Lesen, Romane

Ulrike Kolb: Die Schlaflosen

Kolb_1Es gibt doch wirklich nichts Herrlicheres, als sich abends ins Bett zu legen, sich wohlig unter der Decke auszustrecken, die Augen zu schließen und, in Morpheus Armen liegend, in die Traumwelt hinüberzugleiten – ganz egal, was der Tag so gebracht hat. Dann wird der Schlaf zu einem wunderbaren Gefühl des Gleitens und Schwebens, zu einer Fahrt „in das tiefe, wunderbare Dunkel, das man Schlaf nennt“ (S. 153).

Aber gerade mit dem Schlafen haben die Menschen, die an diesem späten Nachmittag ins Hotel Gut Sezkow anreisen, so ihre Schwierigkeiten. Seit Jahren können sie nicht mehr schlafen, höchstens zwei bis drei Stunden in der Nacht dämmern sie hinweg, dann wachen sie wieder auf und nichts hilft, um wieder einschlafen zu können: sie nehmen Tabletten, trinken warme Milch, schieben das Kopfkissen zurecht, (vgl. S. 177) nur um doch wieder eine „qualvolle Nacht [zu verbringen], ohne Ablenkung, ohne die Hilfe eines zerstreuenden Fernsehprogramms, nur seinen privaten Dämonen ausgeliefert, deren Toben sich in der Wüste einsamer Nächte seines Kopfes bemächtigt und ihm Angst macht, reine Angst“ (S. 145). Und viele von ihnen sind so müde, so erschöpft, dass sie sich sehnlichst wünschen, sich in ihrem Zimmer zu verkriechen, sich in ihr Bett zu legen:

Ja ausstrecken, nur ausstrecken, einfach hinlegen. Ins Dunkle sinken, nichts sonst, keine Geschichten mehr, keine fremden Leben, nur schlafen, weit fort von diesem allen. Aber selbst dazu ist sie zu müde – so müde, so unendlich müde. Sie wird es nicht mehr schaffen bis dort oben hin zu ihrem Bett. Ihr ist, als wäre sie immer so müde gewesen, ihr ganzes Leben lang, als bestünden sie und ihr Körper aus nichts als Müdigkeit, aus schwerer, schwerer Müdigkeit. Alles unter ihrer Haut ist Müdigkeit. ( S. 140)

Die meisten von ihnen haben schon so einiges versucht, um ihre quälende Schlaflosigkeit loszuwerden: Schlaftabletten natürlich, Psychotherapien und danach die randständigeren Methoden: Singtherapie, Traumatherapie, Sextherapie, Hypnose. Nun haben sie ein Seminar im Hotel Gut Sezkow gebucht bei einem Professor, der sich mit dem Schlaf auszukennen scheint, von allen der „Schlafpapst“ genannt.

Margot zum Beispiel hat das Seminar gebucht. Sie ist schon auf der Anreise so müde, dass ihr die Fahrbahnstreifen auf der Autobahn vor den Augen verschwimmen und sie sich lieber die letzten Kilometer von einem Taxi bringen lässt. Rottmann verbringt oft das Wochenende in einem dem Hotel benachbarten Ferienhaus von Freunden und hat nun das Seminar gebucht, weil auch er seit Jahren nicht schlafen kann, aber auch, weil er das Gut von innen besichtigen möchte, denn er meint, als kleiner Junge am Ende des Krieges mit seiner Mutter schon einmal hier gewesen zu sein. Margot und Rottmann lernen sich, in einer unangenehmen Situation für Rottmann, kurz kennen und beschließen später, als der Schlafpapst sich verspätet, im Restaurant gemeinsam zu Abend zu essen. Dabei unterhalten sie sich über ihre Leben, ihre Arbeit, ihre Beziehungen und natürlich auch über ihre Schlaflosigkeiten.

