An dem Wochenende, als Wolfgang Herrndorfs Buch veröffentlicht wurde, musste man im Zeitschriftenladen eines Vorortbahnhofs, der üblicherweise über ein recht schmales Buchsortiment nicht allerhöchsten Niveaus verfügt, geradezu über Herrndorfs Tagebuch klettern, denn es lag dort gleich in mehreren großen Stapeln bereit. Offensichtlich erwartete man auch im Vorort einen reißenden Absatz. Und in den Feuilletons überschlugen sich die Rezensenten vor Begeisterung. In der ZEIT verstieg sich die Kritikerin gar zu diesen schier unglaublichen Aussagen:
Arbeit und Struktur trifft Deutschland zur Adventszeit. Nicht nur zur kalendarischen, sondern zu einer gefühlt schon viel zu lange andauernden emotionalen Festzeit, in einem Zustand kollektiver Weihnachtsmarktverfettung, in dem das Land es sich gemütlich gemacht hat, ohne sich dabei selbst ganz geheuer zu sein. Wie ein Weckruf schrillt die Ich-Geschichte durch die „Deutschland geht es gut“-Melodie, diese ewig frohe Lähmungsbotschaft der Kanzlerin. Gibt es hierzulande vielleicht doch mehr Menschen, als man denkt, die das Einbetoniertsein im Positiven als Stillstandshorror empfinden?
Schade. So viel Hype, soviel merkwürdige Begeisterung, so viel Spiel mit Voyeurismus und Sensation, die Instrumentalisierung des Autors gar zum Erwecker einer vermeintlich eingelullten Bevölkerung, haben mir den Eindruck vermittelt, dass ich dieses Buch nicht lesen wollte. Erst die wohlformulierten, ruhigen und wertschätzenden Besprechungen auf den Blogs haben mich – völlig zu recht – überzeugt, Herrndorfs Weblog zu lesen Und tatsächlich schreibt hier jemand vor allem über sich und seine ganz individuelle Geschichte, über sein Leben mit einer tödlichen Krankheit, über seinen Umgang mit dem Gedanken an den Tod, und, ganz wichtig, über die Frage der Würde und der Selbstbestimmung in dieser Ausnahmesituation. Dies sind im übrigen Themen, denen sich unheilbare Kranke oft stellen, meistens jedoch nicht so öffentlich, dass es bis zur ZEIT vordringt. Der ZEIT-Kritikerin seien Besuche in einem Hospiz empfohlen.
Wolfgang Herrndorf beschreibt in seinem Tagebuch, wie er sein Leben anpacken möchte – und auch anpackt – nach der Diagnose Glioblastom, nicht heilbarer Hirntumor, der ab Diagnose, je nach Quelle, 17,1 Monate Überlebenszeit gewährt oder auch fast zwei Jahre und mit fortschreitender Entwicklung nicht nur den Körper mehr und mehr schwächt, sondern auch im Gehirn für ungewisse Ausfälle sorgen kann, bei Herrndorf kommt es im Laufe der Zeit zu Sprachverfall. Wie kann man nur weiter leben mit dieser Aussicht, wie mit den Ängsten und Panikattacken umgehen, wie die knappe verbleibende Zeit füllen?
Schreiben, so überlegt er noch im Krankenhaus, die Diagnose ist kaum gestellt, will er, mindestens einen der beiden Romane endlich fertigstellen, an denen er schon so lange gearbeitet hat. Gestützt wird sein Entschluss zum Schreiben, zu seiner Art von Arbeit, durch das Telefonat mit einem ebenfalls Erkrankten, der seine Diagnose nun schon dreizehn Jahre überlebt hat:
„Er fing sofort wieder an zu arbeiten. Informierte alle Leute, dass ihm jetzt die Haare ausgingen, sich sonst aber nichts ändere und alles so weiterlaufe wie bisher, keine Rücksicht, bitte. Er ist Richter.
