Lesen, Romane

Martin Kordiċ: Wie ich mir das Glück vorstelle

KordicEines bleibt zunächst festzuhalten: Wer meint, vom Buchcover des Romans, auf den Inhalt der Geschichte Martins Kordiċs schließen zu können, der irrt, denn die lustig purzelnden Buchstaben und der mit schief gelegtem Kopf freundliche blickende Vogel lassen nicht darauf schließen, dass der Leser dem kleinen Jungen Viktor in die Auswirkungen des Bosnienkrieges folgt. Indem er Viktor begleitet, der bei einer Umsiedlung in der  ethnisch geteilten Stadt seine Familie verliert,  lernt der Leser hautnah, was es heißt, zumal für ein Kind, in einer vom Bürgerkrieg zerstörten Stadt zu leben.

Schon bei Viktors Geburt läuft es überhaupt nicht glatt. Allein der beherzte Eingriff der Großmutter rettet das Leben des Neugeborenen, ein krummer Rücken aber bleibt. So muss Viktor ein Korsett tragen, Rückenspinne genannt, das ständig scheuert und zu lästigen nässenden Wunden führt. Durch seine körperlichen Beschädigungen wird Viktor zum Außenseiter, zum Gespött der Kinder und Erwachsenen, die ihn gerne mal Kretin nennen.  In den Kindergarten geht er nur zwei Wochen, lieber sitzt er bei der Mutter in der Küche. Sie gibt ihm Papier und Stifte, so fängt er an zu malen.

Und wenn sie längere Besorgungen erledigt, dann wartet Viktor in der Bibliothek auf sie, liest seine ersten Comics, lässt sich von den Bibliothekarinnen die Geschichte vom Jungen vorlesen, der sich so in ein Buch vertieft, dass er darin verschwindet, und schreibt dann auch sein erstes eigenes Buch, indem er sechs Bilder malt, seiner Mutter dazu eine Geschichte diktiert und sein Werk dann in der Bibliothek zum Ausleihen einstellt. An dem Tag, an dem Viktor in die Schule kommt und der Direktor die Kinder begrüßt „Ihr seid die Zukunft, ihr seit das Land der Völker.“ verkündet abends im Fernseher der Nachrichtensprecher: „Das Land der Völker gibt es nicht mehr.“ Es beginnen die Vorbereitungen zum Großen Krieg.

Martin Kordiċ erzählt in seinem Roman ein Stück Familiengeschichte. Sein Vater stammt aus Bosnien. Gerade wollte die Familie dorthin ziehen, als der Krieg ausbricht und statt den eigenen Umzug in die Wege zu leiten, kommen die Verwandten nach Deutschland und finden hier erst einmal Unterschlupf auf ihrer Flucht vor dem Krieg. So gehörte das Erzählen über den Krieg zum unmittelbaren Erleben Martin Kordiċs: „Seit ich denken kann, ist das Thema. Es war immer da, weil meine Verwandten da waren.“ [1] Und so war ihm auch schnell klar, dass er darüber in einem Roman, ja,  seinem ersten sogar, schreiben muss: „Hätte ich zuerst über etwas anderes geschrieben, hätte ich gedacht: Sterben kann ich jetzt immer noch nicht, weil: Das muss ich noch machen.“ [1]

Und mit der Figur des Viktor findet Kordiċ einen ganz besonderen, einen ganz eigenen Blick auf den Krieg. Viktor läuft allein mit nichts mehr als ein paar geretteten Gegenständen aus seinem alten Leben durch die zerstörte Stadt.  Er erzählt nur, was er gerade macht und sieht und das in einer Sprache, die einem Grundschulkind angemessen ist. Viktor ist nicht altklug, viele Dinge begreift er nicht, und so umschreibt er einfach nur, was er sieht. Er reflektiert nie, er bewertet nicht, er drückt überhaupt keine Gefühle aus. Alles, was er erzählt, erzählt er in der Gegenwartsform, egal, ob es tatsächlich gerade passiert, gestern passiert ist oder eine Geschichte ist, die schon vor ein paar Jahre geschehen ist.

