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LLL 2014 – Lukas Bärfuss: Koala

Bärfuss_2Der Bruder hat seinen Suizid genau geplant. Erst hat er seinen letzten Willen formuliert, seinen Besitz unter Freunden und Familie verteilt, bestimmt, wie er beerdigt werden möchte. Sechs Wochen später dann hat er sich in eine Badewanne gelegt und eine Überdosis Heroin gespritzt. Die Wohnung hat er vorher aufgeräumt, die Wohnungstür unverschlossen gelassen, damit sie nicht unnötig aufgebrochen werden muss, die geliehenen Gegenstände mit Zetteln versehen, sodass sie schnell zurückgegeben werden können. In die Wanne hat er sich gelegt, weil er keinen Schmutz hinterlassen will. Der Ich-Erzähler reist, als er die Nachricht vom Tod des Bruders erhält, zurück in seine Heimatstadt, die er vor vielen Jahren verlassen hat. Abends sitzt er mit Freunden des Bruders zusammen, alle sind überrascht, denn vor ein paar Tagen noch haben sie zusammen gesessen, so erzählen die Freunde, zusammen gewürfelt. Bestimmt habe er sich da von ihnen verabschiedet „im Geheimen, er für sich alleine, ohne sich zu offenbaren“. Und dann, später am Abend, als sie sich gefasst haben, beharren die Freunde darauf, dass ein Erstaunen über die Tat nicht richtig sei, denn der Bruder sei offensichtlich entschlossen gewesen zum Suizid, habe ihn genau geplant, und dieses Vorgehen entspreche doch seinem Charakter.

Der Tod des Bruders, des Halbbruders, beschäftigt den Ich-Erzähler mehr und mehr und er findet keine Erklärungen. Erst rekonstruiert er, was sie beim letzten Treffen gsprochen haben – bei einem Abendessen im Zusammenhang mit einem Vortrag ausgerechnet über Kleist, den der Ich-Erzähler in der Heimatstadt gehalten hat – und ob er damals Zeichen hätte erkennen können. Er überlegt, was er an dem Tag gemacht hat, als der Halbbruder sein Testament verfasst hat, was am Geburtstag des Bruders, was in den Tagen und Wochen bis zu dessen Tod. Er beginnt zu recherchieren, was Menschen zum Suizid treibt, sucht Antworten in Berichten von Nervenärzten, in archäologischen Funden. Er findet keine.

Und er beobachtet genau, welche Empfindungen der Suizid bei ihm auslöst, nämlich Schuldgefühle, die er seinem Bruder gegenüber wohl schon immer hatte, er findet in seiner Erinnerung keinen „Moment, da ich mich in seiner Gegenwart frei und unbefangen gefühlt habe.“ Er st sich aber auch seines Hasses auf den Bruder bewusst, der ständig geschmollt habe, aber sich nie wirklich darum gekümmert, etwas Vernünftiges aus seinem Leben zu machen, der gar „seine Arbeitskraft weggeworfen [hatte], sinnloserweise.“

Nichts Gerades hatte er zustande gebracht, aber hielt sich gerade deswegen für etwas Besonderes, war eingebildet bis zur Eitelkeit. Nichts war ihm gut genug, nie war es mir gelungen, ihm eine Freude zu machen, alles war zu wenig, nichts wurde seinem Anspruch gerecht. (S. 40)

Er erkennt eigene Fehler, die seinen Bruder vielleicht vor den Kopf gestoßen haben, und manchmal wächst auch eine „Zärtlichkeit, das Bedürfnis, meinen Bruder in die Arme zu nehmen, etwas, was ich mir vorher nicht gewünscht hatte.“ Aber er findet keinen Weg mehr zu seinem Bruder, im Gegenteil, die Erinnerungen fangen an sich zu verwischen, zu Anekdoten zu werden, die die Schuld am Tod alleine ihm zuschreiben. Aber der Ich-Erzähler vermutet auch, dass der Bruder nicht so sehr einen Kampf gegen sich selber verloren habe, sondern vielmehr einen gegen Gesellschaft, die ein Leben wie der Bruder es geführt habe, nicht akzeptiere, vielleicht gar gegen die Art des Menschen, der immer strebt, verändert, etwas weiter entwickelt.

So beginnt der Ich-Erzähler, sich dem Tod des Bruders anders zu nähern, nämlich mit der Methode der Archäologen, die sich den Menschen, die vor 3000 Jahren gelebt haben, auch eher über Vermututngen und Vergleiche nähern, um eine stringente Erzählung der Lebensverhältnisse in diesen Gesellschaften zu erhalten.