Und wenn mein Entschluss, was ich machen wollte, nicht schon festgestanden hätte, dann hätte er nach diesem Telefonat festgestanden: Arbeit. Arbeit und Struktur. Sonderbares Gefühl, mit einem gänzlich Fremden zu telefonieren und sich darüber zu unterhalten, wie man heimlich unter der Bettdecke weint. Rufen Sie mich nächstes Jahr wieder an. Ja, mach ich.“ (S. 114)
So ist Herrndorfs Tagebuch zu einen Teil ein Werkstattbericht. Mit unglaublicher Disziplin, mit einer festen (Tages-)Struktur, stellt er erst den Jugendroman „Tschick“ fertig, stürzt sich dann in die Überarbeitung des Krimis bzw. Thrillers „Sand“, notiert vieles auf seinem Blog, erst um die Freunde zu informieren, dann eine immer größer werdende Öffentlichkeit, und beginnt noch einen neuen Roman, den er aber nicht fertigstellen kann. Er schreibt zwei Tage nach der OP, während der Chemotherapien, er schreibt vor wichtigen Untersuchungen – „ Morgens Arbeit, mittags MRT, dann geschlafen.“-, er schreibt während seiner Krankenhausaufenthalte, er schreibt im Urlaub am Meer, die Freunde helfen beim Lektorieren am Küchentisch, im Krankenhaus. Und es stellt sich ein unglaublicher Erfolg ein. „Tschick“ stürmt die Bestsellerlisten, wird zur Schullektüre selbst im Ausland, für „Sand“ bekommt Herrndorf den Leipziger Buchpreis. Geld spielt plötzlich keine Rolle mehr, „und es gibt nichts, was mir egaler wäre“.
Herrndorfs Tagebuch ist aber natürlich auch die Dokumentation seines Krankheitsverlaufes, der Rückschlüsse auf den Menschen ermöglicht, der hier der all die Therapien fast dankbar annimmt, die erforscht sind und wissenschaftlichen Standards entsprechen, dagegen aber eine völlige Abneigung gegen jede Form quacksalberischer Tipps entwickelt, die ihm immer wieder angedient. Statt dessen berichtet er, oft unglaublich distanziert, über Untersuchungsergebnisse und Diagnosen – alle paar Monate steht das nächste MRT an, dessen Ergebnis die verbleibende Lebenszeit streckt oder kürzt -, über Therapien und Medikamente, immer wieder dokumentiert er die eigene Leistungsfähigkeit, die sichtlich abnimmt:
Zum ersten Mal war ich hier vor genau zweieinhalb Jahren, als ich mit dem Fahrrad zum Kienberg fuhr, um die Straßen in der Umgebung des Hauses von Maik Klingenberg abzufahren. Ich erinnere mich an den herrlichen Tag, den Sonnenschein und an das Mädchen, das in der gegenüberliegenden Ecke über ihrem Tablett saß. Unglaublich, wie ich seitdem abgebaut habe, körperlich und geistig. (S. 366)
Neben diesen Einträgen finden sich aber auch die wunderbar scharfzüngig-bösartigen Beobachtungen zum Literaturbetrieb, zur Gegenwartsliteratur und ihren Autoren, zu Medien und ihren Vertretern, zum Papstbesuch in Berlin, der dazu führt, dass eine Großstadt lahm gelegt wird „durch den Besuch eines Mannes, der eine dem Glauben an den Osterhasen vergleichbare Ideenkonstruktion als für erwachsene Menschen angemessene Weltanschauung betrachtet“. Und es gibt auch die Berichte über Tage der Lebensfreude, über das Fußballspielen, das er so lange wie möglich betreibt, das Schwimmen im Plötzensee, das Fahrradfahren, auch wenn er sich mehr und mehr verfährt, das Schlittschuhfahren. Er geht ins Kino, trifft sich mit Freunden, liest Bücher wieder, die ihm wichtig sind. Er fährt in Urlaub, weil er das Meer so liebt, besucht im Sommer seine Eltern an der Ostsee, schwimmt, spielt Volleyball.
