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[5 lesen 20] Thomas Stangl: Regeln des Tanzes

Stangl_1Walter Steiner, pensionierter Wissenschaftler, wandert ziellos durch die Straßen Wiens. Er wandert durch Stadtteile, in denen er einmal gewohnt hat, in denen er sich gut auskennt, in denen sich über die Jahre nichts verändert hat, durch Straßen mit sanierten Altbauten, in denen nun Firmen mit modernen Namen ihren Sitz haben, durch Gassen, die er noch nie betreten hat:

Nichts passte mehr zum anderen, die Häuser nicht zu den Straßen, die Straßen nicht zu den Menschen, die Menschen nicht zu den Erinnerungen, die Häuser waren keine Häuser, die Straßen keine Straßen, (sie passten nicht zu sich selbst), die Menschen keine – nun das heißt nur, er passte nicht hierher, sonst passte alles. (S. 11)

Und dann, in einem Loch in der Hausmauer eines neu gebauten Hauses, findet Steiner zwei Filmdosen, in denen sich auch tatsächlich Filme befinden; alte Filme mit Bildern, die entwickelt werden und auf Papier abgezogen werden müssen. Wie mit einem Geheimfund läuft Steiner nun durch die Stadt, zu Hause versteckt er seinen Schatz in der Schublade seines Schreibtisches, seine Frau Pre soll nichts erfahren, nichts von den Spaziergängen durch die Stadt, nichts von den Filmdosen. Am nächsten Tag fährt er mit der U-Bahn in einen Stadtteil, in dem ihn niemand kennen wird, und bringt die Filme dort zur Entwicklung. Nun muss er einige Tage warten, völlig elektrisiert von den Fantasien, die er entwickelt über das, was er auf den Bildern sehen wird. Als er dann endlich die Bilder betrachten kann, sieht er als erstes Fotografien vom Grab einer jungen Frau, die vor 15 Jahren gestorben ist, dann viele Bilder eines immer gleichen Zimmers, Bilder zweier Mädchen, Schwestern wohl, in einem Haus, in einem Garten.

Es sind die Bilder von Mona und ihrer Schwester, die Steiner gefunden hat. Die letzten Aufnahmen stammen vom März 2000. Die Schwestern leben zusammen in einer Wohnung, Mona hat ihr Studium aufgegeben und beschäftigt sich stattdessen mit dem Tanz, nicht mit Ballett, sondern modernem Ausdruckstanz, der für sie eine Möglichkeit zu sein scheint, ihre persönlichen Gefühle auszudrücken. Manchmal verlässt sie die Wohnung und kommt ein paar Tage nicht nach Hause. Das passiert auch im Februar 2000, als ihre Schwester auf die vielen großen Demonstrationen geht, die damals stattfinden, aus Protest gegen das Regierungsbündnis zwischen ÖVP und FPÖ und weil die FPÖ von vielen Menschen nicht nur. wegen ihrer rassistischen Haltung nicht für eine Partei gehalten wird, die in einer Regierung mitwirken sollte. Während Mona also durch die Straßen streift, sich Essen erbettelt, die Nächte im Wald verbringt oder bei fremden Menschen, ist es ihrer Schwester wichtig, zu allen Demonstrationen zu gehen und gemeinsam mit den manchmal zehntausend Menschen durch die Stadt zu ziehen, in der kaum mehr vorhandenen Hoffnung, die politischen Verhältnisse zu ändern. Zwischen den Demonstrationen sitzt sie zuhause und wartet auf Monas Rückkehr. In deren Zimmer findet sie den Fotoapparat des Vaters, ein  paar Bilder sind noch auf dem Film und so fotografiert sie jeden Tag Monas Zimmer.