Diese Art des Erzählens ist kein bisschen maniriert, merkwürdig oder artifiziell, sondern stimmig und passend zur Situation Viktors. Und sie entfaltet eine Wirkung, der sich der Leser nicht entziehen kann. Von Anfang an liegt eine ganz eigene Atmosphäre über Viktors Erzählung, eine Mischung aus Melancholie und auch Magie. Und da der Leser nur die Handlung in der Sprache Viktors erfährt steht er ständig auf schwankendem Boden: Nie weiß er, ob Viktor in Gefahr ist, ob alles gut geht, wie er sich fühlt, was er zu tun plant, ob er es schafft zu überleben, er weiß nicht einmal, ob das, was Viktor ihm erzählt, wahr und richtig ist, denn er erzählt ja nicht nur von seinem Leben, in vielen Situationen vielleicht auch von seiner Schuld, sondern immer wieder von Momenten, die eigentlich nicht sein können, die fantastisch wirken, ja magisch:

Um uns herum sind nur Felsen und Himmel. Wir fahren viele Kurven. Wir kommen durch ein paar Dörfer. Da sind überall noch zwei oder drei Häuser. Manche haben keine Dächer mehr. In einem haus kann ich einen Storch erkennen. Dahinter bei den abgebrannten Ställen sehe ich drei Elefanten, die einen Garten umgraben. Das glaubst Du mir nicht? Aber das ist die Wahrheit. Da stehen drei Elefanten und graben den Garten um und die kümmern sich überhaupt nicht um den Storch, der sie beobachtet. (S. 29)

Viktor geht zwar auf die richtige Schule und muss dafür immer über die Brücke auf die andere Seite des Flusses gehen, aber seine Familie wohnt auf der falschen Seite. Acht christliche Familien, zu denen auch die Familie Viktors gehört, wohnen in einem Wohnblock zusammen mit zweiundzwanzig muslimischen Familien. Freundschaften zwischen den Kindern, zwischen den Müttern, können im Laufe des Krieges nur noch heimlich gepflegt werden oder zerbrechen gar und gehen in mehr oder weniger offene Feindschaften über. Viktor erzählt in seiner Art, wie Ausgrenzung und Gewalt immer mehr den Alltag beherrschen.  Einmal macht Viktors Klasse einen Ausflug auf die andere Seite des Flusses, auf die muslimische Seite. Ein Junge, ein Moslem, wird auf perfide Art gezwungen, auf die Scheibe der Boutique zu spucken, in der seine Mutter arbeitet:

Wir bleiben alle stehen. Der Lehrer flüstert dem Kind, das zwei Reihen vor mir steht, etwas zu und ich wünsche mir, dass der Lehrer mir das auch zuflüstert. Das Kind geht zu dem Kind, das vor der Boutique stehenbleibt.

Das Kind sagt: Wir gehen erst weiter, wenn du auf das Schaufenster spuckst. Spuckst du nicht auf das Schaufenster, bekommen wir alle ein Strafarbeit. (S. 90)

Und dann kommt der Tag, an dem Viktors Familie, die sich vorher geweigert hat, die Wohnung und den Stadtteil zu verlassen, durch das Militär aus der Wohnung vertrieben wird. Weil Viktor unbedingt eine Nachricht für seinen Vater hinterlassen will, wird er von seiner Familie getrennt. Nonnen nehmen ihn später mit, bei ihnen kommt er unter, muss ihre Gebete lernen und wird dann in ihre Gemeinschaft aufgenommen. Weil er nicht körperlich arbeiten kann, darf er eine Art Tagebuch führen, in das er aber auch eintragen soll, welches der Kinder seinen Aufgaben nicht nachkommt. Später soll Viktor am nahegelegenen Wallfahrtsort, hoch oben auf dem Berg, Wasser an die Pilger verteilen und dafür Spenden sammeln. Statt dessen verbringt  er die Zeit bei Bubka, dem Busfahrer, der auch einen Kiosk betreibt und ihm abends Geld zusteckt.

Als dann auch das Kloster der Nonnen angegriffen wird, er vermeintlich unter den Toten ist, zieht er mit seiner wenigen Habe zurück in die Stadt. Auf dem Weg schließt sich ihm ein Hund an, den er Tango nennt, und er wohnt beim einbeinigen Dschib, der ihm zunächst beim Hütchenspielen seine Habseligkeiten abluchst. Der einbeinige Dschib schenkt ihm ein Heft und einen Bleistift und so beginnt Viktor seine – oder eine – Geschichte aufzuschreiben. Die darf nur so lange werden, wie er Seiten im Heft hat. Jeden Abend schreibt er und für jede vollgeschrieben Seite malt er einen Elefanten an die Wand.