Diesen Themen gegenüber aber steht ein weiteres, ganz wichtiges, das Thema nämlich, mit dem Wolfgang Herrndorf sich seit der Diagnose beschäftigt, das ihm so wichtig ist, wie die Entscheidung, wie er sein Leben gestalten will: Die Frage nämlich nach dem selbst gewählten Tod zu einem Zeitpunkt, den er selbst bestimmt, weil für ihn an einer Stelle eine Grenze überschritten wird, die er sehr klar bezeichnet:
Dieser Scherbenhaufen im Inneren bei gleichzeitiger Unfähigkeit zu sprechen, das ist nicht meine Welt. Auch wenn man da möglicherweise noch zwei Gemüsestufen über dem Apalliker rangiert, das geht nicht. Menschliches Leben endet, wo die Kommunikation endet, und das darf nie passieren. Das darf nie ein Zustand sein. Das ist meine größte Angst. (S. 224)
Er klärt die Frage des Sterbens für sich, erklärt sie der Familie, den Freunden, und er setzt seinen Entschluss auch um, indem er sich erschießt an dem Platz, den er sich dafür ausgeguckt hat. Damit hat er selbst bestimmt wie und letztendlich auch wann er stirbt und so für sich bis zuletzt eine Selbstständigkeit bewahrt, die auch Würde genannt werden kann [1]. Auch wenn seine immer wieder formulierten Vorschläge, wie Sterbehilfe in Deutschland aussehen sollte, für großen Diskussionsbedarf sorgt, so hat er für sich doch eine Entscheidung getroffen, die Respekt verdient. Und leichtfertig hat er sie nicht getroffen, denn gerade Verlust der Kommunikation und sozialen Interaktion, die er als Kriterium definiert hat, ziehen sich deutlich durch die letzten Monate. Und je schwächer er selbst wird, umso mehr schärft sich sein Blick für die anderen, auch kleinen Lebewesen um ihn herum, für eine Maus auf seiner Terrasse im Dachgeschoss, einen Vogel, eine Libelle, die stirbt, obwohl er ihr den Weg aus der Wohnung gezeigt hat und die er in einer Streichholzschachtel beerdigt.
[1] Peter Bieri (2013): Eine Art zu leben. Über die Vielfalt der menschlichen Würde, München, S. 346 ff.
Wolfgang Herrndorf (2013): Struktur und Arbeit, Berlin, Rowohlt Verlag
Dein Unverständnis über die Pressereaktionen kann ich gut nachvollziehen, ich fand es arg befremdlich. Mich hat das ganze Gebaren noch aus einem anderen Grund verwirrt: Arbeit und Struktur existierte schon seit 2010 im Netz, war für jedermann zugänglich. Warum also erst jetzt diese Lobpreisungen, als das Blog als Buch erscheint? Weil man sich nicht mit digitalen Erzeugnissen auseinandersetzt? Der Gehalt hat sich ja nicht verändert…
Liebe Grüße
Kef
Liebe Kef,
da hast Du Recht, daran habe ich damals gar nicht gedacht. Und es macht den Hype ja noch ärgerlicher. Aber dahinter steht ja ein Autor, der nichts kann für das mediale Sturmläuten und der in anderen Angelegenheiten sogar bissig böse Kommentare dazu verfasst hat. Und den Autor lohnt es sich dann doch zu lesen.
Viele Grüße, Claudia
ich muss zugeben, daß ich die existenz des blogs zwar kannte, ihn aber auch nicht gelesen habe. bei mir lag es dran, daß ich die wenigen male, die ich reinschaute, immer mitten drin landete, ohne bezug, ohne geschichte, ohne kenntnis dessen, was bis dahin war…
Ich habe auch nie auf dem Blog gelesen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass die Eindrücke beim wirklich zeitnahem Lesen im Netz noch einmal ganz andere sind, als beim Lesen des Buches, bei dem man ja auch schon über das Ende weiß. Ich fand im Buch die Seiten der Rückblenden ganz wichtig und hilfreich um überhaupt eine „runde Geschichte“ erkennen zu können, so wäre es mir beim Lesen des Blogs wahrscheinlich so gegangen wie Dir, dass nämlich der Bezug gefehlt hätte.
„Menschliches Leben endet, wo die Kommunikation endet, und das darf nie passieren.“ – danke für deine angemessene Besprechung – vom Einstieg (der Medien-Hype, eigentlich eine Art „Leichenfledderei“ schreckte mich ebenso ab) über die Hinführung zum Buch, zum Menschen. Das ist – in Ergänzung zu unserer Diskussion gestern – auch für mich eine Hinführung dazu, es jetzt doch zu lesen.
