Lesen, Romane

Hans-Ulrich Treichel: Tagesanbruch

Da sitzt eine Mutter auf dem Boden vor dem Bett ihres Sohnes, seinen Kopf in ihren Schoß gebettet. Sie hat unruhig geschlafen, hat wohl schon geahnt, dass er in dieser Nacht sterben wird. So ist sie früh aufgestanden, noch im Dunkeln, um nach ihm zu schauen und hat ihn leblos vor seinem Bett gefunden. Er ist nicht einfach eingeschlafen, friedlich, wie man so sagt, sondern hat sich vor das Bett gesetzt, in der Hoffnung wohl, dass ihm dort sitzend das Atmen leichter falle. Die Mutter hat sich neben ihn gesetzt und wartet auf den Sonnenaufgang, erst dann will sie den Arzt rufen.

Es ist sicherlich immer eine ungeheuerliche Situation, wenn ein Kind vor den Eltern stirbt. Auch in diesem Fall ist das so, auch wenn der Sohn erwachsen ist und die Mutter ihn seit einem Jahr pflegt. Aber aus einem ganz anderen Grund, als man erwartet. Denn nun, nach seinem Tod, kann die Mutter ihm endlich das alles erzählen, was sie ihm immer verschwiegen hat, kann endlich ihr Leben erzählen, wie sie es ihm nie erzählt hat.

Auf den ersten Blick lebt sie das nahezu typische Leben der Menschen der Kriegs- und Nachkriegszeit. Zusammen mit ihrem Mann, der im Krieg einen Arm verloren hat und deshalb nicht mehr kämpfen musste, macht sie sich gegen Ende des Krieges aus Polen auf den Weg nach Westen. Sie schließen sich einem großen Flüchtlingstreck an und versuchen, den nachrückenden russischen Truppen zu entkommen. Auch wenn sie kurz doch in die Hände der russischen Soldaten geraten, schaffen sie es gemeinsam in den Westen. Gemeinsam gründen sie ein Geschäft mit Heimtextilien und Arbeitskleidung und gelangen zu bescheidenem Wohlstand. Der Sohn, im Hochsommer nach der Flucht geboren, besucht das Gymnasium, später studiert er und arbeitet im akademischen Mittelbau der Universität. Auf den ersten Blick also eine typische Geschichte aus der Wirtschaftswunderzeit der jungen Bundesrepublik, die Geschichte vom Anpacken und Aufbauen, die Geschichte von Fleiß und Aufstieg.

Das aber ist nur der erste Blick, der Blick sozusagen von außen auf diese Flüchtlingsfamilie, die es doch irgendwie recht schnell „schafft“. Tief verborgen in der Mutter aber gibt es eine ganz andere Geschichte. Nämlich eine Geschichte von Scham und Schande, eine Geschichte von gescheiterten Träumen, eine Geschichte vom Funktionieren-Müssen – und vom Schweigen über all diese traumatischen Erlebnisse, über die eigenen Wünsche und die Notwendigkeiten des Lebens.

„Man muss nicht alles seinen Kindern erzählen“, sagt sie dem Sohn zu Beginn ihres Monologes, als sie endlich sprechen kann. „Man muss nicht alles mit seinen Kindern besprechen. Man muss auch schweigen können“, ja, „es gibt Dinge, die verschweigt man sogar den Toten.“ So hat sie es gelernt von den Eltern, die auch immer geschwiegen haben, so hält sie es bis heute, wenn sie dem kranken Sohn während des letzten Jahres nichts von ihrem Leben erzählt.

Erst nun, da er tot ist, kann sie es wagen, alles, fast alles, zu erzählen. Fast wirkt es, als habe sie diesen Plan schon vorher gefasst, fast wirkt es, als sei sie gut vorbereitet auf ihre Lebensbeichte, die sie zunächst mündlich vorträgt, später aber im Wohnzimmer auf eigens gekauftes Papier niederschreibt:

„Ich will ehrlich sein. Es hilft, ehrlich zu sein und alles deutlich auszusprechen. Wenn ich alles deutlich ausspreche, hat es keine Macht mehr über mich. (…) Ich weiß, dass der Leichnam meines Sohnes nicht mehr mein Sohn ist. Ich weiß noch viel mehr. Ich werde alles aussprechen. Alles aussprechen hilft. Noch bevor der Tag beginnt, werde ich alles ausgesprochen haben, wird alles erzählt sein. Ich könnte es auch aufschreiben. Der Schreibblock liegt schon lange bereit.“ (S. 53-54)

