Die Stimme der Großmutter Lilly habe sie zuerst gehört, so berichtet Ulrike Draesner in ihrem Werkstattessay zum Roman. Plötzlich sei sie da gewesen, die Großmutterstimme, und habe von der Vertreibung aus Oels erzählt, ohne Punkt und Komma, atemlos immer wieder, wenn sie die Bilder der Erinnerung kaum ertragen konn-te. Schnell habe sie notiert, was Lilly zu erzählen hatte, obwohl sie doch eigentlich an einem ganz anderen Roman arbeitete und obwohl ihr doch die Idee, die eigene Familiengeschichte in einem Roman zu verarbeiten auch immer als viel „zu nah“ erschienen war. Aber die Stimme der Großmut-ter und ihre zu Lebzeiten nie erzählte Geschichte ließ Ulrike Draesner nicht mehr los. Vielleicht war nun auch, 60 Jahre nach Kriegsende, endlich die Zeit gekommen, diese Geschichten zu erzählen. Die Autorin begann zu recherchieren, reiste nach Breslau und traf Vertriebene aus Ostpolen, die, da diese Gebiete nun zur Ukraine gehörten, von dort vertrieben wurden, in Breslau in die verlassenen Wohnungen der Deutschen einzogen und sich in dieser Umgebung entwurzelt und fremd fühlten, wie die Breslauer in Deutschland. Da, so berichtet Ulrike Draesner, habe sie die Konzeption für ihren Familienroman gefunden: verschiedene Figuren unterschiedlicher Generationen zweier ver-triebener Familien sollten ihre Erlebnisse und Geschichten erzählen, sodass erkennbar werde, wie die Traumata von Krieg und Flucht sich über die Generationen in das Bewusstsein einschreibe, jede neue Generation wieder neu betreffe, obwohl die Ereignisse doch so lange zurückliegen.
Und damit erzählt Ulrike Draesner am Beispiel der Familien Grolmann und Nienalt das Schicksal von Millionen Menschen, die nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs aus ihrer Heimat vertrie-ben werden. Manchmal wird die Vertreibung „Evakuierung“ genannt, mal auch „Repatriierung“, ein Begriff der die Tatsachen besonders falsch darstellt, weil die Vertriebenen ja gerade nicht in eine Heimat zurückkehren, denn sie haben viele Generationen lang dort gelebt, wo sie nun nicht mehr geduldet, wo gar gewalttätige Übergriffe zu erwarten sind [1]. Statt Repatriierung und Heimkehr haben die Menschen also nicht nur Kriegserlebnisse zu verarbeiten, sondern nun auch noch einen Zusammenbruch des normalen Alltags, gefährliche und entbehrungsreiche Fluchten, Verlust von Familienmitgliedern und Freunden, den Verlust der gewohnten Umgebung, des Eingebundenseins, der lieb gewonnen (Familien-)Rituale. Was den Menschen auf ihren Wegen passiert, wie die Flucht die Menschen verändert, dieser Ausnahmezustand, in dem übliche Werte und Moral nichts mehr gelten, in dem die Erlebnisse so unglaublich sind, dass die Worte fehlen, sie zu erzählen, ja, was Flucht aus den Menschen macht, davon erzählt Ulrike Draesners beeindruckender Roman über zwei Familien.
24 Stunden Zeit habe sie, so hört Lilly aus dem Megafon des Wagens, der durch die Straßen von Oels fährt, um ihre Flucht vorzubereiten. Seit Wochen schon beobachtet sie, wie die Flüchtlinge aus Ostpreußen, die dick vermummten Frauen und die mageren Pferde, durch Oels kommen. Sie ma-chen ihr Angst und sie meidet ihre Blicke, fürchtet sich davor, von ihnen „angesteckt“ zu werden. Nun muss sie selbst packen und drei Pappkoffer füllen für sich, für den 14-jährigen Eustachius und den 23-jährigen Emil mit dem verkrüppelten Fuß. Später kann sie sich nicht mehr erinnern an diesen Tag.
