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Heinz Bude: Gesellschaft der Angst

Sie wird gerade wieder kräftig bespielt, die Klaviatur der Angst. Mit jeder neuen Gewalttat werden nahezu reflexhaft und manchmal so schnell, dass noch gar keine gesicherten Informationen vorliegen, Beschuldigungen in verschiedene Richtungen laut, es werden Ausgrenzungen und Abgrenzungen vorgenommen, es wird konsequent vereinfacht und es werden einfachste Lösungen feilgeboten: die Angst vor „den Anderen“ wird ganz gezielt geschürt, es entsteht eine mehr und mehr aufgeheizte, hysterische Atmosphäre, die vor allem eines ist, nämlich politisches Kalkül.

Heinz Bude, der an der Universität Kassel Soziologie lehrt, hat sich in diesem 2014 erschienen Band nicht nur mit dieser „Angst vor den Anderen“– und auch der „Angst der Anderen“ – auseinandergesetzt, sondern geht weiteren soziologischen Facetten der zahlreichen Ängste nach, die die Menschen unserer Gesellschaft umtreiben, je nachdem, in welcher Situation und in welcher gesellschaftlichen Schicht sie sich befinden. Bude belässt es nicht bei dieser Darstellung, sondern setzt sich auch mit den Folgen der Ängste für die Politik auseinander und skizziert Lösungsansätze, die gerade auch mit Blick auf die lauten populistischen Äußerungen unserer Tage interessant sind.

Angst, so stellt Bude zunächst dar, sei ein Thema, das alle Menschen einer Gesellschaft betreffe: es gebe Zukunftsängste, Bindungsängste, Verarmungsängste, Höhenängste, Schulängste, Terrorängste. Über welche Ängste eine Gesellschaft diskutiere, zeige, welche Themen in einer Gesellschaft von Bedeutung sind, beschreibe also eine jeweils ganz bestimmte sozialhistorische Situation. Am Beispiel der 1930er Jahre zeigt er, wie Politik diese Ängste aufnehmen kann:

„Wer in einer solchen Situation die Ängste, überrollt zu werden, das Nachsehen zu haben und sich am Rand wiederzufinden, aufzunehmen, zu bündeln und auf ein neues Objekt zu richten vermag, der kann eine Mobilisierung der Gesellschaft insgesamt in Gang setzen.“

In Deutschland konnte Hitler die Ängste für seine Machtinteressen nutzen. Diesem Weg stellt Bude die Politik Franklin D. Roosevelts in den USA entgegen. Roosevelt habe den Staat in der Pflicht gesehen, sich der Ängste der Bürger anzunehmen und habe so die Idee eines Wohlfahrstaates entwickelt, in dem niemand mehr Angst haben musste vor den Auswirkungen langfristiger Krankheiten und Arbeitsunfähigkeit, vor Arbeitslosigkeit und Altersarmut.

Dieser Sozialstaat existiere in seinen Grundzügen in Deutschland heute noch. Die wirtschaftlichen Kerndaten seien durchaus positiv zu beurteilen, die Wirtschaftskrise von 2008 gut überwunden worden. Und trotzdem werden die verschiedenen Ängste in der Öffentlichkeit immer wieder benannt und diskutiert.

Bude sieht einen ersten Hinweis für diese Ängste darin begründet, dass eine dem Wohlfahrtsstaat bisher inhärente Idee nicht mehr gelte: dass nämlich wer sich anstrenge, wer sich engagiere und sich weiterbilde, auch seinen Platz, sein Ein- und Auskommen in der Gesellschaft finde. Dieses Versprechen gelte für die heute in den Arbeitsmarkt drängende Generation nicht mehr in dem Maße wie noch für ihre Eltern, die in den 1960er Jahren geboren wurden. Zum ersten Mal seit den 1950er Jahren ist es möglich, dass die Kinder, trotz guter Ausbildung, nicht den Lebenstand erreichen, den die Eltern erreicht haben.

So leide die gesellschaftliche Mitte an der Angst vor dem Statusverlust. Der kann entstehen, wenn durch Arbeitslosigkeit oder Krankheit der Abrutsch nach Hartz IV in kürzester Zeit droht. Zu dem Statusverlust kann es aber auch kommen, wenn bei der Vielfalt der Optionen, die falsche gewählt worden ist: die falsche Schule, in der nicht die notwendigen und richtigen Fähigkeiten, Kenntnisse und Kompetenzen vermittelt wurden, in der nicht auch schon wichtige Netzwerke geknüpft wurden; die falsche Ausbildung, die in eine Sackgasse führt, weil sie nach Markt- und Branchenveränderungen nicht mehr gefragt ist (das trifft ja schon auf Versicherungs- und Bankkaufleute zu); die falsche Universität, das falsche Studienfach, die falsche Schwerpunktsetzung im Studium (Mediation statt Insolvenzrecht), das falsche Unternehmen als Einstieg in die Arbeitswelt: das Entscheidungsrepertoire ist riesig und die vielen Möglichkeiten bieten nicht immer nur erstklassige Chancen, sondern auch immense Gefahren.

Viele der akademischen Dienstleister, Menschen, die im Marketing arbeiten, in Rechts- und Gesundheitsberufen, in Forschung und Entwicklung, in der Mathematik oder Softwareentwicklung, sie alle wenden Kenntnisse an, entwickeln „Konzepte, Ratschläge und Visionen, die heute Gold wert sind und morgen Schrott sein können“. Wenn also das Können, die Flexibilität, die fast schon vorausschauende Anpassung an neue Anforderungen zum Primat des Handelns wird, dann gilt es für jeden Einzelnen, sich immer auf dem neusten Stand der Dinge zu halten, sich nicht nur fachlich, sondern auch persönlich und emotional so zu „optimieren“, dass auch stürmische Zeiten souverän bewältigt werden. Das macht Angst, das ermüdet und erschöpft, das führt dazu, möglichst Entscheidungen zu vermeiden, die ein Risiko bergen.