Thomas Stangl zeichnet in seinem Roman drei Figuren, die sich nicht mehr zurechtfinden in ihrer Umgebung und ihrem Leben. Sie fühlen sich fremd in einem uneigentlichen Leben, haben Ängste, sind sprachlos oder überfordern ihre Mitmenschen mit ihren innersten Gedanken und Gefühlen. Walter Steiner meint, sein Leben gar nicht wirklich zu leben, es nur nachzustellen, verborgen hinter einer Maske und einer Uniform, hinter der „Mechanik deiner Bewegungen und Gesten kann sich genauso gut jeder andere verbergen, du kannst als irgendein anderer darunter vorkommen.“ (S. 45) Freunde verlieren jede Bedeutung, Walter Steiner wundert sich geradezu, dass es Bekannte gibt, die ihn anrufen, um zu fragen, wie es ihm gehe. Und Monas Schwester fühlt und denkt ähnlich:

Du läufst hier herum und tust dabei nur so, als würdest du herumlaufen. Jeder Atemzug sagt dir, dass es nicht selbstverständlich ist, dass du atmest; etwas Unerträgliches kann in der Wohnung sein, irgendwo in der Wohnung, eine Leiche; jemand Fremdes kann jederzeit in die Wohnung eindringen; jemand Fremdes beobachtet sie, bei allem, was sie tut; jemand Fremdes, eine Anwesenheit, eine Leiche, eine Leiche, die lebt. (…) sie würde gern mit jemandem reden, jemanden anrufen, aber es ist Sonntagvormittag und außerdem weiß sie nicht, was sie überhaupt erzählen kann, ob das, was sie erlebt, eine Geschichte ist, die die sich erzählen lässt, ob irgendjemand etwas davon verstehen könnte. Und bist du nicht schon so weit, dass du mit niemandem mehr sprichst, weil du die Behauptungen der anderen nicht mehr erträgst; noch viel weniger deine eigenen Behauptungen, so künstlich bist du dir geworden. (S. 111)

Alle drei scheinen kaum eigene Bedürfnisse zu haben, leben zurückgezogen, ohne Wünsche, ohne Träume, ihnen scheint ihr leben abhanden zu kommen. Was sie eint, ist ihre Suche nach einem wahrhaftigen Moment, den Mona sich im Tanz erhofft, ihre Schwester bei den Demonstrationen, Walter, wenn er in die Fotografien eintauchen kann, wenn er die Schwester und die Orte der Fotos findet.

Die Haltung der Figuren und ihre Suchbewegungen finden sich mit aller Konsequenz in den Erzählstimmen und im Erzählprinzip wieder. Der Leser begleitet abwechselnd, in kurzen Begebenheiten, in Gedankensplittern, die drei Protagonisten, die jeweils aus ihrer Innensicht berichten. Sie erzählen, wenn sie als Flaneur durch die Stadt streifen, was sie sehen in den Straßen, in den Einkaufspassagen, am Rande der Demonstration, wenn die Polizei ein Paar festnimmt, was sie sehen in den Räumen ihrer Wohnungen. Sie schildern uns diese Bilder so genau wie eine Fotografie die Szenerie zeigen würde oder ein Film. Sie nehmen uns mit in ihre Gedanken und Gefühle. Dabei reflektieren sie kaum und sie erinnern nur wenige Begebenheiten ihre Vergangenheit. So entstehen vor dem Auge des Lesers Figuren, die losgelöst scheinen von der Realität, von Mitmenschen, von der eigenen Geschichte, alleine die fixen Daten der Demonstrationen geben der Geschichte ihren zeitlichen und räumlichen Halt.

Die Erzählstimmen umkreisen sich permanent und erzählen parallel, obwohl die wirkliche Zeit einen Abstand von 15 Jahren hat. Aber sehr schnell verweben sich die reichlich vorhandenen Motive, die immer wieder in die Erzählung der einzelnen Stimme ragen und für alle drei Figuren eine wichtige Rolle spielen. Es gibt das Motiv des Baumes und der Äste, für alle haben Räume eine besondere Bedeutung, Kunst, Politik und die Medien und ihre Erklärungskraft spielen immer wieder eine Rolle, das Motiv der Schwestern ist bedeutsam und natürlich das Motiv des Tanzens. Der Tanz, der Ausdruckstanz, ist das stark verbindende Moment zwischen den Protagonisten, ist auch politische Aussage, wie die Schwester erklärt:

Sie sagt, sie wolle glauben oder müsse jedenfalls darauf setzen, dass Tanzen wirklich heißen könne: die Regeln der Gesellschaft hinter sich zu lassen. Völlig anderen Regeln zu folgen. Das ist ja das Kommunistische für mich, lacht sie (…) Kommunistin sein müsste heißen, sich entschlossen auf etwas beziehen, das es nicht gibt, nie gegeben hat, niemals geben wird (das ist die einzige Politik). (S. 245)

Der Roman ist kunstvoll geschrieben und ebenso strukturiert. Die Erzählstimmen mit ihren nihilistischen, verstörenden, vielleicht schon pathologischen Haltungen graben sich tief in den Leser ein. Der Roman erfordert mit seinem Bauprinzip, den Leerstellen und den Motiven die volle Aufmerksamkeit des Lesers. Und doch lässt er den Leser merkwürdig ratlos zurück. Die Bedeutung vieler Motive, vieler Bilder, vieler Verbindungen, ja die Bedeutung der Geschichte überhaupt, lässt sich wohl erst im germanistischen Seminar enträtseln. Es sei denn, es wird hier der exemplarische Mensch des 21. Jahrhunderts gezeigt, der nicht nur sich selbst unsicher geworden ist, wie Freud es zu Beginn des 20. Jahrhunderts diagnostizierte, sondern als sozial isoliert und fremd in Raum und Zeit dargestellt wird, der also alle Ankerpunkte verloren hat. Und auch alle Möglichkeiten des öffentlichen, des politischen Diskurses, so wie sie seit den 68er Prostesten üblich waren, sind nicht mehr vorhanden. Der moderne Mensch ist sich nicht nur selbst fremd, er hat in der Konsequenz auch jeden Bezug zu seiner Umwelt verloren.

Thomas Stangl hat eine Homepage.

Thomas Stangl (2013): Regeln des Tanzes, Graz, Literaturverlag Droschl

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20 Kommentare

  1. Liebe Claudia,

    deine Beschreibung liest sich unheimlich interessant und so, als hättest du in der Tat ein lesenswertes Buch gelesen und doch bin ich irgendwie ein bisschen skeptisch, was Thomas Stangl betrifft. Vor vielen Jahren habe ich von ihm „Der einzige Ort“ gelesen, ein Buch, das sicherlich nicht schlecht ist, durch das ich mich jedoch hindurchquälen musste – mit dem abschließenden Gefühl, nicht viel verstanden oder gar mitgenommen zu haben. Im Kopf verbinde ich Stangl auch mit diesem ebreits vielzitierten und erwähnten Begriff „jirgl“ – so habe ich zumindest meine vergangene Lektüre von ihm in Erinnerung behalten. Mal schauen, ob ich irgendwann noch einmal einen zweiten Versuch wagen werde … 🙂

    Liebe Grüße
    Mara

    • Liebe Mara,
      dann bin ich offensichtlich beim Versuch, dem Roman „gerecht“ zu werden, ein wenig über das Ziel geschossen. Ich habe mich schon ziemlich gequält beim Lesen, ohne Buchpreisverbindlichkeit und ohne Blog hätte ich ihn bestimmt schon vor dem Ende zur Seite gelegt. Es geht mir wie Caterina bei Clemens Meyer: der Roman ist hochambitioniert und kunstvoll gemacht, es bleibt aber die Frage (nach H. Grönemeyer): Was soll das? Mein Deutungsversuch ist wirklich ein Versuch und selbst wenn ich den mal konsequent zu Ende denke, löst er sich eigentlich auf. Vielleicht soll der Roman gerade das: nichts bedeuten, sondern nur drei Figuren beim Wahrnehmen ihrer Umwelt beobachten. Und die Figuren sind und bleiben mir auch sehr fremd, ich habe ja mein Empfinden mit dem „pathologisch“ versucht zu beschreiben. Im übrigen passt Dein Lektüreerlebnis völlig zu meinem: Ich habe auch nicht wirklich viel verstanden und mitgenommen, außer ein sehr negatives und deprimiertes Grundempfinden, das die Figuren hinterlassen. Und das ist so massiv, dass ich gar nicht in den ich glaube sehr augenzwinkernden Erzählton Monika Zeiners hineinfinde.
      Erstes Resümee: Wenn Du schon keine guten Erfahrungen mit Stangl gemacht hast, ist dieser Roman sicher auch keine Empfehlung; und zweites: ich muss, trotz des Versuches der Wertschätzung und der Abgewogenheit, auch Negatives deutlicher benennen 🙂
      Viele Grüße, Claudia

