Es ist wohl sehr vorschnell gewesen, vor der Lektüre von Marion Poschmanns „Hundenovelle“ die Erzählatmosphäre in Nellja Veremejs Roman „Berlin liegt im Osten“ als melancholisch zu beschreiben. Wie, bitteschön, soll dann die Stimmung in der „Hundenovelle“ beschrieben werden? Als „zutiefst melancholisch“? Oder als „depressiv“? Jedenfalls drängt sich so schnell kein weiterer Text auf, der auf so eine brillante Art eine so bedrückte, schwermütige und hoffnungslose Stimmung heraufbeschwört, der sich der Leser kaum entziehen kann.
Die bedrückende Stimmung ergreift den Leser gleich auf den ersten Seiten: Die namenlose Ich-Erzählerin sitzt mitten in der Hitze des Sommers, es sind gerade die Hundstage, in einer Industriebrache und schaut sich genau an, wie schnell die Werke der Menschen, wenn sie denn verlassen und nicht mehr gepflegt werden, verwahrlosen, wie schnell die Natur sich das von den Menschen Geschaffene wieder zurückholt: es bröckelt und zerfällt, einfache Pflanzen wachsen in den Betonspalten und durch den Asphalt, am Rand des Platzes haben sich schon erste Büsche breitgemacht.
Stadtbrache, vages Terrain. Nichtort, wo jederzeit alles möglich war und nie etwas geschah. Ruderalflora siedelte sich an, erhob sich an windigen Stellen, auf offenen Flächen, in Übergangsgegenden. Langsam, sehr langsam schraubten sich Pflanzen aus dem verhärteten Boden hervor, sie wuchsen spiralförmig, drehten sich unmerklich nach oben, zu den Seiten, füllten Raum aus, ließen Knospen klaffen, Blätter lappen, verstreuten Blütenstaub, all das sah niemand, zu langsam, man sah es nicht mit bloßen Augen, sah vielleicht das Resultat, eine Verlängerung, eine Verdickung. (S. 7/8)
Die Ich-Erzählerin sitzt dort, den Kopf in die Hand gestützt, zu ihren Füßen Schrauben, zerbrochenes Glas, in der Luft Mückenschwärme, erste Fledermäuse. Plötzlich kommt ein großer schwarzer Hund aus dem Gebüsch, gesellt sich zur Ich-Erzählerin und rollt sich zu ihren Füßen zusammen. Das Bild, das in der Fantasie des Lesers entsteht, erinnert an Albrecht Dürer Stich „Melencolia“. Auch dort sitzt ein weibliches Wesen – mit Engelsflügeln – auf einer Stufe, den Kopf in die Hand, zu den Füßen einen Hund. Der Stich gilt, trotz aller rätselhaften Elemente, als Sinnbild der Melancholie.
Den zugelaufenen Hund wird die Ich-Erzählerin auf ihrem Heimweg nicht mehr los, auch eine Straßenbahnfahrt kann ihn nicht hindern, ihr zu folgen und katzengleich schlüpft er gleich neben ihr durch die Haustür und schon ist er in ihrer Wohnung. Damit muss sich die Protagonistin in ihrem Tagesablauf umstellen. Sie, die es in der letzten Zeit offensichtlich darauf angelegt hat, für ihre Umgebung unsichtbar zu werden, muss nun wieder Kontakte aufnehmen, zum Tierheim, das den Hund aber nicht aufnehmen möchte, zum Tierfriseur, der Verfilzungen und Läusen zu Leibe rücken soll, ins Tierfachgeschäft, um ein Hundebett zu kaufen. Zwar sind diese Begebenheiten Anlässe für die Erzählerin, ganz wunderbar zynische Betrachtungen zur Konsumindustrie rund um das Tier zu formulieren. Trotzdem mag sie nicht, dass sie plötzlich Menschen ansprechen, die Nachbarin mit den Ernährungstipps, andere Hundespaziergänger, sie weist alle barsch zurück. Manchmal scheint sie sich mit dem Hund zu arrangieren, sorgt für ihn, berücksichtigt seine Bedürfnisse, manchmal ärgert sie, dass sie sich auf ihn einstellen, dass sie ihren Tagesablauf nach ihm richten muss, manchmal ist sie so wütend auf ihn, dass sie ihm diese oder jene Qual wünscht.