Und so erzählt sie von ihrem Mann, dem seit dem Krieg der rechte Arm fehlt, dem sie beim Anziehen helfen muss, denn wer kann schon mit einer Hand die Krawatte binden, den Gürtel schließen. Der später gar ein Korsett braucht „so ein Männerkorsett“, weil Rücken und Bauch keine Stabilität mehr haben. Der ehemalige Bauer, der nun als Geschäftsmann immer auf seine Kleidung achtet, ein stattlicher Mann, trotz allem. Das Sortiment aber von den Heimtextilien und der Arbeitsbekleidung auf Damen- und Herrenoberbekleidung umzustellen, das will sie ihrem Mann nicht zumuten, er könnte ja mit dem einen Arm nie in der Umkleide helfen.

Die Mutter liebt ihren Mann, sie erzählt es dem Sohn ganz frei heraus. Sie erzählt aber auch von ihren Sonntagen, die sie regelmäßig im ungeheizten Wohnzimmer verbracht hat, um die Buchführung für das Geschäft zu machen: „Das Wohnzimmer war mein Revier und mein Refugium. Hier hatte ich Ruhe.“ Fast nebenbei erwähnt sie das und wählt doch die Worte „Revier“ und „Refugium“, das Wohnzimmer also, wenn auch kalt, als eigenes Zimmer. Und dass das Leben als Ladenbesitzerin eben nicht Erfüllung für sie gewesen ist, das berichtet sie später, wenn sie mehrmals davon spricht, wie gerne sie Lehrerin geworden wäre, aber das ist für ein Bauernmädchen damals eben nicht vorgesehen gewesen.

Das mühsame Arbeiten in den Nachkriegsjahren aber wird noch mehr überschattet durch dieses eine Erlebnis auf der Flucht, als drei russische Soldaten sie und ihren Mann aus dem Flüchtlingstreck auswählen, vielleicht des fehlenden Armes wegen, sie immer weiter in den Wald führen und die Mutter dann vor den Augen des hilflosen Ehemannes auf dem kalten Waldboden vergewaltigen. Dass der eine, der mit ihnen danach noch weiter in den Wald geht, um sie zu erschießen, dann doch nur in die Luft schießt und ihnen so das Leben schenkt, empfindet sie so, als habe er ihnen das Leben „vor die Füße geworfen“. Geblieben ist ein innerer Schmerz, ein Fremdsein, das beide zeit ihres Lebens nicht mehr ablegen können.

Indem Ulrich Treichel die Perspektive der Mutter für sein Erzählen wählt, bekommt das oft scheinbar so gefühllose und kalte Leben in den Nachkriegsfamilien einen ganz fassbaren Kontext. Und dabei geht das Konzept, das Erzählen der Lebensgeschichte nämlich in der Zeit des Tagesanbruchs zu verorten, in der Zeit zwischen der Dunkelheit des frühen Tages bis zum hellen Morgen, auf. Auch wenn die Mutter jetzt erst, nachdem ihre Familie tot ist, die verschlossenen inneren Kammern öffnen kann, so kann sie vielleicht bei „Tagesanbruch“ ein endlich befreites Leben führen.

Und Treichels Mutter nutzt eine sehr poetische und eine sehr vorsichtige Sprache, um in diesem kurzen Zwischenraum zu erzählen. Entstanden ist ein verknappter Text, bei dem jedes Wort eine Wirkung entfaltet, ein Text der, da die Lesezeit der Erzählzeit entspricht, eine ganz besondere Unmittelbarkeit erschafft. Viele Gefühle kann sie gar nicht ausdrücken, erzählt vielmehr sachlich, abwägend, bleibt bei den Fakten. Oft sind aber die Fakten gleichsam auch Metaphern für die emotionale Verfasstheit des Ehepaars, für die vertanen Chancen, die fehlgeschlagenen Hoffnungen: Über Wärme und Kälte spricht die Mutter zu Beginn immer wieder, das Korsett des Vaters steht für seine Haltlosigkeit in der Welt, die Musik zeigt stellvertretend die Entfremdung zwischen Eltern und Sohn, die wenigen Bilder in der Wohnung verweisen auf die unerfüllten Hoffnungen.