      • Liebe Claudia,

        vielleicht ist es mir auch nur nicht gelungen, die negativen Aspekte, die du erwähnst, auch herauszulesen. Deine Besprechung liest sich einfach sehr rund und unheimlich durchdacht und ist wahrscheinlich ein wahrlich größerer Lesegenuss als das Buch selbst, so deute ich zumindest deinen Kommentar und deine ergänzenden Anmerkungen. Wie wir ja auch schon bei der Diskussion zu Clemens Meyer festgestellt haben, scheint es in diesem Jahr eine Tendenz zur „schweren Kost“ zu geben, zu Romanen, die Zeit und Arbeit kosten und sich vielleicht nicht immer auf den ersten Blick erschließen. So erging es mir übrigens auch mit Dagmar Leupolds Roman, den ich morgen vorstellen werde.

        Liebe Grüße
        Mara

      • Liebe Mara,
        vielen Dank für Deinen lieben Kommentar zu meiner Rezension, mit der ich wirklich sehr gerungen habe … und manchmal habe ich gedacht: Warum hast Du bloß damals auf diese eine Mail geantwortet 🙂 🙂 ?! Mit Blick auf Meyer und Leupold – und vielleicht auch Mora, so ist jedenfalls mein Eindruck bei ihrem ersten Roman gewesen – stellt sich ja wirklich die Frage, warum unser Leseerlebnis so von dem der „hohen“ Literaturkritik abweicht. Sehen wir die Genialität nicht oder, da habe ich mich ja nun doch langsam im Verdacht, bevorzugen wir eher die konventionellen Erzählungen (gar die spießigen?)? Ich bin gespannt, was noch bei unserem Projekt so zu Tage tritt und freue mich auf Deine Leupold Besprechung.
        Viele Grüße, Claudia

  2. So wie Du es darstellst, Claudia, erinnern mich die Figuren ein wenig an die Helden Genazinos. Nur erleben sich diese selbstironisch in ihrem Bewusstsein nicht so recht dazu zu gehören.
    Wie klingt denn der Grundtenor des Buches? Deprimiert, wütend, verzweifelt?

    • Liebe Atalante,
      mit Genanzino, zwei Versuche habe ich glaube ich gestartet, werde ich auch nicht so richtig warm. Da hast Du völlig recht, das ist ein toller Vergleich, denn die Figuren entziehen sich dem Leser auch (also mir wenigstens), weil sie so kalt und komisch wirken und wenig Sympathien wecken oder Identifikationsmöglichkeiten bieten. Der Grundtenor von Stangls Roman ist deprimiert, lethargisch verzweifelt (gibt es das?), es scheint alles sinnlos, es ist wenig, was die Figuren antreibt. Und dieses Gefühl legt sich über den Leser, mir jedenfalls ist es so ergangen, vielleicht, weil ich auch mit Stift und Papier gelesen habe und vor dem Hintergrund der zu schreibenden Rezension auch besonders aufmerksam, wie so eine erstickende Decke.
      Es ist aber schon merkwürdig, dass die professionelle Literaturkritik bei Romanen dieser Art immer so aus dem Häuschen gerät, während wir „normalen“ Leser da nicht so richtig etwas mit anfangen können. Stangls letzte Romane sind ja auch hochgelobt worden, während Mara ja ähnliche Leseerfahrungen schildert, wie ich sie nun gemacht habe.
      Und ich habe nun wirklich Schwierigkeiten, in meine neue Lektüre hineinzufinden. Aber, nun habe ich ja die Besprechung hinter mir, nun kann ich ja gedanklich Abstand gewinnen.
      Viele Grüße, Claudia