Die Ich-Erzählerin spricht kaum über sich, nur ein paar Informationen helfen, ihre Vergangenheit zu erschließen. Sie hat mit ihrer Mutter zusammengelebt bis sie gestorben ist, befremdlich, dass sie gemeinsam im Doppelbett geschlafen haben seit der Vater die Familie verlassen hat. Die Mutter ist zugewandert aus Osteuropa und hat sich nie richtig eingelebt, ist immer erkennbar gewesen als Zugewanderte aus dem Osten. Die Erzählerin hat nach dem Tod der Mutter ihren gut bezahlten Job im Labor verloren, um eine andere Arbeit kümmert sie sich nicht, denn sie meint, dass sie nun endlich die Einsamkeit genießen könne. Die bringt der Hund nun durcheinander, denn er zwingt sie, mehrmals am Tag hinaus zu gehen. Aber eine Zeit lang sieht es fast so aus, als könnte er sie ein wenig aus ihrer Lethargie und Einsamkeit reißen, er zeigt ihr, wie man mit Stöcken spielt, zeigt ihr, wo man schwimmen kann.
Trotz allem: auch der Hund kann die Ich-Erzählerin nicht aus ihrer sich von der Umwelt ausschließenden Haltung abbringen. Sie geht da ganz geradlinig ihren Weg weiter, der Hund muss weg.
Marion Poschmann stand in diesem Jahr mit ihrem Roman „Die Sonnenposition“ auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis und hat für den Roman den Wilhlem-Raabe-Literaturpreis erhalten und ist auch schon für ihre Lyrik ausgezeichnet worden. Im Gegensatz zur „Sonnenposition“ dreht sich in dieser Novelle aber alles um das Dunkle und Schwarze als Bild der inneren Befindlichkeit der Erzählerin, um das Unsichtbarwerden eines Menschen, der Kontakte zu anderen Menschen mit aller Konsequenz meidet und sich am liebsten an Orten aufhält, an denen er andere Menschen eher nicht trifft, der sich so letztendlich selbst verliert. So sind auch ihre sprachlichen Bilder der Einsamkeit, des Aus-der Gesellschaft-Hinausfallens besonders beeindruckend:
Einsamkeit stellte ich fest, war ein Geschenk. Die Einsamkeit, in die ich geraten war, hatte ihre eigene Qualität. Etwas sehr Unauffälliges, sehr Stilles nahm mehr und mehr Besitz von mir, und ich beobachtete mit einer Art von Zufriedenheit, wie das, was ich bisher für mich gehalten hatte, immer mehr verschwand. Sobald man sich nicht bemühte, verschwand es. Sobald man keine Energie in Selbstdarstellung steckte, verschwand es. (S. 46/47)
Und Marion Poschmann hat ihre Geschichte mit vielen Motiven und Mythen ausgestattet, die ihre Deutung zu einem ebenso rätselhaften Unterfangen werden lassen, wie dies für Dürers Stich gilt. Eben mit diesem Bild beginnt sie ja ihre Erzählung: die Ich-Erzählerin als die weibliche Figur in Dürers Stich, auch hier als als Verkörperung der Melancholie, vielleicht sogar besser: der Depression.
Ich war nackt. Emotional, versteht sich. Ich kroch mit bloßer haut durch ein Brennnesselgebüsch, die haarigen Blätter mit ihren Widerhaken streiften mich, bohrten mir ihr Gift ins Fleisch. Das war mein Umgang mit Menschen immer gewesen: vergiftet. Sobald ich einer anderen Person begegnete, benahm sie sich mir gegenüber wie eine Brennnesselpflanze. Sobald eine Berührung stattfand, emotional, versteht sich, bohrte sich etwas Unangenehmes in mich hinein, und ich brauchte Tage, um wieder einen normalen Zustand zu erreichen. (108)
Schon auf Dürers Stich ist ein Hund zu sehen, ein heller, sehr dünner Hund. Und der Hund spielt, der Titel verweist ja darauf, als Symbol eine besondere Rolle. Er kommt in verschiedenen Formen in der Erzählung vor, als realer Hund, der sich der Ich-Erzählerin anschließt, in den verschiedensten Formen der Gebrauchskultur, dann auch als Sternbild des „Großen Hundes“.