An einem Nachbartisch lärmen fünf Versicherungskaufleute, die das Seminar von ihrem Arbeitgeber spendiert bekommen haben. Aus verschiedenen Ecken Deutschlands kommen sie, aus Frankfurt an der Oder, aus Berlin, aus Köln. Hier sitzen Norbert, der erst mit zunehmendem Alkoholkonsum auftaut, Peter Mulik, der kurz vor den Pensionierung steht und ein hohes Tier in der Zentrale in Köln ist, Jeanine, die in der DDR in einem Lektorat gearbeitet und als alleinerziehende Mutter nach der Wende die Chance auf eine Umschulung zu Versicherungskauffrau ergriffen hat, und Friederike, einer studierten Soziologin und Pädagogin, die durch Kleidung und Aussehen jenseits der Klischees vom üblichen Auftreten von Versicherern gerade bei Künstlern und Intellektuellen erfolgreich ist. Sie lästern über die Versicherung und diskutieren angeregt grundsätzliche Gründe der Schlaflosigkeit. Und als Versicherer haben sie Einblick in die Statistik: „Vor vierzig Jahren ist kaum jemand wegen „Schlaflosigkeit zum Arzt gegangen, heute fast jeder Zweite.“ (S. 191)

Und dann ist da noch Inge Moll, aus Leidenschaft für alte Gemäuer Maklerin und sehr exaltiert im Auftreten. Schon wenn sie einen Raum betritt, groß, ein wenig übergewichtet, und ihn durchschreitet, kann sie gewiss sein, alle Blicks auf sich zu ziehen. Sie sitzt zunächst alleine im Restaurant, beobachtet die anderen Teilnehmer und hat Freude an ihren ätzenden Spekulationen. Sie ist die einzige, die das Schlafen schon seit Jugend als Zeitverschwendung ablehnt und sich fragt, warum der Mensch überhaupt schlafen muss, aber mittlerweile ist auch sie so müde, dass sie sich gerne einmal ausruhen würde, kommt nun aber auch nicht mehr in den Schlaf. In dieser Nacht wird sie erst das unglaubliche Geständnis Peter Mulicks hören, dann den Weinkeller des Gutes und die sich anschließenden Katakomben besuchen, um anschließend im blauen Salon in aller Öffentlichkeit nicht nur tief und fest und leise schnarchend einzuschlafen, sondern sich dabei auch noch aus ihrem Kleid zu befreien, so dass sie mit üppiger weißer Brust und nacktem Bauch daliegt wie die „Schlummernde Venus“ von Giorgione.

Man kann sich leicht vorstellen, in welche Verdrückung die Hotelleitung kommt, als der Schlafpapst im Laufe des Abends nicht auftaucht. Erste Gerüchte machen unter den Seminarteilnehmern die Runde, das Seminar sei ein „Jux, den sich jemand mit ihnen, den Schlaflosen, geleistet habe, es sei ein Schwindel, es gebe den Schlafpapst gar nicht, das Hotel habe sie womöglich hergelockt, um seine Übernachtungszahlen zu erhöhen. Die Hotelleitung entschließt sich, die Schlaflosen mit einem Zauberer, kulinarischen Köstlichkeiten und Wein, der „einem die Kehle hinuntergleite wie der liebe Gott in roten Samthosen“, die lange Nacht über bei Laune zu halten.

Und so erzählt uns Ulrike Kolb in ihrem großartig komponierten Roman von dieser einen denkwürdigen Nacht im Hotel Gut Sezkow. Wir Leser erleben diese Nacht, indem wir von Figur zu Figur wandern, immer wieder anderen Betrachtungen über die Geschehnisse folgen, unterschiedlichen Gesprächen in unterschiedlichen Konstellationen lauschen, immer wieder aus unterschiedlichen Augen auf die anderen Teilnehmer blicken, sie so zum Teil sehr präzise beobachten in ihrer Mimik, ihrer Gestik, sogar ihrem Schlafen. Wir nehmen Teil an den inneren Dialogen einiger der Figuren, und indem wir immer wieder die Perspektiven wechseln erkennen wir die Unterschiede in der Innensicht und Außensicht, erkennen, wie Spekulationen, Gerüchte und Lästereien entstehen. So entfalten sich vor unserem Auge viele verschiedene Charaktere und Lebenswege, merkwürdige Verhaltensweisen und innere Konflikte, immer wieder Berichte über gescheiterte Träume und Vorstellungen, dramatische Unfälle, die manchmal würdelosen Anforderungen der Arbeitswelt, zerbrochene Lieben, aber auch (selbst)ironische Betrachtungen, witzige und spitze Bemerkungen – mit anderen Worten: das ganz normale Chaos des Lebens.

