn mit großem Druckpotenzial, gewählt. Sie erzählt nichts von der tagelangen Folter, bei der sie den Aufenthaltsort Andros preisgeben soll. Sie erzählt nicht, wie ihr das Kind aus dem Bauch geschnitten worden ist, die Krankenschwester, die zu dieser Tat gezwungen wurde, dann wenigstens noch ihr Leben gerettet hat. Als dann ausgerechnet die Frau, die Folter und Mord befehligt hat, als Geliebte des Bruders Kostja wieder in Erscheinung tritt, stolpert Kitty dann folgerichtig in ein ziemliches Desaster, zusammen mit Mariam, der damaligen Krankenschwester, die – natürlich – nun die Verlobte Kostjas ist.

Aber: So wie die Personen bis ins Unermessliche abstürzen, so ergeben sich auch immer wieder glückliche Fügungen und märchenhafte Aufstiege, sie haben viele helfende Hände an ihren Seiten. Haratischwili_3Da ist Georgi, Kostjas georgischer Freund während der Ausbildung in der Marinehochschule, der später ein hoher Funktionär im KGB ist und seine schützenden Hände immer wieder über die – gestrauchelten – Familienmitglieder Jaschi breitet. Da ist Amy in London, die am Heiligabend, alle sind schon zu Hause, die Straßen leer gefegt, in einer Bar eine Frau singen hört und so begeistert ist, dass sie sie zu einer berühmten Sängerin macht. Da ist die Geschichtsprofessorin im Berlin des 21. Jahrhunderts, die an Niza besondere intellektuelle Fähigkeiten beobachtet hat und sie fördert, auch wenn Niza alles tut, um ihr die Hilfe zu verleiden.

Um das Familienpersonal herum hat Haratischwili Nebenfiguren postiert, deren Herkunft, deren Leben zumeist auch ausführlich geschildert wird und die so immer wieder andere gesellschaftliche Bereiche repräsentieren. Sie bleiben im Blick der Erzählerin, auch sie werden in ihrem Leben immer weiter begleitet, auch wenn sie sich von der Familie entfernt haben. Und manchmal treffen sich die Nachkommen sogar wieder, versuchen sich an der vor Generationen schon gescheiterten Liebesbeziehung – wiederum vergebens.

Das Schweigen in der Familie, die häufigen und dramatischen Abstürze und die meistens folgenden Wiederaufstiege, die Figuren, die sich über die Jahre und die Generationen hinweg immer wieder treffen, die verzahnten Handlungsstränge, der Freund aus der Ferne, der immer wieder hilft, manchmal nicht ganz eigennützig: Das ist auf der einen Seite unterhaltsam erzählt, hat aber in vielen Facetten durchaus etwas Seifenopernartiges.

Nicht ganz unproblematisch ist auch die Erzählhaltung. Niza, die im heutigen Berlin lebt, recherchiert die Familiengeschichte, setzt die Erzählungen der Urgroßmutter Stasia und die historischen Fakten ins Verhältnis. So versucht sie, ihrer zwölfjährigen Nichte Brilka die Familiengeschichte zu erzählen, endlich alle Geschichten aufzudecken, die jahrzehntelang verschwiegen wurden, nicht nur, um Brilka die Vergangenheit zu erklären, sondern auch, um sich letztendlich selbst zu retten. Durch dieses Erzählkonzept wird vor allem die Handlung vorangetrieben, oft wird auch große Spannung aufgebaut.

Bei diesem Erzählkonzept muss es jedoch zwangsläufig Leerstellen geben, denn bei aller Recherchekompetenz der Historikerin Niza, bei aller Farbigkeit und Fabulierlust der Urgroßmutter gibt es einfach viele Situationen, die sie nicht kennen kann, weil sie sie nicht miterlebt hat und weil sie viele Person nicht mehr fragen kann. Das ist Niza auch klar, diese Problematik thematisiert sie mehrfach, weist Brilka darauf hin, dass verschiedene Ereignisse nicht rekonstruierbar seien, dass über die Motivation verschiedener Handlungen spekuliert werden müsse.