Liebe Birgit,
ich hatte mir fest vorgenommen, mich an diesem Buch-Hype nicht zu beteiligen (spätestens als ich über den Buchstapel im Vorort-Bahnhof stolperte). Dann habe ich die Besprechungen bei Mara, Karo usw. gelesen und mich eines Besseren belehren lassen. Denn Herrndorf kann ja nichts für die Aufregung. Außerdme, Kef hat ja auch noch einmal darauf hingewiesen, lässt sich alles ja auch im Netz nachlesen. Und dass es ein elektronisches Tagebuch, also eine recht unmittelbare Art des Schreibens ist, macht ja noch einmal den besonderen Reiz aus, anders als die Tagebücher von Max Frisch, der sie ja selbst überarbeitet und überarbeitet hat. Trotzdem schreibt Herrndorf, egal, worüber er berichtet, immer als Schrftsteller, also als Herr über Inhalt und Sprache – und überarbeitet auch, dennm manchmal erzählt er auch davon, dass er jede Menge Text gelöscht habe.– Was ich also sagen möchte :-): Die Lektüre lohnt sich.
Viele Grüße, Claudia
schön. ich habe das buch ja auch relativ gründlich gründlich gelesen, aber es ist interessant und gut, beim lesen anderer besprechungen – wie jetzt deiner – andere perspektiven zu sehen, die ich selber vernachlässigt oder so gar nicht erkannt habe. deine letzten zeilen gehören dazu: die wertschätzung des lebens an sich, nicht nur des menschlichen, ja, natürlich: eine folge davon, daß sein eigenes so massiv bedroht und endlich geworden war. nur wer den tod vor augen hat, weiß, was das bedeutet und für den wächst der wert allen lebens, und sei es das einer maus, einer libelle…
liebe grüße
fs
Lieber Flatter Satz,
vielen, vielen Dank für Deine Zeilen, die mich nun doch etwas rühren. Und dass wir alle ein wenig unterschiedliche Blicke auf den Text haben und so andere Textstellen finden oder andere Zugänge, das macht das Bloglesen doch gerade interessant und die eigene Lektüre auch noch einmal bereichernd. Karo von deep read hat z.B. den Aspekt der Fiktionalisierung in ihrer Besprechung thematisiert, bei Kai von skyaboveblueplace war die eigene Trauer über den Tod seiner Mutter beim Lesen noch einmal präsent, bei Dir habe ich eben auch den Gedanken der Eigenbestimmung gefunden. So bringt das Lesen der Beiträge einen ganz vielschichtigen Blick auf das Buch, fast so, als hätten wir uns in einem Literaturkreis zusammengefunden. Das ist Bloglesen und -schreiben wie es im besten Fall sein kann.
Viele Grüße, Claudia
Liebe Claudia,
das
„So bringt das Lesen der Beiträge einen ganz vielschichtigen Blick auf das Buch, fast so, als hätten wir uns in einem Literaturkreis zusammengefunden.“
ist ein sehr schöner Gedanken, und er wird am Ende dem Buch sehr gerecht.
Für mich ist Arbeit und Struktur ein Lebensbuch. Es stecken so viele bedenkenswerte Sätze darin, die ich immer wieder aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten kann. Nicht nur in Hinsicht auf das Sterben meiner Mutter, dass ich begleiten musste und durfte, auch aus der Sicht eines Menschen, der chemotherapiegetränkt, bestrahlt, knochenmarktransplantiert, als kleine Nebenwirkung herzkrank ABER immer noch lebt, denn es heisst jeden Tag und immer wieder LOS JETZT!
Und der Herrndorf hat das gemacht und aufgeschrieben, mit unglaublicher Kraft und Klarheit, mit dem Willen zum Leben und der ganzen Scheisse, die solch ein Leben auch bereit hält.
Ja, der Hype
Naja, vielleicht hat mich der ganze Hype wegen dem Zeux, was ich oben geschrieben habe, nicht so sehr tangiert und gestört, wie andere, davon abgesehen, dass in unserer klitzekleinen Kleinstadt die Stapel nicht höher waren, als andere Stapel. Und weil ich vielleicht finde, dass eine Vorortbahnhofsbuchhandlung sicher schlimmeres bewirken kann, als die Menschen über Arbeit und Struktur stolpern zu lassen. Und vielleicht auch, weil die von uns, jedenfalls von mir, so geliebten Buchhandlungen und selbst Verlage wie Rowohlt Berlin von solchen Büchern leben, die zu Bestsellern gehypet werden. Und weil z.B. Herrndorfs In Plüschgewittern‘ vermutlich nur deshalb erschienen ist (und erbärmlich wenige Exemplare verkauft hat), weil zur gleichen Zeit irgend ein anderes Buch ebendieses querfinanziert hat.