Und neben der Geschichte des Abends und der Geschichten der Seminarteilnehmer entfaltet Ulrike Kolb auch verschiedene Blicke auf das Phänomen der Schlaflosigkeit. Zum einen nähert sie sich der Schlaflosigkeit immer wieder über die Sprache, nämlich immer dann, wenn sie ausgezeichnet anschauliche Formulierungen findet für den Schlafmangel, der alle quält, oder – auf der anderen Seite – gerade auch für den Wunsch, endlich in den Schlaf entfliehen zu können. Und in diesem oft beschworenen Wunsch wird auch immer wieder deutlich, dass Schlaf und Tod eine enge Verbindung haben. Sie nähert sich dem Phänomen natürlich auch, wenn sie ihre Protagonisten Diskussionen darüber führen lässt, aus welchen Gründen nun so viele Menschen schlaflos seien und so den Stand der Forschung aufzeigt.  Und, als dritte Art der Annäherung, indem sie auch in den Bereich der Kultur schaut. Hier bezieht sie sich nicht nur auf das Bild der „schlafenden Venus“, von der aufgrund ihrer Haltung vermutet wird, dass sie überaus wach sei und nur die Augen geschlossen halte, sondern verweist auch immer wieder auf Kafka, der nicht nur in der Unfallversicherung arbeitete, sondern auch unter Schlaflosigkeit litt.

Im Laufe der Nacht, dann, als der Zauberer seine Werke gezeigt und der Kellner Klavier gespielt hat, die Köstlichkeiten vom Buffet gegessen und der rote, samtige Wein in großen Mengen geflossen ist, werden die einen doch müde und schlafen ein, wo sie gerade stehen oder sitzen, und die anderen geraten in eine immer ausgelassenere, leichtsinnigere, mithin bacchantische, Stimmung. Es ist ein Schweben und ein Gleiten, fast wie im Traum.

Ulrike Kolb (2013): Die Schlaflosen, Göttingen, Wallstein Verlag

Übrigens: Dass uns allen das Schlafen wohl besonders wichtig ist, ist nicht nur an den großen Bettenhäusern zu erkennen, die an allen Ecken der Innenstädte ihre Waren mit dem Versprechen auf den schönsten Schlaf feilbieten, sondern auch daran, dass es einen Blog zum Thema gibt. „Ganzheitlich Schlafen nennt sich der und wird von Georg Mühlenkamp betrieben. Dort lässt sich herrlich zum Thema stöbern und es finden sich auch einige sehr schöne Zitate zum Schlafen, z.B. von  Erika Oehring, die dort Folgendes dort über den Schlaf sagt:

“Dieser (der Schlaf) ist eine der Sinnesfreuden der Menschen und bietet, ausgenommen von Rauschmitteln, für die Seele, die einzige Möglichkeit sich zu Lebzeiten vorübergehend vom Körper zu befreien.”  

6 Kommentare

  1. Liebe Claudia,

    ich danke dir für diese schöne und ausführliche Besprechung, die mich einem Buch näher gebracht hat, das ich bereits einige Male im Buchhandel in der Hand hatte – bisher konnte ich aber noch nicht viel damit anfangen. Das ändert sich jetzt, denn Eindrücke und die ausgewählten Zitate versprechen mir ein Buch, das mir gefallen könnte. Beim nächsten Besuch einer Buchhandlung werde ich es nicht nur in die Hand nehmen, sondern auch mal hineinblättern.

    Den von dir genannten Blog kenne ich auch und finde dieses Interesse am Schlafen erstaunlich. Ich könnte mir vorstellen, dass es – wie bei so vielen Dingen – so ist, dass einen das Schlafen wohl erst interessiert, wenn man nicht mehr gut schlafen kann. 🙂

    Liebe Grüße
    Mara

    P.S.: Schau mal in den Titel, ich glaube du gibst der Autorin einen falschen Vornamen. 🙂

