Flucht und Entwurzelung, Romane

Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen

Beim Sprachunterricht der afrikanischen Flüchtlinge, die es in ein Berliner Altersheim verschlagen hat, hängen die Verben an der Wand: gehen, ging, gegangen. Jenny Erpenbeck hat in ihrem Roman ein ganz aktuelles Thema aufgegriffen, hat quasi den Roman zur Flüchtlingsthematik dieses Spätsommers geschrieben. Dabei spürt sie in ihrem Roman einem Flüchtlingsdrama nach, das sich vor zwei Jahren ereignet hat, als Afrikaner, die über das Mittelmeer nach Italien gelangt sind, die Abgabe ihres Asylantrags in Deutschland, entgegen den Regeln von Dublin II, erzwingen wollten und dazu monatelang in Berlin auf dem Oranienplatz gelebt haben, um so auf ihre Situation aufmerksam zu machen. „We become visible“, haben sie auf Schilder geschrieben. Sie selbst wollten sichtbar werden, sie wollten ihr Problem sichtbar machen, den Kampf nämlich gegen den europäischen Paragrafendschungel, der doch alles zu tun scheint, um sie dem öffentlichen Sichtfeld zu entziehen.

Die Geschichte des Streiks vom Oranienplatz nimmt Jenny Erpenbeck zum Ausgangspunkt ihres Romans. Vor den zeitlichen Verläufen der realen Geschichte um die streikenden Afrikaner, ihr Abkommen mit dem Berliner Senat, das sich ein paar Wochen später als völlig wertlos erweist – aus rein formalen Gründen! – und dem Beginn ihrer Abschiebungen im Januar des folgenden Jahres entspinnt Erpenbeck ihre Geschichte um Richard, den emeritierten Professor, und seine Begegnungen mit den Flüchtlingen.

Ihre Geschichten will Richard sammeln, der in diesem Sommer emeritierte Professor für Altphilologie. Er lebt in einem Haus am östlichen Rand Berlins, idyllisch an einem See mit eigenem Boot, seine Frau, eine Musikerin, ist am Alkohol gestorben, seine Geliebte hat ihn verlassen. Nun könnte er eigentlich die Kisten und Kästen einräumen und wegräumen, die er bei seinem Abschied aus seinem Universitätsbüro gepackt hat, manch alte Schätze könnten zutage gefördert werden, anderes könnte er endlich wegschmeißen. Doch zum Aufräumen fehlt ihm die Lust. Vielmehr finden, neben den alltäglichen Verrichtungen, die fast minutiös geschildert werden, die Flüchtlinge am Oranienplatz immer mehr sein Interesse. Die Flüchtlinge, die dort schon Monate ausharren, einen kalten Winter hindurch in den Zelten gelebt haben, haben genauso viel Zeit wie er. Er stellt sich vor, sie zu befragen, was für sie die Zeit bedeutet:

„Über das sprechen, was Zeit eigentlich ist, kann er wahrscheinlich am besten nur mit denen, die aus ihr herausgefallen sind. Oder in sie hineingesperrt sind, wenn man so will.“ (S. 51)

Als Professor geht er auch professoral vor: Er liest in den nächsten zwei Wochen nach einem strengen Stundenplan Bücher zum Thema, damit er einen Fragenkatalog erstellen kann, der ihm als Interviewleitfaden dienen soll. Heraus kommen nach den zwei Wochen Allerweltsfragen nach der Familie, nach dem Beruf, nach den Zielen der Flucht, danach, was die Flüchtlinge hier vermissen.

Richard ist ein kauziger Mensch, vielleicht gerade so, wie man sich einen Professor für Altphilologie vorstellt. In Alter, Bildung und gesellschaftlicher Schicht ist er der Gegenpart der afrikanischen Männer, zu denen er Kontakt sucht. Aber in seiner Lebensgeschichte spiegelt sich auch die Geschichte der Migranten, er kann sie verstehen, weil er erlebt hat, wie es ist, plötzlich in einem anderen Land zu leben. Richard lebte in der DDR, bis er eines Morgens plötzlich Bundesbürger war, den Pass eines anderen Landes besaß und sich darüber hinaus natürlich auch im alltäglichen Leben an viele neue Dinge gewöhnen musste. Manches scheint ihm noch immer fremd zu sein, im westlichen Teil der Stadt jedenfalls kennt er sich kaum aus. Vielleicht kann er, seinen merkwürdigen geplanten Fragen zum Trotz, deshalb so gut zuhören, kann deshalb so gute Kontakte zu den Männern aufbauen, weil er verstehen kann, wie fremd sie sich fühlen, wie gut es tun kann, wenn man einen Zuhörer gefunden hat.