Die (schreibenden) Söhne sind es nun also, die aufdecken, zu welcher Bitternis der Krieg geführt hat: Hanns-Josef Ortheil erzählt in „Der Stift und das Papier“ von den während der Kriegszeit verlorenen Söhnen, die die Mutter in ihrer Trauer für lange Zeit verstummen ließ; Didier Eribons Mutter, aus der Arbeiterschicht kommend, hätte zum Gymnasium gehen dürfen, musste dann aber mit ihrer Familie wegen der anrückenden deutschen Armee aufs Land fliehen; nach der Rückkehr war die Bildungschance vertan; und Ulrich Treichel gibt der Mutter gar eine eigene Stimme, lässt sie erzählen und die richtigen Worte finden, um sich dem Ungeheuren langsam und assoziativ zu nähern. Diese Mutter, namenlos wie der Mann und der Sohn auch, erzählt so das eigene (Er-)Leben stellvertretend auch für die vielen anderen Flüchtlingsmütter. Und diese Mutter gibt mit ihrem Erzählen einen tiefen und intensiven Einblick in die Erlebnis- und Gefühlswelt so vieler Menschen dieser Generation.

Es ist eine traurige Geschichte, weil sich der Mutter ja, neben den Traumata, die sie begleiten und die zu diesem emotionalen Ersterben führten, kaum eigene Handlungsoptionen bieten, sie in diesem Leben gefangen ist, alleine die Sonntage im kalten Wohnzimmer, können ihr kleine Fluchten bescheren. Und trotz allem hat diese Mutter sich auch Stolz und Würde bewahrt und eine besondere innere Stärke.

Hans- Ulrich Treichel (2016): Tagesanbruch, Berlin, Suhrkamp Verlag

11 Kommentare

  1. Schöne Besprechung, Claudia!
    Ich habe kürzlich in einem Interview mit Treichel erfahren, dass es tatsächlich eine autobiografische Geschichte ist und dass er erst nach dem Tod seiner Eltern von diesen Ereignissen durch eine Verwandte erfahren hat. Es hat lange gedauert, bis er aus der Perspektive der Mutter dieses Buch schreiben konnte, sagte er.

    • Liebe Marina,
      ich habe auch schon an die autobiografischen Bezüge gedacht. Und kann mir sehr gut vorstellen, dass Treichel über den Stoff nicht schreiben konnte, solange die Eltern leben.- Aber über den autobiografischen Anteil hinaus schildert Treichel ja Erlebnisse und Verhaltensweisen, die bei viele Menschen der Nachkriegsgenation beobachtbar waren. Das ist ja vor allem das Schweigen. Selbst meine Eltern, die die Kriesgzeit als Kinder erlebt haben, haben nie über ihre unmittelbaren Erlebnisse und ihre Ängste in den Bombennächten beispielsweise gesprochen oder auch vom Hunger. Psychoanalytische Ansätze kannte man eben gar nicht, es wurde alles tief im Inneren verschlossen. Und das beeinflusst dann auch noch die Kinder. Hier nun die Mutter zu hören, bringt ja ganz viel Klarheit – und Verständnis. Das hat mir sehr gut gefallen – wie Dir ja auch.
      Viele Grüße, Claudia

  2. Das steht jetzt auf meiner Bücherwunschliste. Nachdem ich mich mit den Kriegskindern und Kriegsenkeln beschäftigt habe passt das gut.

  3. Wieder einmal fällt mir auf, wie gut der Ton deiner Besprechung zu dem des Buchs passt, liebe Claudia. Diese langsame ruhige Annäherung an das ganz und gar Ungeheuerliche. Ich selbst habe während biografischer Gespräche zwei Mal eine ähnliche Geschichte erzählt bekommen, ebenfalls bedeckt von Jahrzehnten des Schweigens. Ja, es stimmt, was die Mutter auf das eigens gekaufte Papier schreibt: „Alles aussprechen hilft.“ Notfalls nach Jahrzehnten.