Bude beleuchtet aber nicht nur die Angst der Mittelschicht, sondern auch die Ängste der Menschen, die als Geringverdiener gelten und der Menschen, die es als „soziale Aufsteiger“, als „Selfmademan“ vermeintlich geschafft haben. Auch die Folgen der Digitalisierung und die Entwicklung der Finanzwirtschaft, beides Systeme, die vermeintlich mehr und mehr selbstständig agieren und unseren Eingriffen entzogen zu sein scheinen, streift er kurz. Und er beschäftigt sich auch mit den Ängsten vor „den Anderen“, die ja gerne im Gewand der Angst vor der Überfremdung oder gar des Terrors verkleidet daherkommen, die auf der anderen Seite aber natürlich auch eine Angst „der Anderen“ hervorruft.

Was passiert aber in der Öffentlichkeit mit diesen Ängsten, wie wirken sie auf die Politik, wie nimmt Politik sie auf? Der Einzelne ist vorsichtig, seine Ängste zu äußern, er ist ja dem Diktat des Könnens und Bewältigens unterworfen. Wenn nun aber jemand mit einem Megaphon oder Mikrophon in der Hand stellvertretend für die Zuhörer über diese Ängste spricht, dann sind sie durchaus gesellschaftsfähig. Und so kann diese Art der „Politik der Ängste“ durchaus die Massen bewegen. Die Perfidie dieser Vorgehensweise bestehe darin, so führt Bude aus, dass Angst diffus sei, nicht genau erklär- und beschreibbar. Und so können auch sachliche Argumente nicht greifen: Wer Angst vor Hunden hat, lässt sich auch nicht durch den Hinweis darauf beruhigen, dass dieser Hund in der Kindertherapie tätig ist; wer Angst vor Terror hat, dies den Flüchtlingen zuschreibt und öffentliche Plätze meidet, setzt sich trotzdem wohlgemut in sein Auto, auch wenn die Wahrscheinlichkeit, einem Unfalltod zum Opfer zu fallen, weitaus größer ist, als einem Anschlag zum Opfer zu fallen.

Dieser Angst bedienen sich – und nun greift Bude auf ein schon in den 1980er Jahren entwickeltes Konzept der Ökonomen Kirsch und Mackenscheidt zurück – die Demagogen. Sie bekennen sich zu den Ängsten der Menschen, sie verkünden immer wieder „Wir gehören zu Euch“, sie zeigen immer wieder auf die Gegner, nämlich die herrschende Klasse und die Lügenpresse, und versprechen, mit ihrer Politik die Menschen endlich von ihren Ängsten zu befreien. Neben den Demagogen kann das politische Personal noch den Kategorien des Amtsinhabers zugeordnet werden – er (oder sie) löst effizient politische Probleme, greift aber in öffentlichen Reden nie mögliche Ängste auf – oder der Kategorie des Staatsmannes, der durch seine Biografie überzeugt und so auch problematische Aspekte benennen kann, auch, weil er ein Konzept für die Zukunft hat.

Insgesamt entsteht also bei der Lektüre der „Gesellschaft der Angst“ ein Panorama der verschiedenen gesellschaftlichen Ängste, das Bude in einem essayistischen Stil gut lesbar und in der Argumentation nachvollziehbar und nachprüfbar entfaltet. Manchmal werden die soziologischen „Typen“ so karikierend dargestellt, dass es der sonst vorherrschenden Seriosität schadet. Die Veränderungen in der Mittelschicht, die Schwierigkeiten, den finanziellen Stand zu halten, das alles beschreibt Bude sehr vorsichtig und ohne deutlichere Kritik an politischen Entscheidungen der Vergangenheit. In dieser neutralen Diktion analysiert er auch das Handeln der politisch Verantwortlichen – und macht doch deutlich, dass Angela Merkel hier noch Potentiale nutzen kann, will sie nicht den „Angstmachern“ das Spielfeld überlassen.

Bude hat ein lesenswertes Buch geschrieben über die soziologischen Facetten der Angst, ein Buch, dass durch die Aufdeckung der Hintergründe der gesellschaftlichen Entwicklungen entängstigend wirken kann, ein Buch, das uns nachdenklich macht über unser ständiges Getriebensein und unseren Optimierungs- und Perfektionswahn, ein Buch, das Ansätze zeigt, wie politisches Handeln – vielleicht – besser gelingen kann, ein Buch das zeigt, dass wir nun einmal in unsicheren Zeiten leben und sich das Rad der Geschichte auch nicht zurückdrehen lässt. Wohltuend dabei ist sein Setzen auf den gesellschaftlichen Diskurs – und es ist zu hoffen, dass dieser Ansatz nicht naiv ist, dass dieser Diskurs in der Gesellschaft auch in Zukunft tatsächlich erhalten bleibt und dass nicht die eingangs zitierten Angstmacher die öffentliche Debatte an sich reißen.

Heinz Bude (2014): Gesellschaft der Angst, Hamburg, Hamburger Edition

1 Kommentar

  1. Liebe Claudia,
    der Beitrag passt sehr gut zu einigen Beobachtungen, die ich in letzter Zeit gemacht habe – wie „Angst“ auch im Kleinen Instrumentalisiert wird und wie die Medien die Hysterie anheizen. Ausführlicher kann ich auf dem Handy leider nicht schreiben, aber vorab schon mal danke für deine informative Rezension.

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