      • Nun, die Romane von Wilhelm Genazino gefallen mir sehr gut. Ich finde die Gedanken seiner Protagonisten gelungen, sie sind mir auch sympathisch. Mir imponiert besonders die Ironie, die man aber, wie ich deiner Antwort entnehme bei Stangl nicht findet. Überhaupt scheint der Vergleich doch nicht zu passen.
        Was ich mir unter einem „normalen“ Leser vorstellen soll weiß ich allerdings, ehrlich gesagt, nicht? 😉

      • Naja, mit den „normalen Lesern meinte ich uns, die wir nicht mit der Literaturkritik und dem ständigen Lesen von Romanen unsere Brötchen verdienen und deshalb vielleicht noch einen anderen Blick auf die Erzählungen haben. Aber vielleicht sind wir Literaturblogger auch schon nicht mehr so ganz „normal“… 😉

      • Da jeder andere Erfahrungen und Voraussetzungen mitbringt, bin ich vorsichtig bei Verallgemeinerungen, sowohl was den normalen Leser, den Literaturkritiker als auch den Literatur- oder Buchblogger betrifft.

        Sonst wäre es ja auch langweilig, verschiedene Rezensionen zu lesen.

      • Liebe Atalante,
        so meinte ich es nicht, sondern durchaus (selbst-)ironisch, was unser Interesse an Literatur, unseren Lesehunger usw. betrifft. Ich wollte hier keine Verallgemeinerungen oder gar Pathologien diskutieren.
        Viele Grüße, Claudia

  3. Liebe Claudia,
    zum Thema „normale Leser“: Das sind wohl auch wir nicht mehr, wie du in deinem letzten Kommentar ja schon vermutet hast. Auch wir haben einen anderen Blick als die Leser, die einfach nur die Bücher hintereinander weglesen, ohne sich anschließend Gedanken darüber zu machen, schon gar nicht in Form einer Rezension. Und auch untereinander unterscheiden wir uns natürlich, jede von uns hat einen anderen Hintergrund – hat etwas anderes studiert, arbeitet etwas anderes, hat andere literarische Vorlieben.

    Ich verstehe zwar, was du meinst, wenn du sagst, unsere Lesart würde sich möglicherweise von der der ‚professionellen‘ Literaturkritiker unterscheiden – das tut sie mit Sicherheit. Aber auch unter den Kritikern unterscheidet sie sich, jeder hat einen anderen Blick. Deine Mutmaßung, wir würden die „konventionellere“, vielleicht auch „spießigere“ Erzählweise bevorzugen, würde ich nicht unterschreiben, das wäre doch zu verallgemeinernd. Ich mag es unkonventionell und sperrig, ich mag es, wenn Literatur mich – auf inhaltlicher wie sprachlicher Ebene – herausfordert. Zu meinen liebsten Büchern gehören einige, die in formaler/narrativer Hinsicht höchst experimentell sind („postmodern“, um mal mit schnöden Etiketten um mich zu werfen), oder so herrlich verschwurbelte Texte wie Die Frequenzen von Clemens J. Setz. Was ich nicht mag, ist, wenn ich am Ende das Gefühl habe, nicht den Kern des Buches verstanden zu haben. Aber das kann mir genauso gut bei konventionellen Erzählungen passieren.

    Dennoch: Dass wir vor den auf den Longlist befindlichen Romanen kapitulieren, ist schon auffällig, da hast du recht. Ich ahne, dass mir Ähnliches auch mit Kehlmann passieren wird, aber auch die Feuilletonstimmen sind ja diesbezüglich nicht allzu euphorisch.