    • Liebe Maren,
      vielen Dank für Deine netten Worte zur Besprechung. Hast Du denn Treichels „Tagesanbruch“ auch schon gelesen? – Es ist ja schade, dass die Mutter ihre Scham erst überwinden kann, als Mann und Sohn tot sind. Was hätte passieren können, wenn sie hätte vorher sprechen können? Wie hätten sich die Beziehungen in der Familie noch ändern können? Vielleicht hätte auch die Fremdheit zwischen Mutter und Sohn überwunden werden können. Aber diese Generation der Mutter, das kommt auch immer wieder bei Gesprächen mit Freunden hoch, hat überhaupt nicht gelernt, sich sprechend von den Traumata befreien zu können. Da haben wir Jüngeren mit einem anderen Verständnis der Hilfsangebote der Psychotherapie es sicherlich wesentlich leichter. Viele Freunde erzählen, dass – gerade die Mütter – erst im Alters- oder Pflegeheim anfangen, von Kriegsgräuel zu erzählen, dann, wenn Alter und Tüteligkeit die Mauern der Verschweigens einreißen. Und auf einmal sitzen die „Kinder“ da und hören fassungslos Kriegsgeschichten, die sie nie gehört und nie vermutet hätten. Ein Leban lang haben die Eltern aber die Idee angehangen, diese Erlebnisse möglichst zu verdrängen; wer drüber spricht, macht es nur schlimmer. Immerhin: Treichels Roman-Mutter kann endlich sprechen/schreiben. Vielleicht ist das für sie noch einmal ein neuer „Tag(esanbruch)“. – Ich stelle es mir ja sehr schwer vor, diese Geschichte, wenn sie denn vis-á-vis erzählt wird, auszuhalten. Und wenn Du sie schon zweimal so oder ähnlich gehört hast, dann kann man sich ja leicht vorstellen, wie oft sie vorgekommen ist: Vergewltigung als uraltes Mittel des Krieges.
      Viele Grüße (in die schönen Berge?), Claudia

      • Nein, ich habe den „Tagesanbruch“ noch nicht gelesen, Claudia, aber ich habe ihn schon hier liegen und ein bisschen hineingeschnuppert. In der Tat handelt es sich um alles andere als ein Einzelschicksal. Als ich das erste Mal direkt konfrontiert war – eine damals 85Jährige erzählte mir, wie sie kurz vor Kriegsende als junge Frau Opfer einer Massenvergewaltigung durch marodierende Russen wurde – blieb mir schier die Luft weg. Sie war damals hochschwanger und hatte sich wie andere alleinstehende Frauen frühzeitig in ein Krankenhaus begeben, wo sie sich in Sicherheit wähnte. Ein Irrtum, wie sich herausstellte. 60 unfassbare Jahre lang erzählte sie niemandem davon. Nicht einmal ihrer Mutter hatte sie sich anvertrauen mögen. („Die hätte doch nur gesagt, das hast du wohl provoziert.“) Als Angehörige des Volks der Täter standen ihr Klagen ohnehin nicht zu, fand sie, und es gab ja auch genug zu tun. („Man musste nach vorne schauen.“) So vergingen die Jahre. Ich nehme an, du kennst die sehr lesenswerten Bücher von Sabine Bode über Kriegskinder und Kriegsenkel, in denen sie sich besonders auch mit dem Schweigen und seinen Auswirkungen auf die nachfolgenden Generationen beschäftigt?
        Danke nochmal für die schöne Rezension – und einen schönen Abend!

      • Puh, das ist eine beklemmende Geschichte, die Du erzählst. Beklemmend auch wegen der Vorwürfe, die ausgerechnet der Frau gemacht werden (Provokation) und ihr, selbst in solchen Kriegszeiten, die Schuld unterschieben. Das ist ungeheuerlich! Dass die andere Facette, zum Tätervolk zu gehören, zum Schweigen führt, ist da schon ein bisschen nachvollziehbarer: ich habe erst durch Sabine Bodes Bücher (nicht gelesen, aber Beiträge im Fernsehen gesehen und von einem einfrigen Leser meines Litertaurclubs ausführlich unterrichtet) überhaupt wahrgenommen, dass die traumatischen Kriegserfahrungen Jahre gebraucht haben, bis sie überhaupt erzählt wurden. Wenn selbst Opfer des Kriegs und vor allem des Holocausts nach dem Krieg nicht mehr gehört wurden, weil alle ein „normales“ Leben wollten, weil auch Opfergeschichten an Zeiten erinnerten, die man lieber vergessen wollte (aus der eigenen Schuld heraus), so wie Boris Cyrulnik das in seinem Buch erzählt, dann kann ich mir gut vorstellen, dass die „Opfer des Tätervolks“ erst recht geschwiegen haben. Und erst im hohen Alter den Mut zum Reden finden. So viel verlorene Zeit! – Dass das Hören solcher Geschichten sehr schwer zu ertragen ist, das kann ich mir sehr gut vorstellen.
        Viele Grüße, Claudia

  4. Hallo Claudia, Treichel ist einer meiner absoluten Lese-Favoriten. Tagesanbruch hatte ich gerade am Wochenende beendet. Finde Deinen Text dazu super!

    • Viele Dank für den Kommentar. Ich habe Treichel erst mit diesem Roman entdeckt, habe jetzt also noch jede Menge nachzulesen.

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