Ich weiß nicht, Brilka, und ich werde es auch nie mit Gewissheit wissen. Aber was macht das schon? Die Vermutung ist das, was erzählenswert ist, nicht die Gewissheit. (S. 255)

Und so füllt Niza Leerstelle um Leerstelle, indem sie immer wieder ihre Vermutungen über die innersten Gedanken der Figuren erzählt und so mit ihrer Deutung die mögliche Motivation der Personen festlegt. Ihre Vermutungen gehen oft sehr weit, so weit, wie es nur ein auktorialer Erzähler schaffen kann und manchmal schrecken sie auch vor dem Klischee nicht zurück. Da trifft zum Beispiel Ida, eine Geliebte Kostjas, ein junges blindes Mädchen, das so wundervoll Klavier spielen kann und – natürlich – auch Ida heißt. Die ältere Ida gibt ihren Platz auf dem Transporter an dieses Mädchen weiter, das so aus der Stadt entkommen und überleben kann. Und als sie sich verabschieden, liest sich das dann so:

(…) und Ida spürte, dass das Mädchen sie in diesem Augenblick sah, sie wirklich ansah, sie erkannte in allem, was sie war, was sie erträumt und verfehlt, was sie geliebt und verloren, was sie gesucht und gefunden, was sie erstrebt und woran sie gescheitert war, was sie sich gewünscht und nicht erhalten hatte, was sie noch erhoffte und wovor sie sich fürchtete. (S. 336)

Nino Haratischwilis Roman also entwickelt eine weite, farbige und komplexe Geschichte der Familie Jaschi, die immer wieder die Themen Liebe, Hass, Verrat, Tod und Geister umkreist, alles vor dem politisch brisanten Hintergrund Georgiens. Trotz dieser vielen Geschichten, die sie über die 100 Jahre erzählt, trotz der immer wiederkehrenden Motive, die sie nutzt – einen Teppich, dessen Fäden für die ineinander verflochtenen Geschichten der Personen steht, die heiße Schokolade, deren Genuss kurzzeitig so glücklich macht, langfristig aber ins Unglück stürzt, das immer wiederkehrende Motiv des verlorenen Zwillings bzw. das Geschwistermotiv – kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass die doch sehr dramatische Handlung und die immer wieder so klischeehafte Deutung der Erlebniswelt der Figuren eben nicht über den ganzen Roman mit seinen 1300 Seiten trägt. So ist Marie Marie Schmidts Resümee in der ZEIT nichts hinzuzufügen:

Man vermisst die tiefe Dauer subjektiv wahrgenommener Erlebnisse und beginnt, sich dasselbe Buch ganz anders zu wünschen. So wie es sein könnte, wenn Haratischwili den Mut gehabt hätte, sich mehr darin zu verlieren, wie die Personen der Geschichte sehen, spüren, erfahren, statt zu referieren, was ihnen zustößt.

Nino Haratischwili: Das achte Leben (Für Brilka) (2014), Frankfurt, Frankfurter Verlagsanstalt

19 Kommentare

  1. Liebe Claudia,

    ich danke dir für diese wahrlich spannende Besprechung, gerade auch weil du dich „traust“, auch kritische Aspekte anzusprechen. Das Lob für dieses Buch war ja allerorts überbordend, da freue ich mich, auch mal eine differenzierte Besprechung zu lesen. Ich stecke gerade noch mitten in der Lektüre, lese immer mal wieder ein paar Seiten – parallel zu anderen Büchern, mit meinem Urteil halte ich mich noch zurück, bis ich ausgelesen habe.