    Was Stangl betrifft, so klingt der Roman für mich – bis zu deinem Fazit – erst einmal sehr reizvoll. Mich stört es nicht, wenn Figuren durchweg melancholisch/wütend/desillusioniert sind, ich muss es ihnen nur abnehmen. Mir gefällt auch Stangls Sprache, soweit man auf der Basis der von dir ausgewählten Zitaten beurteilen kann. Die allein könnte für mich möglicherweise die Geschichte retten: Ich habe es in einem meiner Kommentare zu Meyer geschrieben, dass, wenn die Sprache brillant ist, ich manchmal auch über inhaltliche Verwirrungen und Verirrungen hinwegsehen kann, Clemens Setz ist da wiederum ein Paradebeispiel.

    Deine Rezension finde ich aber extrem hilfreich, zumal du in deinem Fazit eine Deutung wagst, die – zumindest in meinen Augen – sehr plausibel und klug klingt. Zu so einem Verständnis wäre ich selbst vermutlich gar nicht erst gekommen, und es ist gut möglich, dass mir bei Meyer genau solch eine tiefere Ebene/Aussage entgangen ist. Andere lesen den Roman mit Sicherheit anders als ich und haben einen Erkenntnisgewinn, den ich leider nicht hatte.

    So, genug geschwafelt.
    Herzliche Grüße,
    caterina

    • Liebe Caterina,
      wow, da hast Du aber viele Aspekte in Deinen Kommentar gepackt. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Am besten, wir treffen uns alle mal ganz spontan zur Diskussion über konventionell-spießige, experimentell interessierte, normale und unnormale Leser und ich backe dazu ein großes Blech Pflaumenkuchen. Das wäre, glaube ich, ganz spannend und super interessant zu diesem Thema.
      Ich lerne durch die Bloggerei und die Notwendigkeit, mich noch einmal anders mit den Textn auseinanderzusetzen, nun erst richtig meine Themen und meinen Geschmack kennen. Und das ist, so schreibst Du ja auch, sicherlich schon einmal ein anderer Umgang mit Literatur, als Leser ihn haben, die mehr alleine, vielleicht auch ohne Literaturkreis, lesen. Und die berufsmäßigen Leser werden sicherlich noch einmal einen anderen Zugang haben. Mir selber gefallen schon auch herausfordernde Texte, solche, die nicht nur in einer schönen und besonderen Sprache erzählen, sondern bei denen es hinter der Handlung noch möglichst viele weitere und unterschiedlichen Ebenen gibt, die erschlossen werden können.
      Bei Stangl gibt es die ganz bestimmt. Aber sie sind sehr schwer zu erschließen, für mich jedenfalls. Da ist sicherlich die ganz große Bedeutung der Demonstrationen gegen die FPÖ-Regierungszugehörigkeit zu nennen, da ist das Motiv des Tanzen – ich habe gelernt, dass der Ausdruckstanz nach 68 durchaus auch als Instrument der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung gesehen wurde – Räume (vielleicht ähnlich wie bei Meyer) und Wälder usw.. Dann die Suche der Protagonisten, die am Ende alle das Ziel ihrer Suche erreichen, aber lange nicht die Träume, Wünsche und Hoffnugen, die sie wohl damit verbunden haben. So ist der politische Diskurs gescheitert, aber die individuelle Suche auch. Das mag schon einen Aussage sein zur Befindlichkeit in unserer Zeit. — Womit ich nur schwer umgehen konnte, das sind die Erzähstimmen (meistens erlebte Rede), die, wohin sie auch schauen, nur Abgründe sehen und sich eben auch selbst so fremd sind und so isoliert leben. Das ist schwer zu lesen und auch schwer zu ertragen, passt aber natürlich total gut zu der deprimierenden politischen Aussage (wenn die denn so ist, wie ich sie deute).
      So, ich bin jetzt mal dafür, dass Ihr Euch auch mit dem Roman beschäftigt und dann bin ich mal sehr neugierig auf Eure Analysen und Deutungen 🙂
      Viele Grüße, Claudia