Und die Männer erzählen Richard ihre Geschichten; woher sie stammen, aus Burkina Faso, aus dem Tschad, aus Mali; wie sie aus ihren Heimatländern, aus Ghana, aus Niger zum Arbeiten nach Libyen gegangen sind und dort ihre Familienangehörigen getötet wurden, als die ersten europäischen Bomben fielen, die überlebenden Ausländer vom Gaddafi-Regime zusammengetrieben und dann in Boote nach Europa gesetzt wurden; wie Areva zum Beispiel, ein französischer Konzern, seinen Müll aus den Uran-Minen dorthin kippt, wo die Tuareg leben; dass die Familien zu Hause gut leben könnten, wenn sie nur einen kleinen eigenen Acker hätten; dass sie nie eine richtige Schule besucht haben, jetzt aber schon Lesen und Schreiben können, italienisch sprechen und nun den Deutschunterricht besuchen, dass sie arbeiten möchten, als Krankenpfleger, als Koch, auf dem Bau.

Die Geschichten zeigen schnell: einen Asylgrund, so wie er sich aus dem Grundgesetz ableiten könnte, haben die Flüchtlinge nicht. Einen Asylantrag in Deutschland stellen, dürfen sie auch nicht, die Dublin II-Bestimmungen sehen vor, dass der Antrag in dem Land gestellt wird, in dem die Flüchtlinge EU-Boden betreten. Und so lotet Jenny Erpenbeck in ihrem Roman den Konflikt aus, den Flüchtlinge, die meistens viel komplexere Fluchtgründe haben, als dass sie tatsächlich persönlich politisch verfolgt sind, mit den europäischen Gesetzen haben. Die Gesetzte, die Verordnungen, stehen dem entgegen, was die Menschen wollen, zeigen in aller Konsequenz, was europäische „Einwanderungspolitik“ ist: ein technokratischer Umgang mit Menschen, der auf Abschottung zielt, darauf, das Flüchten nach Europa möglichst unattraktiv zu machen.

Eine Stärke des Romans ist also die Sammlungen der Geschichten der Migranten, die auf der einen Ebene den vielen Flüchtenden, die wir als anonyme Masse auf Landstraßen oder Bahnhöfen sehen, eine Individualität, eine persönliche Geschichte geben. Und auf einer anderen Ebene aufzeigen, dass unsere Vorstellung vom Asyl den Zeiten des kalten Krieges entstammt, als Dissidenten mit offenen Armen empfangen wurden, auf keinen Fall aber berücksichtigt, wann Menschen heute in ihren Ländern nicht mehr leben können. Eine weitere Stärke des Romans ist auch zu zeigen, wie schwer ihr Kampf gegen die bürokratischen Windmühlen sein wird – und auch dies erzählt Richard, der immer mehr auch in die administrativen Prozesse einbezogen wird, mit großer Ruhe und Sachlichkeit.

Und an dieser Stelle sind dann auch die Grenzen des Romans zu erkennen. Er verbleibt auf der Ebene des Konfliktes der Menschen mit dem – anonymen – Gesetz. Die positiv-naive Figur des Protagonisten Richard, die vielen aus verschiedenen Ländern stammenden und – mit einer Ausnahme – offensichtlich sehr integrationswilligen und auch kaum fremdelnden Flüchtlinge, die auch noch bei Richard Klavierspielen lernen und mit ihm Weihnachten feiern – das ist in der Gesamtschau doch ein bisschen viel Euphorie darüber, dass und wie das Zusammenleben gelingen könnte. Die Gesetze hingegen, auf der anderen Seite, übernehmen in diesem Spiel ganz passgenau den Bösewicht, der alle Vorstellungen der Betroffenen zum Scheitern bringt, kaltes Amtsdeutsch gegen persönliche Wünsche und Ziele also. Dass im letzten Jahr nur 2 % der Asylanträge in Deutschland anerkannt wurden, ist richtig; dass aber gleichzeitig der Hälfte der Asylsuchenden ein in unterschiedlichen Formen mögliches Bleiberecht ausgesprochen wurde, dass es also tatsächlich auch einen Lichtstreif am Horizont gibt, davon erzählt der Roman – leider – nichts [1].