Oh wei, jetzt ist es grade wiedermal aus mir herausgeflossen, wie das Zeux aus meinen Stirnhöhlen. Aber irgendwie musste es wohl raus. Entschuldige bitte den langen Sermon, liebe Claudia!
Was ich übrigens eigentlich sagen wollte ist, dass ich Deine Besprechung sehr gerne gelesen habe, denn Du hast mir wieder neue Aspekte aufgezeigt (und obviously endlose Assoziationsketten ausgelöst). Ich finde, was besseres kann man über eine Besprechung und deren Objekt kaum sagen.
Danke dafür und liebe Grüsse, Kai
Lieber Kai,
ich danke Dir ganz von ganzem Herzen für Deinen langen und so offenen Kommentar – und auch wennn ich vorhin die Möglichkeiten unseres Austausches via Blog mit einem Literaturkreis verglichen habe, finde ich es in diesem Fall merkwürdig und komisch, Deinen sehr persönlichen Sätzen nun mit kargen digitalen Zeichen zu antworten, da fände ich ein „normales“ Gespräch viel, viel angemessener. Trotzdem versuche ich es mal so: Vielen Dank für Deinen anderen Blickwinkel auf den Stapelverkauf (ja, Du hast Recht, dass die Einnahmen hier einem anderen Buch das Gedrucktwerden ermöglichen) und vor allem für Dein Erzählen von Deinem durch eigenes Erleben des Krankenalltags in allen Facetten doch noch einmal ganz anderen, ganz persönlich betroffenen Blick auf Herrndorf Geschichte. Du hattest schon an anderen Stellen hier und da mal etwas geschrieben von Krankheit, aber das hörte sich nun nie so einschneidend an. Dass Du unter den Bedingungen einer eigenen Krebserkrankung natürlich ganz anders liest, ganz anders nachvollziehen kannst, was Herrndorf schreibt, ganz anders mitfühlen – und assoziieren – kannst, das kann ich gut verstehen. Und dass wir uns darüber nun hier, wenn auch nur elektronisch, zumindest ein bisschen austauschen können, das ist doch ein rieisiges Verdienst von Herrndorfs Tagebuch. Wir gut, dass wir alle es gelesen haben!
Ganz viele liebe Grüße, Claudia
Liebe Claudia,
esrtmal: dass ich Dir erst jetzt antworte (und überhaupt grade nur so sporadisch hier teilnehmen kann) liegt an unserem massiven InternetProviderProblem nach unserem Umzug. Tatsächlich hat Netcologne es nach zweieinhalb Monaten immer noch nicht hingekriegt, uns unseren Internetzugang und Telefon freizuschalten. So, lieber nix mehr dazu, sonst platz ich bald…
Was ich noch sagen wollte: Ich bemühe mich meistens, meine persönliche Geschichte bei Buchbesprechungen außen vor zu lassen, aber das ging bei diesem Buch nun überhaupt nicht, deshalb diese sehr persönlichen Einlassungen – und Du hast natürlich recht, ein persönliches Gespräch kann da mehr sein, als ein ‚digitales‘ ABER ich muss sagen, ich bin auch darüber sehr froh und genieße diese Bloggerei sehr.
Im übrigen bin ich sowieso davon überzeugt, dass jede Lebensregung, und also auch jede Buchrezeption immer auch durch die eigenen Erfahrungen mitbestimmt wird (so gesehen glaube ich auch nicht an objektive Besprechungen – es würde mich auch nicht interessieren, denn mit jeder Äußerung transportiert man sich ja selber mit. Und Kommunikation ist ja immer auch eine Art Kennenlernen, jedenfalls, wenn es gut geht. Und dass ich jede der doch jetzt schon in ordentlicher Zahl erschienen Besprechungen in den Blogs mich gelangweilt hat, im Gegenteil, mir immer wieder neue Aspekte aufgezeigt hat ist ja auch ein Zeichen.