  4. Liebe Claudia, ich persönlich freue mich, wenn du mir mal nicht den Mund wässrig machst 🙂 Meine Leseerfahrung mit Lewitscharoff, der diesjährigen Bücher-Preisträgerin, ist übrigens ähnlich. Wenn sich ab und an unsere Bewertungen massiv von denen der hauptberuflichen Kritiker unterscheiden, liegt das vielleicht auch an unterschiedlichen Erwartungen. Das heißt aber nicht, dass wir nur noch spießige oder konventionelle Bücher mögen. Ich halte mich da eher an Jeanette Winterson, Literatur ist kein intellektueller Luxusartikel, sondern muss mir etwas Handfestes geben, das kann auch Unterhaltung sein, aber genauso Horizonterweiterung, Anregung, mich und andere, meine Umwelt, die Geschichte, andere Länder besser kennenzulernen. Aber rein stilistische Experimente sind mir zu wenig, und eine rein banale Wiedergabe des Unschönen oder Lethargisch-Deprimierten bringt mich persönlich auch nicht weiter. Lass dich’s also nicht verdrießen. Ich wünsche dir sehr, dass euer Projekt noch lohnenswerte Bücher für dich bereit hat. Liebe Grüße von Anna

    • Liebe Anna,
      ich wäre ja schon neugierig, wie der Stangl-Text auf Dich wirkt ;). Aber Deine Ausführungen zu Jeanette Wintersons Sicht auf Literatur finde ich ganz, ganz großartig (wo hast Du sie gefunden?). Fühl Dich also eingeladen zu unserer Pflaumenkuchen-Diskussion über „gute Literatur“ (s. Gespräch mit Caterina).
      Stangls-Roman hat schon ungeahnte Nachwirkungen. Je mehr Abstatnd ich zur reinen Lektüre habe, desto mehr denke ich, dass es ein hoch politischer Text ist, bei dem Form und Inhalt sehr passgenau sind. Er ist nur eben auch sehr deprimierend, negativ, ohne Lichtblick, ohne Ironie und Schmunzeln (auch das passt ja zu einer deutlichen Aussage) und ist deshalb nicht unbedingt der schiere Lesegenuss.
      Mein aktuelles Buch (Monika Zeiner) hat da einen deutlich anderen Ton, in den ich mich – der Kontrat ist schon sehr groß – immer noch nicht so recht hineinfinden kann, denn er hat kein bisschen Gesellschaftskritik. Jedenfalls kann bei der Lektüre auch schon einmal gegrinst werden.
      Viele Grüße, Claudia

  5. Mit Thomas Stangl geht es mir ganz ähnlich bezüglich dem „Warmwerden“, obwohl ich ihn in Wien ja öfter bei Lesungen oder bei Preisverleihungen sehe und höre. „Was kommt“ (Alpha Preis) habe ich gelesen und glaube auch nicht so ganz verstanden, bzw. nicht richtig hineingekommen. Ich habe glaube ich noch nicht sehr nachgedacht woran das liegen könnte, weil ein sehr sympathischer und in Österreich hochgeschätzter Autor, deshalb finde ich diese Diskussion hier sehr interessant, weil mir das vielleicht ein bißchen weiterhilft, bzw. neue Denkanstöße gibt.

    • Liebe Eva,
      nachdem ich mich nun so mit den „Regeln des Tanzes“ auseinandergesetzt habe, ein wenig ratlos bin, eine Deutungsidee habe, der Text aber sehr sperrig ist, würde ich den Autor ja mal total gerne bei einer Lesung erleben. Du schreibst ja, dass er sehr sympathisch ist, ganz bestimmt also anders als seine einsamen, sich fremd fühlenden Figuren in seinen Romanen. Ich habe vor diesem Roman noch kein anderes Buch von Stangl gelesen, habe aber ein bisschen in der Literaturkritik gestöbert und den Eindruck, dass er wohl immer so schwierig zu erschließende Texte schreibt mit Figuren, die sich so verlorengegangen sind. Da ist dann immer wieder von „radikaler“ und „konsequenter“ Gestaltung die Rede. Wird er denn in Österreich als gesellschaftskritischer Autor, als politischer Autor wahrgenommen?
      Viele Grüße, Claudia