Wie ist er zu deuten, der Hund, der in so vielen Formen auftaucht? Dem Hund als Symbol können ganz unterschiedliche Deutungen zugeschrieben werden: nämlich einmal, seinen Fähigkeiten entsprechend, Treue und Wachsamkeit, Konsequenz bei der Erfüllung seiner Aufgaben, Mut und Geschick. In Poschmanns Novelle verhält sich der Hund tatsächlich als ganz treuer Begleiter. Als er sich seinen Mensch einmal ausgesucht hat, bringt ihn nichts mehr davon ab, in dessen Nähe zu sein. Der Hund also als beständiger und wohlgesonnener Begleiter, der die Ich-Erzählerin ein wenig in die Aktivität und Umgebung von Menschen zurückbringt?
Andererseits aber erscheint der „schwarze Hund“ in vielen europäischen Legenden als eine Nachtgestalt, die durch ihre Größe und die leuchtenden Augen unheimlich ist, sonst Unheil verkündet und mit dem Tod verbunden wird. Im Gegensatz zu Dürers Bild – und dem Buchcover – wird der Hund als schwarz beschrieben, als groß und elegant, und dünn ist er auch, nach dem Scheren kann die Erzählerin es deutlich sehen. Verkündet der Hund also mit seiner treuen Anhänglichkeit ein Unheil, den Tod gar, vielleicht den Selbstmord? Und Matthew Jonestone hat in seinem bebilderten Buch über die Depression den „schwarzen Hund“, so, wie er schreibt, schon Churchill seine Erkrankung bezeichnet hat, gar als seine Veranschaulichung der Depression genutzt („Mein schwarzer Hund. Wie ich die Depression an die Leine legte.“) Jede dieser Deutungen über den „Hund“ ermöglicht neue Perspektiven auf die Deutung von Poschmanns Novelle…
Die Ich-Erzählerin ist sich ihrer Situation sehr bewusst. So schreibt sie allen ihren Freunden, deren Adresse sie in ihrem Adressbuch findet, eine Postkarte mit Tiermotiv, auf denen sie jeweils einen Satz schreibt: Melancholia balneum diaboli est – Die Melancholie ist ein Bad des Teufels.
Marion Poschmann hat Dürers Melancholie in die Jetztzeit und in eine andere Kunstgattung übersetzt. Dies ist ihr auf besonders beeindruckend Weise gelungen. Und gegen ihre hoffnungslos düstere Atmosphäre weht in Nellja Veremejs Geschichte nur ein trauriges Lüftchen.
Marion Poschmann (2008): Hundenovelle, Frankfurt, Frankfurter Verlagsanstalt
Ein informativer Bericht über die medizinische und kulturelle Geschichte der Melancholie ist hier zu lesen. Hier ist auch festgehalten, dass das Zitat „Melancholia balneum diaboli ist“ von Robert Burton (1577-1740) stammt. Burton hat auch notiert, wer besonders anfällig für die Melancholie ist und beschreibt – u.a. – Menschen,
die von Natur einsam leben, große Bücherwälzer, ganz der betrachtenden Lebensweise verfallen und der aktiven entzogen – sie alle sind am anfälligsten für Melancholie.
Eine tolle Besprechung. Aber ich glaube, das Buch ist mir momentan zu düster. Mein SUB atmet kurzzeitig auf. LG Anna
Liebe Anna,
vielen Dank für Deine lieben Worte. Ich kann gut verstehen, die „Hundenovelle“ nicht auf den SUB zu legen. Ich habe auch wirklich mit mit gekämpft, die Novelle zu Ende zu lesen. Der unmittelbare Leseeindruck ist wirklich düster. Dass die Erzählung aber richtig, richtig gut geschrieben ist, gut passend zum Thema, der Gedanke konnte sich erst mit ein bisschen Abstand entwickeln.