In einigen Rezensionen wird dieser Roman verglichen mit einer Reportage, vielleicht wegen der starken Schwarz-Weiß-Zeichnung, sicherlich aber auch wegen der wenigen literarischen Leerstellen, der fehlenden Deutungsmöglichkeiten, wegen der ganz „auserzählten“ Geschichten. Trotzdem aber bleibt festzuhalten: Hier hat sich endlich eine Schriftstellerin des Themas angenommen, hier zeigt sich eine ganz wesentliche aktuelle gesellschaftliche Problematik endlich in einem Roman.

Gehen, ging, gegangen“ hängt beim Sprachunterricht an der Wand. Ob die Flüchtlinge auch die Tempusform des Futurs lernen, weil sie eine Zukunft haben, bleibt offen.

Jenny Erpenbeck (2015): Gehen, ging, gegangen, München, Knaus Verlag

[1] Armin Nassehi: Die arbeiten nichts. Eine kleine Polemik gegen den „Wirtschaftsflüchtling“, S. 102, in Kursbuch 183 (September 2015): Wohin flüchten?, hrsg. von Armin Nassehi, Peter Felixberger, Hamburg, Murmann Verlag

5 Kommentare

  1. Liebe Claudia, ich habe deine Besprechung mit großem Interesse gelesen. Besonders spannend finde ich die Gegenüberstellung von Reportage und Literatur, über die du am Ende schreibst. Ich meine, auf diesen Gedanken kürzlich schon einmal gestoßen zu sein, auch auf dem Grauen Sofa, auch zu einem aktuellen Thema (über Finanzkrise, Wirtschaftslage?) Das ist vielleicht die Krux bei sehr aktuellen Themen, dass der Abstand für die literarische Ebene (noch) nicht groß genug ist. Aber auch als Geschichtensammlung erscheint mir das Buch interessant genug für die Leseliste. Liebe Grüße!

    • Liebe Maren,
      vielleicht entwickelt sich diese reportagenhafte Form tatsächlich bei solch aktuellen Themen schnell, vielleicht ist es auch schwieriger, zumindest aufwändiger und damit ein länger dauernder Prozess, solche Themen noch stärker zu literarisieren. Peltzer hat das ganz wunderbar mit seinem im wirtschaftlichen Kontext spielenden Roman „Das bessere Leben“ geschafft; Shumona Sinha in ihrem Roman auch zur Flüchtlingsthematik – und auch bei ihr spielt das europäische Recht und die Bürokratie eine wichtige Rolle. Vielleicht wollte Jenny Erpenbeck aber auch genau das: die Geschichten der Flüchtlinge darstellen, ihr Leben schildern, wie es in ihrer Heimat gewesen ist, erzählen, welche gründe zur Flucht sie hatten, was auf dem Weg passiert ist, wie es ihnen nun so untätig wartend geht. Wer hätte gedacht, als sie angefangen hat zu recherchieren, dass nun gerade in diesem Sommer die Zeitungen voll sind mit den Geschichten der Asylbewerber, weil einfach immer mehr Flüchtlinge kommen. Und es ist auf jeden Fall ein ROMAN, der sich auf keiner Leseliste schämen muss.
      Viele Grüße, Claudia

  2. Eine wunderbare differenzierte Rezension. Bin gerade dabei das Buch zu lesen und lese es nach deiner Besprechung mit anderen Augen

    • Liebe Xeniana,
      vielen Dank für Deine lieben Worte. Ich bin gespannt, welche Leseeindrücke Du festhalten wirst!
      Viele Grüße, Claudia

  3. Pingback: Meine Gedanken zur Ohrfeige – Susanne Haun | Susanne Haun

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