    Liebe Grüße und ein wunderbares Wochenende für dich und deine Hundejungs
    Mara

    • Liebe Mara,
      vielleicht ist meine Erwartung zu hoch gewesen nach den vielen fast euphorischen Besprechungen. Vielleicht hat das aber auch gar keine Rolle gespielt. Vielleicht hat eher eine Rolle gespielt, dass ich mich kurz vorher noch einmal in „Vielleicht Etsher“ vertieft habe und mir danach die Erzählstimme des „achten Lebens“ nicht mehr glaubwürdig war. Vielleicht ist auch einfach so ein umfassender Roman, der die Geschichte eines Landes anhand einer Familie aufzeigt, insofern also mit geringem Personal auskommen muss und alle Wirrnisse und Fährnisse an diesen wenigen Personen abarbeiten muss, einfach viel zu dramatisch, manches schon von weitem voraussehbar. Jedenfalls bin ich beim Lesen schon lange nicht mehr so ungeduldig geworden wie bei diesem Roman. – Und was das „trauen“ betrifft, hast Du vollkommen recht. Es ist ja fast ein Tabubruch, ein Sakrileg, etwas Kritisches zu sagen, denn es gibt – glaube ich – keine kritische Stimme von Seiten der Blogs und auch in den Zeitungen habe ich nur zwei Besprechungen gefunden (in der ZEIT und im Spiegel), die auch Grenzen des Romans aufgezeigt haben. Ein ähnliches Phänomen ist mir vor ein paar Jahren bei Roberto Bolanos „2666“ begegnet. Da fällt mir doch glatt wieder Zschokke ein, der in seinen Mails aus Venedig auch das Bonmot seines Verlegers berichtet, dass das bezahlte Feuilleton nicht mehr als fünf Stunden auf einen Romane verwende, alles andere wäre nicht mehr wirtschaftlich :-). Ich bin gespannt auf Dein Wertungen und wünsche natürlich auch Dir und Bandit ein wunderschönes Wochenende.
      Viele Grüße, Claudia
      PS: Die Hundejungs haben sich heute ganz wunderbar im Schnee amüsiert. Der ist aber morgen wahrscheinlich schon wieder weg.

  2. Große Erleichterung aus völlig eigensüchtigen Motiven 🙂 Dank deiner Besprechung lasse ich die Hände davon. Dann lieber „Vielleicht Esther“. Aber zur Zeit lese ich ohnehin im Schneckentempo, vielleicht sollte ich demnächst auf Kurzgeschichten und Lyrik umsteigen. Winterliche Samstagabendgrüße, Anna

    • Liebe Anna,
      nachdem Birgit SätzeundSchätze gerade in dieser Woche Arno Schmidt und seine Lese-Buchhaltung veröffentlicht hat, sollten wir tatsächlich genauer hinschauen, womit wir so unsere Lesezeit verbringen. Und da spricht alles für „Vielleicht Etsher“. Wenn Dich jetzt allerdings eine schwere Erkältung überkommt und Dich länger ans Bett fesselt und Dir ganz langweilig wird, dann wird das „achte Leben“ das richtige Buch sein, ein spannender Schmöker – vorausgesetzt, Du bist kräftig genug, es zu halten :-). Aber Du hast ja gerade noch zwei Bände italienische Lektüre vor Dir!
      Auch aus dem Bergischen Land viele winterliche Grüße (soll morgen aber schon wieder vorbei sein, der Winter), Claudia

  3. Liebe Claudia, ich wollte genau deckungsgleich wie Mara und Anna schreiben: Die durchwegs euphorischen Buchbesprechungen waren fast erschlagend, so freut man sich beinahe über eine kritische und differenzierte Besprechung.Auch weil ich reingelesen habe, aber dann irgendwie den Eindruck hatte – sicher ein sehr lesbarer Schmöker oder auch besonders dickes Flutschbuch, das noch warten kann. Vielleicht später mal, wenn ich erkältet bin 🙂 Einstweilen halte ich es stark mit Arno Schmidt. Dir eine gute Besserung! LG Birgit

    • Liebe Birgit,
      ja, wenn Du selbst reingelesen und den Roman erst einmal zur Seite gelegt hast, wirst Du auch Gründe gehabt haben… Die Idee des Romans – eine Familie, ein Haus, die verschiedenen Familienmitglieder und ihre Beziehungen stehen für die gesellschaftlichen Schichten – erinnerte mich an Allendes „Geisterhaus“. Eigentlich ist die Versuchung sehr groß, dort noch einmal nachzulesen, um zu schauen, ob ich ihn mittlerweile auch mit ganz anderen Augen sehe. Aber schon kommt wieder der mahnende Arno Schmidt um die Ecke…
      Einen schönen Sonntag wünscht Claudia

  4. Das Buch ist eines der besten beiden Bücher, die ich letztes Jahr gelesen haben. Es war herausragend. Bitte nicht die Finger davon lassen. Eine wundervolle und passende Rezension gibt es zu Das Achte Leben bei Masuko13wordpress.com.