Viele Grüße, Claudia
Das muss ich lesen! Schon die „Sonnenposition“ hat mich mit ihrer Melancholie in ihren Bann gezogen. Danke!
Liebe Xeniana,
ich habe auch schon zur „Sonnenposition“ geblinzelt, in der Hoffnung, dass die Sonnenmetaphern wenigstens ein bisschen eine anderen Wirkung haben als der „schwarze Hund“. Und dann bin ich auf Deine Leseerfahrung der „Hundenovelle“ und Deine Deutung gespannt.
Viele Grüße, Claudia
Also die sonnbenposition hat ja ihren ganz eigenen maroden Charme. Ein Buch das mich immer noch beschäftigt und sie hat ja eine wunderschöne poesievolle sprache. Sehr melancholisch ist es trotzdem und die Sonne schien gefühlt fast gar nicht. es wird noch ein wenig dauern bis ich mit einem neuen Buch anfangen kann, aber dann….
Du machst mich sehr neugierig auf das Buch (und das bekommt meinem SUB gar nicht :-)). Ich finde auch die Sache mit dem „Erlkönigjäger“ interessant. Gerade gestern gab es einen Bericht in der SZ über Claire Bayers Roman „Refugium“, in dem auch das Thema Erlkönig vorkommt und in dem auch der Bezug zur „Sonnenposition“ hergestellt wurde (was den Erlkönig betrifft). Auch das finde ich sehr spanndend. — Ich beantrage sofortigen 6-wöchigen Leseurlaub, um all das lesen zu können, was ich gerne unbedingt lesen möchte :-)!
Viele Grüße, Claudia
Trotz der Melancholie, die ja ganz prima zum derzeitigen Wetter passt, machen mir Deine Ausführungen Lust auf diese Novelle. Vor allem die Sprache Poschmanns begeistert mich auch hier und ihre Idee, ein Thema zu variieren.
Liebe Atalante,
ich glaube auch, dass Dir die „HUndenovelle“ gut gefällt, denn Du mochtest ja auch schon die sprachliche Gestaltung der „Sonnenposition“. Und wie Poschmann die Melancholie in Bilder, Handlung und Sprache umsetzt und wie sie dabei auch auf andere kulturelle Bereiche verweist, das ist wirklich toll. Aber: wenn man zunächst mal nur die Handlung liest, zieht der Text deutlich mehr herunter als das schöne graue, nieselige Wetter.
Viel Spaß beim Lesen wünscht Claudia
Liebe Claudia,
eine schöne Besprechung, die (gewünschte) Einsamkeit und Melancholie werden fast greifbar…
Ich bin über die Querverweise auf diesen älteren Beitrag gekommen, irgendwie ist die Schwermut ja immer mit dem Herbst verknüpft.
Herzliche Herbstgrüße sendet Dir
Marlis
Liebe Marlis,
vielen Dank für Deine lieben Worte. Marion Poschmann hat wirklich ein sehr beeindruckendes Buch zum Thema Melancholie geschrieben, dem man sich beim Lesen kaum entziehen kann, und hat dafür diese parabelhafte Struktur gefunden. Der Hund als Verkörperung von Melancholie, Schmermut, Depression spielt auch in Michael Köhlmeiers „Idylle mit ertrinkendem Hund“ eine wichtige Rolle (https://dasgrauesofa.wordpress.com/2013/09/25/michael-kohlmeier-idylle-mit-ertrinkendem-hund/). Ich glaube, nach der Poschmann-Lektüre und meiner kleinen Recherche zum Hund als Symbol für die Melancholie lese ich die Geschichte Köhlmeiers heute auch ein bisschen anders. – Und noch zum Herbst: Ja, er ist manchmal schon ein wenig grau und im November/Dezember dunkel und hier meistens auch sehr nass. Aber ich mag den Herbst sehr, viel mehr als den Sommer, vor allem, wenn der so warm und anstrengend ist wie in diesem Jahr.
Dir viele Grüße, Claudia