Ein Anknüpfungspunkt ist der Koala, das Tier, das der Bruder bei den – merkwürdigen – Riten der Pfadfinder als Totem bekommen hat. Der Ich-Erzähler beginnt sich zu fragen, wie der Bruder sich wohl gefühlt habe, mit seinem Totem-Tier. Und er beginnt seine Geschichte der Vermutungen: Was mag passiert sein, wenn der Bruder angefangen hat, sich ernsthaft mit dem Koala zu beschäftigen, wenn er herausgefunden hat, dass der Koala eben kein Kuscheltier ist, sondern ein Tier, das keine Bestrebungen nach Veränderungen hat, das sich eingerichtet hat mit einer Nahrung, die nicht nahrhaft ist – eigentlich unverdaulich -, das eher faul ist, an einen Ort gebunden und die meiste Zeit des Tages verschläft? Vielleicht hat der Bruder sich dann erst zu einem Koala entwickelt, weil er erkannt hat, dass er dem Lebensentwurf des Kolas viel mehr abgewinnen kann als dem der Menschen:

Den Menschen war nicht zu trauen, wer an das Gute glaubte, war dumm. Jeder wollte etwas, und jeder wollte es lieber heute als morgen. Es ging ihm plötzlich auf, dass darin der Grund für das Elend der Menschen liegen könnte: im Ehrgeiz der Menschen. In der Schule hatte man ihm gesagt, dies sei die Kardinaltugend, wenn er etwas erreichen wolle im Leben, dann werde er sich anstrengen müssen. Aber hieß das nicht, in einen Wettstreit zu treten mit jenen, die nach demselben begehrten, hieß das nicht, einen Kampf aufzunehmen? Nur wer kämpfte konnte gewinnen (…) Mit jedem Sieg schaffte man sich einen Feind. (S. 74/75)

Vielleicht hatte der Bruder tatsächlich solche Gedanken und hat sich entschieden, zu leben wie ein Koala, ist jedem Wettstreit aus dem Weg gegangen, hat sich mit einem Baum begnüngt, das gegessen, was vor seiner Nase hing – auch wenn es giftig war – und versucht, keinen anderen gegen sich aufzubringen. Trotz dieser Entscheidung hat ihn dann aber doch eines Tages nichts mehr im Leben gehalten.

Auch die Koalas haben es schwer zu überleben. In der nun, nach etwas mehr als einem Drittel des Romans, beginnenden Kulturgeschichte der Koalas, die unmittelbar verknüpft ist mit der Geschichte der Besiedelung Australiens durch die Sträflingskolonien der Engländer, wird letztendlich deutlich, dass auch die niemandem im Wege stehenden Koalas nur durch Zufall überleben können, weil sie lange – von gottesfürchtigen Menschen! – als minderwertig angesehen werden:

zu faul um zu fliehen – wofür sollte der Herr sie geschaffen haben, als zur Ernte eines ordentlichen Fells? (…) Wenn der Schöpfer etwas einzuwenden hatte, dass man sie von den Bäumen pflückte, hätte er ihnen Kampfgeist gegeben, schnelle Beine oder wenigstens eine Tarnung, aber sie waren so einfach zu finden wie zu töten. (S. 163)

Lukas Bärfuss erzählt die Erforschungsgeschichte eines Suizides, die Besiedelung Australiens und der Fast-Ausrottung der Koalas. Der Leser folgt ihm auch bei den starken thematischen Übergängen bereitwillig, weil er einfach gut und packend erzählt. Dabei kennzeichnet die einzelnen Teile ein jeweils sehr passender Erzählstil – stark reduziert die Konfrontation des Ich-Erzählers mit dem Suizid des Halbbruders, abenteuerlich, manchmal magisch-mystisch, die Besiedlungsgeschichte Australiens, knappe christlich inspirierte Rationalitätsargumente bei der Geschichte der Koala-Jagd. Die Betroffenheit des Ich-Erzählers und das Nachdenken über den allgemein akzeptierten Wert der Arbeit, noch dazu in einer Wettbewerbsgesellschaft, beschäftigen den Leser weit über die Lektüre hinaus.