    • Liebe Mara,
      vielen Dank für Deine lieben Worte. Vielleicht kann der Roman Dich ja beim Hineinblättern im Buchladen auch zum Mitnehmen animieren ;). Es ist ein wirklich schöner Roman, den natürlich auch mit Genuss lesen kann, wenn man NICHT an Schlaflosigkeit leidet.
      Und dass es einen Blog zum Thema „Schlafen“ gibt, hat mich auch sehr überrascht. Aber, das habe ich auf dem Blog gelernt, Schlafen hat ja auch eine kulturelle Bedeutung und kommt in der Kunst in unterschiedlichen Facetten auch immer wieder vor. Und auf dem Blog gibt es auch den Link zu einer Ausstellung über eine „Kulturgeschichte des Schlafens“. Schlaf scheint die Menschen also schon immer sehr interessiert zu haben.
      Und den Vornamen habe ich auch geändert. Ich hatte schon so ein komisches Gefühl, habe aber nichts gefunden, was das Gefühl bestätigen konnte. So braucht es immer fremde – ausgeschlafene – Augen, die sofort sehen, was los ist.
      Ich wünsche Dir einen schönen Abend und eine gute und sehr erholsame Nacht! 🙂
      Claudia

    • Ein bisschen stimmt Deine Assoziation: die Figutren sind wegen ihrer Schlaflosigkeit alle ein wenig überspannt. So gestehen sie sich gegenseitig die abgedrehtesten Geheimnisse. Es gibt auch eine Figur, die eine Unfallerinnerung mit sich herumschleppt. Aber ansonsten sind sie alle ziemlich normal und „nur“ belatstet durch den ganz normalen Alltag. Es gibt also keinen Psychokrimi, den es aufzuklären gilt.
      Viele Grüße, Claudia

  2. laura sagt

    Liebe Claudia, irgendwo schriebst du mal, ich würde sicher vor Langeweile vom Lesesessel fallen (oder so ähnlich 🙂 ), wenn ich mich mit einem Buch wie diesem hinsetzen würde (nicht, weil das Buch so langweilig wäre, sondern weil es thematisch vielleicht gar nicht meins wär, aktuell). Dies will ich insofern revidieren, dass deine Rezension durchaus auch mich auf das Buch neugierig macht 🙂 Ich habe zwar einen ganz prima Schlaf, aber ich vermute, dass der Roman auch psychologisch einiges hergibt; in dem Sinne, dass es zeigt, was passiert, wenn Menschen mit ähnlichen „Problemen“ zusammen kommen, um diese zu lösen. Hier eben die Schlaflosigkeit. Das Phänomen selbst gibt es ja auch in sämtlichen Selbsthilfegruppen, in Klöstern, wo Entspannungswillige und Ruhesuchende aufeinander treffen, bei Seminaren usw. Das ist immer spannend und ich glaube, dass das Buch auch unabhängig vom Schlafproblem etwas vermittelt. Oder täuscht da mein Eindruck?

    • Liebe Laura,
      ich erinnere mich dunkel, es ging um unsere unterschiedlichen Leseeindrück in „Die Ordnung der Sterne über Como“, oder? — Deine Eindrücke über die „Schlaflosen“ sind völlig richtig: Die handelnden Figuren verlieren tatsächlich in dieser besonderen Umgebung, in dem Miteinander als betroffene Schlaflose, in ihrem Ärger darüber, dass der Schlaf-Papst nicht kommt, und natürlich mit voranschreitender Müdigkeit jede Scheu und jeder Zurückhaltung und plaudern die intimsten Dinge aus. Dieses Verhalten kann man ja wirklich bei Seminaren beobachten, so habe ich das mehrfach während meines Masterstudiums Mediation bei den Seminaren erlebt. Irgendwie entsteht nach spätestens dem zweiten Rollenspiel eine ziemlichen Eigen- und Gruppendynamik ;). Und Ulrike Kob hat da schon sehr schön den (ironischen) Finger in der Wunde. Ich mochte das Buch sehr gerne, weil Kolb mit dem Motiv des „Schlaflosen“ so schön spielt, ähnlich wie Marion Poschmann das in der „hundenovelle“ zum Thema Melancholie bzw. Depression gemacht hat. Und ich glaube auch, dass man als Leser nicht selbst von Schlaflosigkeit betroffen sein muss, um Interesse an den verschlungenen Lebensgeschichten (manche Figuren haben ja auch wirklich ein hartes Los) und dem Verlauf dieser denkwürdigen Nacht zu haben. Vielleicht gefällt es Dir ja auch.
      Viele Grüße, Claudia

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