Auf jeden Fall hast Du Recht: es ist gut, dass wir alle das Herrndorf-Buch gelesen haben. Ich finde es nach wie vor in jeder Hinsicht, auch was den wunderbaren Austausch darüber betrifft, eine Bereicherung.
So, höre schon wieder auf, bevor es wieder ein Roman wird – drück uns die Daumen, dass wir bald wieder Internet zuhause haben, ohne ist es wirklich blöd…
Liebe Grüße, Kai
Lieber Kai,
ich drücke Euch danz doll die Daumen, dass es klappt mit dem Internet. Wir sind schon arg abhängig, oder? Zweieinhalb Monate könnte ich es gar nicht ohne Internet aushalten, beruflich nicht und privat auch nicht. —
Und Du hast völlig recht, dass jeder Lesevorgang ein ganz persönlicher, mithin subjektiver Prozess ist und eigene Themen, Erfahrungen, Erlebnisse, Intressen, Vorlieben usw. dabei eine große Rolle spielen. Das meinst Du sicher auch bezogen auf das Interview mit Sigrid Löffler auf Maras Blog. Herrndorfs Buch hat, wenig Wunder, denn es dreht sich schließlich um die Existenz, gerade diese persönliche Lesart bei jedem von uns angestoßen. Und die Diskussion über sein Buch auf meinem Blog ist, nicht zuletzt auch durch Deinen Beitrag, die schönste, i.S. von ehrlichste, authentischste, Bloggererfahrung, die ich bisher gemacht habe. Was für ein Glück, dass ich dieses Buch doch gelesen habe, was für ein Glück, dass ihr so kommentiert habt.
Viele Grüße und gaaannz viel Daumendrücken, Claudia
Hallo,
Ich habe den von Dir zitierten Abschnitt aus der Zeit etwas anders verstanden. Ich lese da weder Hype noch Voyeurismus, sondern eine bloße, natürlich subjektive Stimmungsaufnahme unseres Landes. Diesen Zustand finde ich durch das Bild des „Einbetoniertsein[s] im Positiven“ trefflich umschrieben und kann auch den „Stillstandshorror“ sehr gut nachempfinden. Was den Weckruf auszeichnet, kann ich nur den weiteren Zeilen der Kritik entnehmen. Weil ich das Tagebuch weder in digitaler noch analoger Form bisher gelesen habe, kann ich somit auch nur erahnen, wie der geknüpfte Bezug zum politischen und gesellschaftlichen Zeitgeist gemeint ist (und ob er sinnvoll ist). Das Blog wird als „radikale Verneinung von Indifferenz“ beschrieben. Der Zustand des bevorstehenden Todes habe bei Herrndorf dazu geführt, dass „gar nichts mehr egal ist“. Ich habe den Artikel auch als Weckruf für jeden Einzelnen verstanden, sich nicht zu bequem einzurichten und nicht erst im Angesicht des Todes aufzuwachen.
Vielleicht verstünde ich Deine Kritik an der Kritik eher, wenn ich das Tagebuch gelesen hätte. Ich denke, dass viele Menschen erst durch oder zumindest nach dem Tod Herrndorfs auf das Blog und somit letztlich auch auf das Buch aufmerksam wurden. Zu diesem Phänomen wird es sicherlich schon ausführliche wissenschaftliche Darstellungen geben. Man kann das ja immer wieder beobachten, wie z.B. die Alben von Amy Winehouse nach deren Tod die Hitparaden aufs Neue erklommen. Vielleicht füllen sich die Kinosäle bei den posthum gezeigten Filmen mit Philip Seymour Hoffman auch schneller. Der Vergleich hinkt natürlich, denn Herrndorf hatte sicher nicht diesen Bekanntheitsgrad.
Mich interessiert an der Kritik an einem sog. Hype, was diesen konkret ausmacht? (Heute ist ja praktisch jede zweite Nachricht ein Hype.) Ist es die Anzahl an positiven/überschwänglichen Kritiken oder ist es spezielle Werbung oder die Tatsache, dass das Buch in der Bahnhofsbuchhandlung ausliegt? Ist es ein Hype, wenn 5 Blogs über dasselbe Buch berichten? Oder liegt es daran, dass da jetzt plötzlich ein Name vielen ein Begriff ist, den sie zu dessen Lebzeiten nie gehört hatten? Was mich auch ein bisschen umtreibt, ist die Frage, was der Hype mit uns macht? Das Wort „Hype“ bzw. dessen Bedeutung ist ja negativ behaftet. Hast Du das Buch nun kritischer betrachtet? Unvoreingenommen gingst Du ja nicht heran. Und wie das meistens so ist (und das meine ich völlig wertfrei) distanziert man sich als erstes von dem Hype.