Trotzdem: die Verbindung der Teile des Romans, vor allem ihre Verbindung mit der Frage nach dem Suizid des Bruders, wirken nicht stimmig, die Gewichte der einzelnen Teile lenken von der Ausgangsfrage eher weg. Fraglich vor allem, ob die Bedeutung der Arbeit tatsächlich als Erklärung für den Suizid gelten kann, wenn doch doch immer wieder zu lesen ist, dass die meisten Suizide – in einem Artikel in der ZEIT der letzten Woche zum Thema Depression ist von 90 % die Rede – auf psychische Erkrankungen zurückzuführen sind. Und was ist mit den Fällen, in denen Menschen angesichts einer schweren physischen Erkrankung den Beschluss fassen, ihr Leben zu beenden? Fraglich auch, ob es in unserer Gesellschaft, in der es zahlreiche Nischen für Aussteiger gibt, nicht doch möglich ist, den Ehrgeiz und das Streben zurückzustellen und einfach anders zu leben.

Lukas Bärfuss (2014), Koala, Göttingen, Wallstein Verlag

Weitere Rezensionen, die im Zuge des Longlistlesens 2014 entstanden sind, könnt ihr bei Anna und Birgit nachlesen.

10 Kommentare

  1. War das Buch nicht auch schon auf der Longlist zum Leipziger Buchpreis? Auf jeden Fall ein sehr wichtiges Thema. Wie viel geht es denn um Suizid und wie viel um australische Beutelbären? Scheinen mir ein bisschen zu viele Themen behandelt.

    • Das Buch ist zwar Anfang des Jahres erschienen, ist aber nicht für den Leipziger Literaturpreis nominiert worden. Die Suizid-Geschichte ist sehr gut und nachdenkenswert erzählt, den Bezug zu den Koalas und deren Lebensweise – der Unterschied zu dem in unserer Gesellschaft doch so typischen Hamsterrad-Laufen mit dem Ziel, alles irgendwie besser zu machen – finde ich auch sehr gelungen. Diese beiden Aspekte machen aber, wenn überhaupt, nur die Hälfte des Romans aus. Die andere Hälfte beschäftigt sich mit den Schwierigkeiten des Besiedlung Australiens. Zwar schwingt auch da wiederum das übliche menschliche Streben, der Ehrgeiz und der Forschungsdrang eine Rolle, aber die Geschichte entfernt sich meiner Ansicht nach – auch wenn sie gut erzählt ist – doch sehr weit von der Suche nach Gründen für den Suizid des Bruders.
      Viele Grüße, Claudia

      • VIelen Dank für diese ausführliche Antwort. Ich denke, ich werde mir das Buch trotzdem mal kaufen, zumal du Erzählweise ja lobst.
        Beste Grüße

        Felix

  2. ich habe dieses schmale büchlein auch gelesen (und besprochen) und komme im grunde zu einem ähnlichen ergebnis wie du: interessant und nachdenkenswert, aber in sich nicht geschlossen, unharmonisch und ein wenig willkürlich bzw. zusammenhanglos. dieser lange australienteil – ich komme von dem gedanken nicht los, es gibt ihn nur, damit sich der autor/erzähler in dieser zeit nicht mit dem suizid beschäftigen musste… eine ruhepause, bevor er dann wieder dazu bereit war…

    lg
    fs

    • Lieber Flattersatz,
      ja, ich habe Deine Besprechung auch gelesen – auch Deine Anmerkungen zum Begriff des Selbstmordes, die mir den sehr vor- und umsichtigen Umgang mit den Begriffen aufgezeigt haben – und mir hat Dein kritischer Ansatz – es gibt ja auch viele sehr positive Besprechungen – gut gefallen. Ich bekomme diese beiden Teile, auch wenn der Roman insgesamt ja sehr gut erzählt ist, auch nicht so richtig zusammen. Der Australienteil hätte ja vielleicht ein ganz eigenständiges Thema sein können, in „Koala“ aber hätte ich mir mehr Auseinandersetzung mit dem Suizid-Thema gewünscht. Und in Bärfuss´ Interview, das er in Leipzig geführt hat (http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/2109910/Lukas-Baerfuss-auf-dem-blauen-Sofa#/beitrag/video/2109910/Lukas-Baerfuss-auf-dem-blauen-Sofa) zeigt, er, dass er dem Thema noch weitere Facetten hätte hinzufügen können. Dass er sich mit Australien eine Ruhepause verschafft hat, ist natürlich auch eine schöne, passende Deutung.
      Viele Grüße, Claudia

