Ihren Heimatroman siedelt Dörte Hansen im Alten Land an, dem Landstrich, der in der Nähe Hamburgs liegt, in dem sich die Menschen aber ihre dörflichen Strukturen und Traditionen bewahrt haben. Die großen, alten und zumeist gut gepflegten Häuser, die die Großstädter auf der Suche nach einer Alternative zum Stadtleben zum Träumen, und manchmal auch zum Kaufen bringen, die akkurat gepflegten Vorgärten mit den sauber abgestochenen Rasenkanten, das alles erweckt den wunderbaren Eindruck von ländlicher Idylle. Die es aber natürlich auch hier nicht gibt.
Hansen spielt mit den Konventionen des Heimat- bzw. Dorfromans, durchbricht gängige literarische Vorstellungen, um an ihnen zu zeigen, dass auch das traditionelle Dorfleben alles andere als in Ordnung ist. Die ersten Eindringlinge in die dörfliche Gleichförmigkeit, die Flüchtlinge aus dem Osten, die zum Ende des Zweiten Weltkriegs hier strandeten, verändern noch nichts an den Strukturen, sie werden verscheucht oder leben das Leben eines Außenseiters. Doch die Traditionen, das „alte“ Denken, erweist sich nicht nur als nicht mehr zeitgemäß, es zerstört mehr und mehr die Individuen, die mit ihm leben, ihm verhaftet sind. Aber es braucht dann erst den neuen Eindringling, Anna aus Hamburg, um alte Verkrustungen endlich aufzuweichen.
Da ist vor allem Vera Eckhoff, die das einzige Haus im Dorf bewohnt, das eben nicht gepflegt ist. Dabei könnte sie sich Renovierungen leisten, schließlich ist sie die Zahnärztin im Dorf. Ihr sind die Pferde und die Hunde wichtiger als das Haus, dass, auch wenn Dach und Fenster undicht sind und die Fassade bröckelt, noch da stehen wird, wenn sie schon tot ist, da ist sie sich sicher. Sie ist dem Haus in einer Hassliebe zugetan, von der sie sich nicht befreien kann. Als Flüchtlingskind aus dem Osten ist sie nach 1945 an der Hand ihrer Mutter hier angekommen und hat die Abwertungen, die Rufe „Polacke“ und „Zigeuner“, noch hören müssen, als ihre Mutter schon Karl Eckhoff, den Sohn des Hofes, geheiratet und aus dem immer kalten Gesindezimmer ausgezogen war. Die Bilder von Gewalt, die sie auf der Flucht gesehen hat, bleiben unverarbeitet, so wie es wohl in der Zeit üblich war. Sie werden Vera ihr Leben lang begleiten. Als die Mutter dann, zermürbt von ständigen Kampf mit der Schwiegermutter Ida und abgestoßen von ihrem vom Krieg traumatisierten Mann, mit einem anderen Mann nach Hamburg zieht, lässt sie die Tochter Vera der Einfachheit halber bei Karl zurück.
Und Veras Nachbar Heinrich Lührs, in den sie so verliebt war, der war letztendlich doch der gehorsame Sohn, heiratete nicht das Flüchtlingskind, dessen sich sein Nachbar, „der Waschlappen“ Karl, angenommen hatte, sondern eine passendere Frau, mit Geld und Land. Heute sitzt Heinrich Lührs in seinem schönen Vorgarten, alleine, die Frau bei einem Unfall gestorben, die drei Söhne in alle Richtungen verstreut, keiner von ihnen will den Hof haben, weil sie sein Denken in alten Traditionen nicht ertragen können.
Dass es hier gerade nicht um Heimat geht, wenn Heimat in dem positiven Sinne von Wohlgeordnetheit und Unversehrtheit beschrieben werden soll, wird schnell klar. Dass hier die Figuren, Vera und Heinrich vor allem, in ihren kleinen selbstgesteckten Grenzen leben, quasi in ihren selbst gezimmerten Gefängnissen aus überkommenen Traditionen und fehlender Neigung, daran etwas ändern zu wollen, könnte dem Roman eine spannende Richtung weisen. Dass zusätzlich auch noch einmal der äußerst steinige Weg der Integration der deutschen Flüchtlinge aus dem Osten beschrieben wird, die Abwertung und der manchmal auch offene Hass ihnen gegenüber, auch das könnte dem Heimatroman eine neue, moderne Facette geben.
Die gute Idee aber scheitert an der Figurenzeichnung. Es gibt im Roman kaum eine Figur, die nicht ein ganz besonders absonderliches Schicksal mit sich trägt, ganz merkwürdige Verhaltensweisen zeigt oder mit allen Ticks ausgestattet ist, die die moderne Welt so bietet. Dabei sind Vera und Heinrich noch die Figuren, die glaubhaft sind, weil sie als Hauptfiguren in unterschiedlichen Situationen und Lebensphasen gezeigt werden, weil der Leser ihre Entwicklung in der dörflichen Enge miterlebt. Wenn aber der Blick auf die weiteren Bewohner des Dorfes fällt, so gibt es wirklich kaum einen, der nicht überzeichnet ist und so zum Klischee eines absonderlichen Dorfbewohners wird. Und das Hamburger Personal, das den Roman bevölkert, ist es gleichermaßen. Diese Figuren sollen sicherlich für eine plastische Darstellung der ebenso engen wie merkwürdigen Lebensvorstellungen sorgen, die in einigen der hippen Quartiere der Großstädte zunehmend gepflegt werden; ähnlich abstruse Konventionen scheinen in diesem Vierteln zwischen Vollwertküche und veganem Speisezettel, zwischen Latte-Macchiato-Genuss und musikalischer Kleinkindfrühförderung, zwischen Bioläden und Manufakturen ihr Unwesen zu treiben, wie früher auf dem dörflichen Marktplatz oder in der Dorfschänke. Die hier durch die Verdichtung nur knapp skizzierten Figuren, die diese Lebensanschauungen transportieren, geraten dabei aber zur Karikatur. Und mit dieser Karikaturwelt hat vor allem Anne zu tun.