    • Es gibt eben ganz viele Geschmäcker und ganz viele unterschiedliche Erwartungen an den Roman. Nicht nur masuko13 hat ihn sehr positiv vorgestellt. Auch die Klappentexterin, Sophie auf ihrem Blog Literatourismus und die Schönen Seiten sind sehr angetan von der Lektürte. Dort gibt es auch jeweils Links zu weiteren Besprechungen. Und am besten: selber lesen und ein eigenes Bild vom Roman machen!
      Viele Grüße, Claudia

      • Ich habe das Buch wie gesagt bereits gelesen und ich finde, dass es schwer ist Kritik zu üben. Denn jedes Buch macht Arbeit und es hat eine lange Zeit hinter sich, die, die der Autor dazu brauchte. Ich bekomme auch Bücher von Verlagen und der Roman gefällt mir nicht. Dann lehne ich dafür die Rezension ab. Ich stehe hinter einem Buch, wenn ich es auf öffentlichen Blogs/Plattformen vorstelle. Dies ist meine Meinung, sicher sind Geschmäcker verschieden und mir gefällt auch nicht alles, aber ich sehe kein Grund dies öffentlich zu machen. Denn wer kritisiert schon und hat selbst schon Bücher rausgebracht oder schreibt selbst? Kaum jemand. Das finde ich immer zu bedenken.

      • Deine Haltung zu Ende gedacht, würde ja aber bedeuten, dass es keine kritische Strimme zu Romanen geben darf. Wenn ich da an Marcel Reich-Ranicki denke…
        Es würde in der Konsequenz bedeuten, dass nur noch positive Stimmen zu einem Roman zu lesen wären, diejenigen Stimmen, denen der Roman nicht gefällt, würden sich selbst Zensur auferlegen und nichts schreiben. Eine ausgewogenen, eine vielschichtige Sicht auf Romane gäbe es dann nicht mehr. Das ist mir zu wenig. Ich lese zum Beispiel sehr gerne die ZEIT, weil die Redaktion je nach Thema gleich auf der Titelseite zwei Artikel zu einem Thema veröffentlicht: einen pro, einen contra. Das ist für mich die Aufgabe des Publizierens: ein Theme aus verschiedenen Perspektiven sehen, positiv genauso wie negativ. Das sollte alles nicht unter die Gürtellinie zielen, ein Argument ist zu begründen – deshalb geht mir Reich-Ranickis Polemik manchmal auch zu weit. Aber erst aus den verschiedenen Perspektiven, aus dem Abwägen der einen Argumente mit den anderen, ergibt sich für den Leser ein vielschichtiges Bild.
        Und nur positiv zu berichten, würde auch den Marketing-Kampagnen der Verlage Tür und Tor öffnen. Wir sollten da alle mitwirken, differenziert und kontrovers zu sein, streitbar eben.
        Und: Der gerade mit der Auszeichnung als bester Trainer der Welt bedachte Joachim Löw ist selbst nie als Spieler Weltmeister gerworden und hat es doch verstanden, eine Mannschaft dahin zu bringen. Die meisten hochangesehenen Literaturkritiker haben nie selbst einen Roman geschrieben und ihre Kritik hat doch einen Wert für uns alle.
        Nein, nur um posiitve Besprechungen, nur um Inhaltswiedergaben mit Lob, kann es auch auf den Blogs nicht gehen.
        Viele Grüße, Claudia