der letzte Tag vor der Flucht, der letzte Tag zuhause, vollkommen
vergessen
nichts aufgehoben, nichts in Erinnerung behalten, Lilly, kein Vorgefühl
so stumpf
das graue Mittagslicht, Januar, kahle Äste, langsam, langsam das Wiedererwachen der Sonne (…). (S. 199)
Schon bevor sie überhaupt losgeht, zum letzten Mal die Türe absperrt, den Schlüssel wie üblich versteckt, damit Hannes, wenn er aus dem Krieg heimkommt, ihn finden und aufschließen kann, wird sie selbst die üblichen Normen und Werte verletzen, wird selbst den Alltag auf den Kopf stellen, wird selbst schuldig an Eustachius. Weil sie nämlich den Familiendackel Max, der nicht zurückgelassen werden soll, aber auch nicht mitgenommen werden kann, nicht selbst töten will, befiehlt sie ihrem Sohn Eustachius, ihn zum Metzger zu bringen. Eustachius gehorcht, dieses eine Mal noch. Später, die Familie hat sich nach der Flucht in Bayern wieder gefunden, erzählt er seinem Vater Hannes davon, mit großen Vorwürfen, sich dem Befehl der Mutter, dieser „als Verantwortung getarnten Feigheit und Ideenlosigkeit“ nicht entzogen zu haben, es gebe alternative Handlungen – und sicher meint er damit auch die Tat, der er sich schuldig gemacht hat auf der Flucht, die Entscheidung, die er in Anlehnung an die Entscheidung der Mutter getroffen hat und über die er erst am Ende seines Lebens sprechen kann.
Draesners Figuren entkommen Krieg und Vertreibung alle mit starken Deformationen ihrer Persön-lichkeit. Sie verschließen sich, werden immer einsamer, denn jeder bleibt mit seinen Erinnerungen alleine, jeder auch mit seiner Schuld, und manchmal wissen sie nicht einmal mehr, ob ihre Erinne-rung auch das selbst Erlebte, „das Eigenste“ ist, oder nur etwas Angelesenes: Lilly, die sich nicht mehr erinnern kann an ihren letzten Tag zu Hause und die so hart und entschlossen geworden ist, dass sie sich gegen jeden Angriff mit Gewalt zur Wehr setzt; Hannes, ihr Mann, der in seinem Leben nie mehr von seinen vielen Kriegserlebnissen loskommt, der sich manchmal sogar zurücksehnt in die Schlacht, weil er an der Front „die Augenblicke größter Ausgesetztheit und größter Geborgenheit“ erlebt hat, der aber über all seine Erlebnisse, über sein Täter-Sein und sein Opfer-Sein, schweigt und sich in der neuen Heimat Bayern und seiner Arbeit bei der Bank nur minderwer-tig fühlt: „angestellt, halbstattlich, ein kleines Licht“; Eustachius, viel zu früh erwachsen geworden, geht seinen Weg, zielstrebig und wortkarg. Er arbeitet tagsüber auf Baustellen, geht abends zur Schule, um das Abitur zu machen, denn er will Forscher werden, will forschen, wie es zum freien Willen der Menschen kommt, will sich dieses Themas mit Hilfe der Affen annehmen, der Spezies, die dem Menschen doch so ähnlich ist: „Sie könne man nicht manipulieren“ behauptet er seinem Vater gegenüber, „nicht wie uns. Nicht zum Töten von Artgenossen animieren.“
Ulrike Draesner hat alle ihre Figuren mit eigenen Stimmen versehen; die von Hannes erzählt gefasst, fast distanziert, was sie wohl vorher noch nie erzählt hat; Lillys Stimme dagegen scheint sich zu überschlagen, wenn ihr selbst die Erinnerung so unglaublich, so irreal vorkommt, dass die Ge-schichte sich einer chronologischen, dem üblichen Satzbau folgenden Erzählung verschließt; Halka Nienants Stimme dagegen, wird immer fester, wenn sie davon erzählt, wie sie sich im Nach-kriegschaos Breslaus ein eigenes Leben, eine Familie, eine Zukunft aufbaut. Und dann gibt es noch Simone, Eustachius Tochter, auch eine Affenforscherin, und Boris, Psychologe und Sohn Halkas, beides Kriegsenkel also, beide in den 1960er Jahren geboren in eine friedliche Umgebung, beide aber getroffen durch die Vertreibungs-Verletzungen ihrer Eltern, die sich nun kennen und lieben lernen.