  6. 17. 9. „Alte Schmied“, wird aber wahrscheinlich ein bißchen weit sein hinzugehen.
    Ich habe über diese Rezensionsdiskussion ein wenig nachgedacht, weil ich daraufgekommen bin, daß es mir Stangl offenbar immer ganz ähnlich geht. Hoch gelobt, aber beim Lesen und Hören sperrig und schwer verständlich, was man bei einer Lesung sich aber wahrscheinlich nicht sagen trauen würde, weil die Kritik von der schönen Sprache ganz entzückt ist. Nach der Diskussion denke ich mir, ich sollte vielleicht ein wenig kritischer sein, weil ja die Kunst im Elfenbeinturm, die nur die Kritiker wollen und die Leser nicht verstehen, nicht das ist, was ich wirklich will. Ich weiß nicht wirklich, wie das in Deutschland ist, denn da bin ich kaum, aber in Österreich wird viel von der schönen Sprache a la Andrea Winkler, Richard Obermayr gehalten und da gehört der Stangl sicher auch dazu und auch viel vom experimentellen Schreiben. Die ganz jungen werden dann vielleicht wieder mehr erzählender. Und der Glavinic ist auch eine Ausnahme. Ich würde den Stangl eigentlich nicht als politischen Autor wahrnehmen, obwohl das Buch ja sehr politisch ist und von den schwarz blau-Demonstrationen, wo ich auch auf die Straße gegangen bin, erzählt und interessant, im Juni gab es eine Veranstaltungsreiche in der „Alten Schmiede“, die „Wie im wirklichen Leben hieß“, da war der Stangl eingeladen und hat zur Revolutionen mit Beispielen aus seinem neuen Buch gesprochen. Das Thema war sehr politisch, für mich ist aber immer noch der Sprachkünstler übergeblieben. Aber vielleicht hilft darüber zu reden, um etwas bewußt zu machen und zu verändern und deshalb finde ich diese Diskussion auch sehr interessant.

    • Liebe Eva,
      ja, wenn die Technologie des Beamens endlich alltagstauglich wäre, dann würde ich schon gerne nach Wien kommen am 17.9…. Ich finde es nun schon interessant, dass Stangl auf der Veranstaltung, von der Du berichtet hast, die politisch gefärbten Auszüge aus seinem Buch liest. Vielleicht liegt ihm ja doch nicht nur die Sprache am Herzen, sondern darüber hinaus auch eine Aussage zur gesellschaftlichen Situation.
      Und sehr bemerkenswert finde ich unsere angeregte Diskussion zu diesem Roman. Die Romane, die wir alle auf den ersten Blick und ganz einhellig toll finden, regen nie zu solchen langen, spannenden Kommentaren an. Also hat Stangl Roman doch eine unglaubliche Wirkung.– Ich merke, dass ich mich langsam aber sicher zu einem Stangl-Anwalt entwickele :-).
      Viele Grüße, Claudia

  7. Hallo Claudia,
    auf deine Frage, wo ich etwas über das Literaturverständnis von Jeanette Winterson gefunden habe: Vielleicht hilft da meine Besprechung zu ihrem Roman „Why be happy when you could be normal“ weiter. Irgendwann lerne ich dann auch, wie man in Kommentaren verlinkt … Und bei der Pflaumenkuchen-Runde bin ich dabei 🙂 LG Anna

    • Liebe Anna,
      ich habe einfach mal ganz frech in Deinem Kommentar den Link zu Deiner Besprechung eingefügt 😉 und hatte schon gehofft, dass Dein schönes Zitat aus dem Buch von Winterson ist, das hier noch liegt und auf mein Lesen wartet. Einige Titel sind durch das Buchpreisprojekt etwas nach hinten gerutscht. Aber nun kann ich mich ja richtig auf das Wintersonsche Werk freuen. Und ich freu mich auf unsere Pfluamenkuchen-Runde bei schönstem Wetter und anregenden Gesprächen :-). Müssten wir ja doch wirklich mal überlegen, wie wir die Idee in die Realität umsetzen könnten…
      Viele Grüße – und einen schönen Start, Claudia

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