Ich vermute, dass in den Feuilletons mehr Raum für die Vorstellung des Blogs/Buches geschaffen wurde, weil es eben Anlass für viele Diskussionen, wie z.B. selbstbestimmtes Sterben, liefert. Womöglich war deshalb der Name Herrndorf auch nicht mehr bloß in den Feuilletons zu finden, sondern spartenübergreifend.
Vielen Dank für Deinen sehr umfangreichen Kommentar zu meinem Beitrag. Ich denke und hoffe, das sowohl durch meine Buchbesprechung als auch durch die Diskussion hier in meinem Blog deutlich geworden ist, wann ich Besprechungen zu Büchern, auch wenn sie sich häufen, für sehr, sehr wertvoll halte, und wann nicht. Und da Herrndorf sich in seinem Tagebuch nicht ein einziges Mal zu politischen Themen oder Fragen äußert, Politik also gar keine Rolle spielt, erscheint mir der Bezug zu Merkelscher Positivrhetorik doch sehr weit hergeholt, mithin marktschreierisch und reißerisch. Das ist schade und verstellt den Blick auf ein Buch, das ganz andere Themen hat, dem also etwas ruhigere und maßvollere Besprechungen, die es ja auch gegeben hat, durchaus gut tut. Eine Medienkritik mag ich nun aber hier nicht führen. Nur soviel: Zu „den Medien“ hat Herrndorf sich mehrfach in seinem Tagebuch in sehr lesenswerten und sehr spitzzüngig formulierten Eintragungen geäußert, denn u.a. wurde seine Erkrankung von durchaus angesehen deutschen Zeitungen als Marketing be- und verurteilt.
Viele Grüße, Claudia
Danke für die Erklärung. Ich fand den Artikel weder besonders schlecht, noch besonders gut, deshalb war ich etwas über die Schärfe in Deiner Reaktion überrascht. Ein „Spiel mit Voyeurismus und Sensation“ kam mir beim Lesen nun gar nicht in den Sinn.
Ich kann allerdings verstehen, dass man sich manchmal über Kritiken wundert, die sich nur oberflächlich mit dem Inhalt auseinandersetzen und man sich fragt, ob das Buch überhaupt gelesen wurde.
Vielleicht sehe ich die Sache mit dem vielzitierten Medienhype etwas gelassener, weil ich eigentlich eher selten bei Neuerscheinungen zugreife und die meisten Berichte an mir vorbeirauschen lasse.
Viele Grüße
Liebe Claudi, deine Rezension beeindruckt! Und auch die Raktionen, die sie auslöst. Ich finde, wenn durch ein Buch gesellschaftliche Themen, wie Würdevolles Sterben wieder mehr diskutiert werden, dann ist das jeden „Hype“ wert. Herrndorf hat es absolut verdient. Ich freue mich für ihn über jedes verkaufte Exemplar von „Arbeit und Struktur“. Herrndorf ist für mich ein Autor, über dessen Bücher man noch in Jahren sprechen wird. „Tschick“ als Schullektüre – das ist doch großartig! Masuko
Liebe Masuko,
da kann ich Dir nun, nach meiner Lektüre nur beipflichten: Das Buch verdient wegen seiner vielschichtigen Themen viele Leser (es geht ja auch im Netz) und das Thema des würdevollen Sterbens ist auch eine Diskussion wert, wobei die verschiedenen Positionen, z.B. „Selbstbestimmung“ vs. „Wirtschaftsintressen“, wirklich tiefgehend ausgelotet werden müssen. „Tschik“ als Schullektüre, und das nicht nur in Deutschland, ist natürlich auch eine tolle Sache. Kennst Du den Roman?