Stichpunkte dazu, in welch luft-, genauer erdleerem Raum sich die ersten, einer Vertreibung nach-folgenden Generationen befanden, welchen Ängsten, Verletzungen, Einschränkungen sie sich aus-gesetzt sahen. Welcher Einsamkeit. Ich erzählte Simone von den amerikanischen Forschungen zu „postmemory“ und „co-witnessing“, zur Übernahme von Gefühlen für jene, die nicht mehr fühlen konnten, führte Eva Hoffmanns Begriff der „broken refrains“ an, der sehr genau den zerscherbten Sirenengesang der emotionalen Wiederkehr traumatisierender Erlebnisse bei Töchtern, Söhnen und Enkeln fasse. (S. 130)
Es sind beeindruckende Stimmen, die beeindruckende Erlebnisse zu erzählen haben, immer aus ihrer ganz persönlichen Perspektive, nie larmoyant, nie das eigene Leid mit dem der anderen ver-gleichend, manchmal, gerade in der Generation der Enkel, durchaus auch selbstkritisch und selbst-ironisch. Im Kanon dieser Stimmen ist Eustachius die Hauptstimme, denn er ist, über 80-jährig mittlerweile, immer noch besessen von seiner Forschung. Alle Forschungsphasen hat er seit den 1950er Jahren mitgemacht, nun soll die systemische Forschung neue Aufschlüsse bringen. Aus seiner Geschichte heraus ist sein Forschungsdrang vielleicht nachvollziehbar, für den Leser ist sein Einfluss auf alle anderen Figuren, die er mit seinen Forschereskapaden bis zu seiner Enkelin ordent-lich aufmischt, manchmal zu dominant.
Wie Krieg und Vertreibung wirken bei denen, die diese Situationen erlebt haben, aber auch bei ihren Kindern und Kindeskindern – das hat Ulrike Draesner in ihrem Roman sehr beeindruckend und lange nachwirkend beschrieben. Sie hat Figuren erfunden und lässt sie erzählen, was passiert ist und wie die Traumata jahrzehntelang nachwirken. Die Figuren werden beim Lesen lebendig und hinterlassen ihre intensiven Spuren in der Erinnerung der Leser – auch derjenigen Leser, die diese (Familien-)Erinnerungen nicht haben. So bleibt ein Bewusstsein erhalten zu einem Thema, das mit Blick auf die europäische Geschichte – und sicherlich auch vor dem Hintergrund des Holocausts – bisher in der Literatur nicht oft aufgegriffen worden ist, aber einen ganz wichtigen Beitrag zum Verständnis unseres Blicks in die Welt liefert („deutsche Angst“). Und ein Blick auf die Krisenherde der Welt zeigt, dass dieses Thema ein ganz aktuelles und damit auch zukünftiges ist [2].
Anmerkungen:
[1] Sabrina Janesch hat die Geschichte der Vertreibungen in ihrem Roman „Katzenberg“ auch schon thematisiert und dabei beeindruckend erzählt, wie Dorfbewohner unterschiedlicher Nationalitäten, die gut zusammengelebt, sich gegenseitig unterstützt und geholfen haben, die Geburt von Kindern gemeinsam „begossen“ und den Tod von Familienmitgliedern gemeinsam betrauert haben, nun plötzlich so gewaltsam aufeinender losgehen, dass das Leben der polnischen Bevölkerung gefährdet ist, wenn sie nicht Hals über Kopf flieht – um sich dann dort anzusiedeln, wo die Häuser nach der Flucht der deutschen Bevölkerung nun leer stehen.
[2] In ihrem Essay zeigt Carolin Emcke auf, warum es so schwer ist, von Krieg und Gewalt, Folter und Vertreibung zu erzählen. Die Gründe dafür, die sie hier auf der Grundlage vieler Gespräche mit Betroffenen in Krisengebieten darlegt, beleuchten auch die Hintergründe der Figuren in Ulrike Draesners Roman.
weitere Links:
Weitere Besprechungen findet Ihr bei Tilman und Sophie.
Die Autorin hat eine eigene Homepage zum Buch, auf der sie ihren Essay veröffentlich hat sowie weitere Materialien.