      • vielleicht ist das ganze auch ein missverständnis (ich kenne kaum äußerungen bärfuss´ zu seinem buch, ausserdem sollte ein werk ja für sich stehen und nicht im nachhinein vom autor ausgedeutet werden (müssen)). bärfuss arbeitet sich ja in dem roman an einem ganz konkreten, persönlichen schicksal ab und diese auseinandersetzung, vulgo: trauerarbeit, war bei ihm eben so, wie er sie beschreibt. damit entzieht sich jeder kritik, das haben aussenstehende so zur kenntnis zu nehmen. nur: dadurch, daß bärfuss sie (i.e. bärfuss´ auseiandersetzung mit dem suizid des bruders) in einem buch in die öffentliche diskussion geworfen hat, taucht kritik eben doch auf: an dem buch eben, dem buch als literarisches werk, als roman, vllt sollte man daran denken, daß es diese beiden ebenen, die persönliche und die literarische, gibt und sie auseinanderhalten und letztere fast eher als protokoll der persönlichen trauererfahrung nehmen…
        lg
        fs

      • Lieber Flattersatz,
        ich verstehe Deinen Ansatz gut, den autobiographischen Bezug mit einzubeziehen und hier ein Stück persönlicher Trauerarbeit anzuerkennen, die sich „jeder Kritik entzieht“. Und ich stimme für autobiografische Formen, die als solche auch erkennbar sind, diesem Ansatz auf jeden Fall zu. Aus diesem Grund habe ich auch großen Respekt vor der Besprechung von Herrndorfs Tagebuch gehabt – was tun, wenn ich es schrecklich finde? Darf ich kritisieren, darf ich benennen, was mich stört? Das ist ja – zum Glück – nicht notwendig gewesen, und ich wäre da auch sehr, sehr vorsichtig, denn es war eben klar erkennbar, dass es ein Tagebuch ist (und trägt doch auch schon erkennbar Zeichen einer – literarischen – Bearbeitung).
        In Bärfuss´ Fall aber ist der Text als Roman gekennzeichnet. Ein Roman ist auf verschiedene Weise deutbar, auch autobiografisch. Trotztdem: Ein Roman muss auch als Text alleine bestehen, sich also textimmanent lesen und deuten lassen, ohne Kenntnis des Kontextes und ohne den Erzähler mit dem Autor gleichzusetzen. Und bei dieser Lesart fallen die Teile eben auseinander. Oder er lässt sich so lesen, dass dieses Auseinanderfallen eben gerade die Trauerarbeit des Erzählers zeigt, der ja, so wird es auch im letzten Satz deutlich, der Arbeit, dem Schaffen und Streben – so wie die Menschen, die Australien besiedelt haben – einen hohen Stellenwert zuerkennt. So könnte es für mich dann doch „rund“ werden.
        Vielen Grüße – und vielen Dank für die angeregte Diskussion!, Claudia

  3. Deine Gegenüberstellung Koala und Hamsterrad finde ich klasse. Und so sehr ich die Koala-Metapher für eine bestimme Lebensweise gelungen finde, so wenig nachvollziehbar bleibt auch mir, wieso sie den Suizid des Bruders erklären kann. Wie du schon schreibst, mit Hinweis auf den Artikel in der ZEIT zum Thema Depression und eben: „Fraglich auch, ob es in unserer Gesellschaft, in der es zahlreiche Nischen für Aussteiger gibt, nicht doch möglich ist, den Ehrgeiz und das Streben zurückzustellen und einfach anders zu leben.“ LG, Anna

    • Ja, ich bin auch reichlich ratlos. Und dabei finde ich die Idee, die Lebensphilosophie des Koalas in Gegensatz zu setzen zu unserer ewig rastlosen, ziemlich gut. (Obwohl die rastlose Lebensart ja manchmal auch ziemlich befriedigenmd sein kann, wenn man beispielsweise hemmungslos herumbloggt 🙂 ). Aber ganz unpassend finde ich die Geschichte der Australien-Besiedelung, die ja auch einen breiten Raum im Roman einnimmt. Zumindest kann ich mir keinen Reim darauf machen, was ein so langer, ausführlicher, gut recherchierter Teil mit dem Bruder-Suizid zu tun hat. Flattersatz hat ja die Idee geäußert, Bärfuss wolle sich damit eine Verschnaufpause gönnen, bevor er sich wieder dem Suizid zuwendet. Das wäre ein Erklärungsansatz. Nein, irgendwie bleibt der Roman insgesamt „unrund“.
      Viele Grüße und noch ein schönes Wochenende :-), Claudia

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