      • Nun ich finde, die Vergleiche hinken auf beiden Füßen. Wie schon erwähnte sollten viele bedenken, wie es ist Bücher zu schreiben oder Texte usw. Mit Marcel Reich Ranicki kann sicher niemand von uns vergleichen. Er war ein renomierter Literaturkritiker und hat viele Sachen rausgebracht. Manchmal hat er Bücher total zerrissen, was ich auch überhaupt nicht gut fand. Aber genau betrachtet gibt es kaum Literaturkritiker und das zu recht. Auch der Vergleich mit Löw ist für mich nicht passend. Er ist nun mal Trainer und hat sein Ziel absolut geschafft. Ich meine mit meinen Kommentaren nicht, dass Kritik oder verschiedene Seiten der Betrachtung eines Buch schlecht sind, aber ich finde es auf Blogs zum Beispiel nicht gut. Dann müsste ich ja alle Bücher rezensieren, die ich las. Ich empfehle Bücher und möchte sie nicht schlecht machen. Ich überlasse es wirklichen Stimmen Kritik zu üben. Viele Buchhändler/innen usw. haben sicher noch ein anderes Verständnis, ob man sich gegen Bücher stellt usw. Deshalb unterscheiden sich die Blogs auch so. Dennoch die Meinung ist frei. 🙂

  5. Liebe Claudia,
    deine und Marie Schmidts Einwände wiegen schwer. Schon bei einer Biografie käme es (mir) vor allem darauf an, wie die beschriebenen Personen das, was ihnen zustieß, erlebt, gefühlt, reflektiert… haben. Wieviel mehr gilt dies für einen Roman. Mit nicht unerheblicher Erleichterung (1300-Seiten-Wälzer sind derzeit generell nicht meine Sache) werde auch ich einstweilen die Hände von dem Buch lassen. 😉

    • Liebe Maren,
      dabei repräsentiere ich hier durchaus eine Minderheit, was die Nicht-Begeisterung betrifft. Das muss ich noch einmal festhalten. Viele andere sehen den Roman ja ganz, ganz anders. Aber bei 1300 Seiten, da hast Du recht, ist es schon sehr schwer durchzuhalten, wenn man nicht so begeistert ist.
      Einen schönen Sonntag, Claudia

  6. ,freue mich sehr über diese Besprechung. Ich habe das Buch angelesen, hatte aber auch das Gefühl das es eventuell etwas zur seifenoper tendieren könnte. Was ja auch was hat- nur nicht zu meiner momentanen Stimmungslage passt. Vielen Dank für diese Besprechung.

  7. Liebe Claudia,
    ehrlich gesagt, Deine Besprechung war meine letzte Hoffnung nach all den lobenden und begeisterten Blogbeiträgen, die ich bisher gelesen habe, doch noch um diese 1300 Seiten rumzukommen – und was soll ich sagen? Hat geklappt! Puh, Glück gehabt…
    Aber Scherz beiseite, wie immer hast Du das Buch grossartig vorgestellt und quasi seziert und ich werde das, was ich sowieso vorhatte, nämlich dieses erschreckend dicke Buch erstmal nicht zu lesen, mit einem deutlichbesseren Gefühl tun kann…
    Danke Dir und liebe Grüsse
    Kai

    • Lieber Kai,
      aus meiner Sicht gibt es tatsächlich andere, lohnenswertere Leseprojekte. Es ist aber ja immer auch eine Frage, warum man liest und was man von der Literatur erwartet. Und ich habe mich wirklich gefragt bei meiner Lektüre des „Achten lebens“, warum ich nicht so begeistert bin wie alle anderen, die in Blogs, ja auch im Feuilleton, so voll des Lobes waren. Und so musste ich ja meine Position, die erst einmal so ein Gefühl war, mit Argumenten zu begründen versuchen. Demnächst kommen aber wieder Empfehlungen, Bücher, die toll gschrieben und mit ihrem inhaltlichen Schwerpunkt genau hineinzielen in unserer gegenwärtigen Probleme. Wirst schon sehen… :-).
      Viele Grüße, Claudia

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