Ulrike Draesner (2014): Sieben Sprünge vom Rand der Welt, München
EIne tolle Besprechung, auch ganz am Ende deine Schlußfolgerungen. Und, auch hier darf die gängige Anmerkung nicht fehlen: Scheinbenkleister. Schon wieder wächst der Stapel. Du hast mich überzeugt, dass ich bei DEM Buch doch noch hinlangen muss.
Liebe Birgit,
auch wenn der Draesner-Roman ein echtes Schwergewicht ist (es sind immerhin 550 Seiten), kann ich mir gut vorstellen, dass er thematisch etwas für Dich ist. Ich habe das Thema Flucht und Vertreibung jedenfalls so noch nicht gelesen. Gerade dieser Teil des Romans ist sehr beeindruckend – aber es gibt natürlich noch jede Menge andere Facetten.
Viele Grüße, Claudia
Danke für Deine interessante Besprechung, Claudia.
Das Thema der Kriegsenkel wird in den letzten Jahren vermehrt zum Stoff der Literatur. Kein Wunder, die Schriftsteller der betreffenden Generation nähern sich dem Lebensalter der persönlichen Erinnerungen.
Mittlerweile ist es ja auch Thema der psycho-historischen Forschung.
Spannende finde ich, wie diese Erfahrungen literarisiert werden, mal als Liebesgeschichte, mal als Familienroman oder als literarisch-poetische Variation, wie z.B. bei Marion Poschmann.
Liebe Kerstin,
wir haben hier ja schon einmal über Sabine Bode und ihre Veröffentlichungen zu den „Kriegskindern“ und den „Kriegsenkeln“ geschrieben. Aus meiner Wahrnehmung heraus sind ihre Bücher der Start dazu gewesen, die erlebten Geschichten unter dem Blickwinkel der – vererbten – Kriegserlebnisse noch einmal anders zu betrachten und ein Stück auch verstehen zu können, warum Eltern, Kriegskinder eben, manchmal so merkwürdig sind. Auch Ulrike Draesner berichtet auch über ihre Bode-Lektüre, die sicherlich auch in ihren Roman mit eingeflossen ist. Und dass dieses Thema mehr und mehr in die Literatur einfließt finde ich auch sehr interessant, es macht ja auch ein Stück unserer Befindlichkeit deutlich und wie wir alle immer noch von diesen Kriegserlebnissen zumindest stückweise beeinflusst sind. So haben meine Eltern immer über die Städtebambardierungen erzählt, wo sie sich in Sicherheit gebracht haben, wie es war, wenn ganze Straßenzeilen gebrannt haben, wie es war, ausgebombt worden zu sein. Das wird sich alles tief in unser Empfinden eingegraben haben, Stichwort „german angst“.
Viele Grüße, Claudia
Ja, in den Kommentaren zu meinem Beitrag über Poschmanns Roman haben wir darüber schon diskutiert.
Ich würde neben Bode, auch noch Alberti und Usdorf nennen, die das Thema einer breiten Öffentlichkeit publik gemacht haben. In der psychologischen Forschung ist es schon seit längerem Gegenstand.
Von „German Angst“ würde ich allerdings nicht sprechen, da traumatischen Erfahrungen von Krieg und Flucht fast alle Menschen betreffen. Leider.
Vielen Dank für deine Besprechung. ich arbeite mich gerade in kleinen Schritten durch das Werk. leichte Kost ist der Roman mit Sicherheit nicht, aber ich finde ihn literarisch sehr hochwertig und facettenreich. es ist jedenfalls interessant zu lesen, wie andere das Buch erfahren.
Mir sind auch besonders die Flüchtlingsgeschichten in Erinnerung geblieben, die ja offensichtlich nicht nur in den betroffenen Familien, sondern gleich mal in der ganzen Gesellschaft ziemlich wenig thematisiert wurden. Und wenn Du es noch nicht gesehen hast: Caterina berichtet in ihrem Blog von der Blind Date Lesung letzte Woche in Frankfurt:
http://caterinaseneva.wordpress.com/2014/09/15/blind-date-lesung-in-frankfurt/
Noch viele spannende Draesner-Lektüren wünscht Claudia