Viele Grüße, Claudia
„Tschick“ habe ich damals gelesen, als Herrndorf noch ein nicht so bekannter Autor war. Sein Erfolg damit war eine Überraschung für mich. Ich mochte das Buch, will es aber unbedingt ein zweites Mal lesen, weil ich glaube, dass ich aus heutiger Perspektive darin noch ganz viel entdecken werde. Und du?
Ich habe die anderen beiden Bücher nicht gelesen, jugendliches Roadmovie ist nicht so mein Fall und ein Thriller/Krimi auch nicht.
Viele Grüße, Claudia
Ich habe es eben schon bei flattersatz geschrieben: Das Buch hatte ich mir gleich bei Erscheinen gekauft, seither liegt es da, ich sehe es jeden Tag, wage mich jedoch nicht heran. Der Tod von Herrndorf hatte mich ziemlich mitgenommen, dabei hatte ich keinerlei Beziehung zu ihm. Nun habe ich in der Zwischenzeit noch mal Tschick zur Hand genommen, eine Lektüre mit einem seltsamen Beigeschmack, und Arbeit und Struktur wartet noch immer. Deine sehr differenzierte, sehr gelungene Besprechung sagt mir, dass ich es lesen sollte. Hype hin oder her. Danke dir!
Liebe Caterina,
Herrndorf schreibt so ganz ohne Larmoyanz und Pathos, so dass seine Eintragungen wirklich „gut“ zu lesen sind. Und es gibt ja auch die sehr lebensfreudigen Einträge, wenn er sich mit Freunden trifft, reist, beim Sport ist, und die verstreuten bösartig-spitzzüngigen Anmerkungen. Und Du bist doch schon bei Wagner mutig gewesen :-).
Viele Grüße, Claudia
Hallo Claudia,
bin ganz angerührt von deiner Besprechung und den sich daraus ergebenden Kommentaren. Muss anscheinend doch gelesen werden. Einen schönen Sonntag.
Liebe Grüße, Anna
Liebe Anna,
Du kannst ja auch ganz vorsichtig erst einmal das Lesen der Einträge in Herrndorfs Blog erproben und schauen, ob Du weiter lesen magst. — Die Diskussion hier im Anschluss an meine Besprechung hat mich auch sehr berührt. Wenn viele Leser ein Buch kennen, und der Inhalt dann noch ein solch exiztentieller ist, dann kann auch – im Idealfall – ein solcher Austausch stattfinden. Dann wird es, obwohl wir uns ja nicht wirklich kennen und nur elektronisch miteinander kommunizieren, doch auf einmal ganz persönlich. Ich fand das auch anrührend, es spricht für Herrndorfs Buch, dass solche Reaktionen auslöst, es spricht auch für das virtuelle Treffen.
Viele Grüße, Claudia
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Ich habe nun schon so viel darüber gelesen, dass ich langsam zu der Ansicht komme doch mal einen Blick hinein zu werfen. Der Hype, den du ansprichst, lässt mich oft (ver)zweifeln und so mache ich aus (manch schlechter) Erfahrung einen großen Bogen um diese Bücher.
Das Lesejahr ist ja noch jung. Vielleicht klappt es noch mit Herrn Herrndorf und mir.
Danke & liebe Grüße von der Bücherliebhaberin
Liebe Bücherliebhaberin,
Deinen Bogen um Herrndorfs Buch kann ich sehr gut verstehen, den wollte ich ja auch machen. Mich haben auch die anderen Blogs zum Lesen überzeugt. Und in diesem Fall wäre mein Boykott tatsächlich schade gewesen, denn hier kann der Autor nichts für die mediale Aufregung und seine „Produktion“ (ich lesen gerade Frischs „Berliner Tagebuch“ und er benutzt diesen Begriff so gerne :-)) würde so von den vielen aufgeregten Stimmen überdeckt. Vielleicht findet das Buch ja noch den Weg zu Dir.
Viele Grüße, Claudia
oh, ich dachte, ich habe mich versehen bei anderen Besprechungen oder Seiten – ich kann es auch schon als Blog, doch es ging völlig an mir vorbei, dass es als Buch erschien – wow. Danke für diesen Wink des Himmels – ich möchte es so gern im Regal stehen haben! Gott sei Dank gingen auch hier die Medien an mir vorbei – manchmal ist es ganz schön sich davon abzuschotten, wie ich es gern pflege. Man regt sich zu sehr auf. liebe grüße
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