Anne lebt in Hamburg-Ottensen und ist die Tochter von Veras jüngerer Halbschwester Marlene. Ihre Kindheit ist geprägt von den ostpreußischen Standesdünkeln, die die Großmutter – das ist ja diejenige, die ihre Tochter Vera einfach mal so im Alten Land hat sitzen lassen -, an die hamburgische Tochter weitergegeben hat. Die Kindheit ist geprägt vom ehrgeizigen Streben der Mutter nach musikalischem Erfolg und Anerkennung, schließlich hat sie selbst die eigene viel versprechende Karriere der Ehe und der Kinder wegen – man ahnt es ja schon(!) – aufgegeben. Als sich der kleinere Bruder als noch hochbegabter erweist als Anne, beginnt für sie der schwierige Teil ihrer Kindheit. Anne verlässt ihre Familie und beginnt eine Schreinerlehre(!). Und nun, als Mutter von Leon, arbeitet sie als Flötenlehrerin in der Musikschule Musimaus(!) und versucht die Eltern der dreijährigen(!) Ottensener Kinder vom Querflötenspiel(!) zu begeistern.
Als Frühförderung bietet Musikschulbesitzer Bernd seine Kurse an. Da passt es ihm natürlich nicht, dass Anne bei einem der Schnuppertage der kleinen Clara-Feline(!) ihre hochwertige Sopranflöte verweigert hat, nur weil das kleine Mädchen einen klebrigen Reiswaffelmund(!) hatte. Die Eltern haben sich darüber sehr entrüstet und sich per Mail bei Bernd beschwert. Anne wird also zum Abmahngespräch gebeten, das Bernd nach einem wohl austarierten Ablauf immer gleich durchführt, am Anfang leise, am Ende auf die Tränendrüse(!) drückend. So kommt Anne zu spät in die Kita und kann die abschätzende Reaktion der Erzieherin über sich ergehen lassen. Als sie nach Hause kommt, steht vor der Tür der Wagen der Lektorin ihres Freundes, die beiden begrüßen sie dann gleich nackt in der Küche bei Weißwein und Tee, so früh hatten sie noch nicht mit ihrer Heimkehr gerechnet. Wer will es Anne verdenken, dass sie nach diesem Tag eilends ihre Siebensachen packt, Leon und das Kaninchen in einen Wagen setzt und zu Vera aufs Land zieht.
Anne räumt dort nun ein bisschen auf, zum Glück kennt sie sich durch ihre Ausbildung ja mit dem Handwerk aus. Nicht nur das Haus bekommt endlich die fälligen Reparaturen, es zieht mit Anne und Leon auch endlich wieder Leben ein. Und davon profitiert auch Heinrich Lührs. Am Ende also beginnt sich eine neue Ordnung herzustellen, die Fremde hilft, dass Vera und Heinrich aus ihrem engen Denken langsam herausfinden, die Fremde selbst scheint im Dorf endlich zu einem ihr gemäßen Leben zu kommen; wiederum Spiele mit den Charakteristika des Heimatromans.
Seit Wochen schon belegt das „Alte Land“ Spitzenplätze im Spiegel-Ranking der meistverkauften Bücher. Gemessen an den oft recht fragwürdigen Titeln, die sich da einer großen Beliebtheit erfreuen, ist die Platzierung für Dörte Hansens Roman sicherlich ein großer Gewinn. Die Chancen zur ganz großen Literatur aber vergibt der Roman.
Dörte Hansen (2015): Altes Land, München, Knaus Verlag
Liebe Claudia, herzlichen Dank für diese genaue und kluge Rezension! In Schreibratgebern heisst es oft, dass Romane so etwas wie eine „Behauptung“ aufstellen müssten, die dann anhand der Geschichte „bewiesen“ wird. Ich halte das für einen Irrtum (wie ja manches andere auch ;). Vielleicht hat Dörte Hansen nichts beweisen wollen, aber bei der Lektüre deiner Rezension kam mir gerade der Gedanke, dass vielleicht zuviel in diesem Text, an diesen Figuren nur „Beleg“ ist. Wenn ich schon über ungelesene Texte spekuliere, will ich aber gerne zum Ausgleich darauf hinweisen, dass Dörte Hansen für ihren Roman gestern mit dem Preis der unabhängigen Buchhandlungen ausgezeichnet wurde (ich glaube, der heisst so oder ganz ähnlich …) Herzliche Grüße!
Liebe Claudia, selbst unweit des Alten Landes groß geworden und seit vielen Jahren Hamburgerin, müsste ich den Roman längst gelesen haben und wollte das auch schon ein paar Mal. Eigentlich. Aber so richtig stark war der Lesesog dann doch nie. Wenn ich deine schöne Besprechung lese, streift mich eine Ahnung, warum das so sein könnte. Naja, irgendwann lese ich es doch noch… 😉 Liebe Grüße!