Das Schreiben, das Erzählen also ist wichtig für Viktor, die Elefanten begleiten ihn, seit er sie bei einem anderen Klassenausflug in den Zoo gesehen und Freundschaft mit ihnen geschlossen hat. Zum mittlerweile natürlich auch zerstörten Zoo zieht es ihn immer wieder, hier setzt er das tote Mädchen ab, das ein paar Tage bei ihm und dem einbeinigen Dschib gelebt hat, hier trifft er die blinde Alte, die seine Rückenwunden versorgt, ihm Medikamente für den einbeinigen Dschib mitgibt, der immer stärker hustet – und einen Brief seiner Oma.

Viktor also schafft es zu überleben in der vom Krieg zerstörten Stadt, indem er sich ans Erzählen hält, an die Literatur also, und an seine schönen Erinnerungen aus der Kindheit. Am Ende seiner Geschichte erzählt er uns dann auch, wie er sich das Glück vorstellt und das ist dann das Kapitel, zu dem auch das Buchcover passt.

Martin Kordiċ hat mit seinem Debütroman eine eigenwillige, verstörende, sehr komplexe und wunderbare Geschichte über einen Jungen im Krieg erzählt, so wie sie sicher gelten kann für die vielen Kinder in den Kriegs- und Bürgerkriegsregionen, die wir tagtäglich im Fernsehen sehen können.

Martin Kordiċ (2014): Wie ich mir das Glück vorstelle, München, Carl Hanser Verlag

Eine weitere Besprechung dieses Romans findet ihr bei Sophie

[1] http://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article124479857/Seit-ich-denken-kann-war-dieser-Stoff-da.html

7 Kommentare

  1. Liebe Claudia, du hast recht: Bei dem Buchcover habe ich erst gedacht „hach, wie niedlich“ 🙂 Ich habe den Roman zwar noch nicht gelesen, aber mir gefällt diese unmittelbare, authentische Art des Erzählens und man merkt deiner Rezension an, dass dich die Geschichte auch sehr begeistert hat. Eine sehr schöne Buchkritik! Herzlichst, Karo

    • Liebe Karo,
      ja, ich dachte auch kurz: oh, schon wieder ein Glücksratgeber! Mich würde mal interessieren, warum der Verlag sich für dieses Cover entschieden hat. Und die Geschichte, die uns Viktor erzählt, ist wirklich toll. Viktor ist auch nicht nur der Superjunge, der alles richtig macht und den Durchblick hat, weil er ja weiß, wie unangenhem es ist, ausgegrenzt zu werden, nein, manchmal wird gar nicht so ganz klar, ob er sich nicht auch höchst schuldig macht – nicht ungewöhnlich in dieser Umgebung von Gewalt. — Vielleicht landet Viktor ja auch noch auf Deinem Lesestapel. Ich bin schon neugierig, wie Du ihn dann findest.
      Viele Grüße und vielen Dank für Deinen Kommentar, Claudia

      • Ich kann sehr gut mit Romanfiguren leben, die nicht eindeutig gut oder schlecht sind, wo es also Raum zu persönlicher Interpretation gibt. Auch im wahren Leben gibt es ja kein Schwarz oder Weiß, sondern viele Schattierungen dazwischen. Ich werde den Kordic im Hinterkopf behalten. Zurzeit ist bei mir aber leider erstmal Marathonlesen angesagt zu den ganzen Neuerscheinungen, die die Verlage alle gleichzeitig zur Leipziger Buchmesse raushauen 😕

      • Komplexe Figuren machen ja gerade eine besondere Qualität des Romans aus, sie sind halt nicht „trivial“. Und bestimmt hast Du bei Deinem Buchmessestapel auch noch die ein oder andere dringende Empfehlung an uns :-). Trotzdem drängt sich mir gerade eine Frage auf: Machr Lesen eigentlich noch Spaß, wenn es Arbeit ist, wenn irgendetwas zu einem bestimmten Termin fertig sein muss?

      • Manchmal ja, manchmal nein. Ja, wenn einen das Buch interessiert, nein, wenn man z.B. „Shades of Grey“ lesen muss – dann empfinde ich es halt einfach als Arbeit und nicht als Vergnügen 😉

  2. Liebe Claudia, ein interessanter Blick auf einen Roman zu einem wichtigen Thema. Kriege wie Kriegskinder wird es wohl immer geben, zum Glück bietet Literatur eine Möglichkeit, sich damit auseinanderzusetzen und das Geschehen zu verarbeiten, den Betroffenen wie den Zuschauern, den Autoren wie den Lesern.

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