Johannes Anyuru erzählt in seinem in Schweden mehrfach ausgezeichneten Roman eine Geschichte über Flucht und Entwurzelung. Er erzählt von einem Mann, der in die Mühlsteine der afrikanischen Politik und Kriege gerät, der seinen Traum, Pilot zu werden, nicht verwirklichen kann, statt dessen jahrelang auf der Flucht ist. Der, als er schließlich in Schweden ankommt, auch dort keine Heimat findet.
Anyurus bedrückende Geschichte des Mannes aus Uganda, der nach dem Putsch Idi Amins nicht mehr in seine Heimat zurückkehren kann, weil er einer anderen, der falschen, Volksgruppe angehört, lässt sich lesen als Beispiel der Lebensnöte, die die Menschen – auch jetzt – zur Flucht zwingen, weil sie im eigenen Land eben keine Heimat haben, weil sie drangsaliert und verfolgt werden. Anyuru erzählt in seinem Roman aber auch die Geschichte des eigenen Vaters, eines ugandischen Kampfpiloten, der sich am Ende einer Odyssee durch die Verhörzimmer und Flüchtlingslager Tansanias, den erzwungenen Aufenthalt im Guerilla-Lager eines ugandischen Oppositionellen und der Flucht nach Kenia durch die Heirat mit einer Schwedin nach Europa retten kann, hier aber immer fremd bleibt. „P“ nennt er seinen Protagonisten, vielleicht für Paul, wie sein Vater hieß, vielleicht für „Pilot“, wahrscheinlich einfach für „Pappa“.
Das Leben Ps stand von Beginn an unter keinem guten Stern. Sein Vater starb, da war er noch ein kleiner Junge. Seine Mutter gab ihn weg, der älteste Bruder, das Familienoberhaupt, sollte für ihn sorgen, ein Lehrer in der Dorfschule. Der aber schlug den kleinen Bruder jeden Nachmittag, wenn er aus der Schule kam, mit den Händen, mit den Fäusten, mit dem Ledergürtel.
„Was siehst du mich nicht an? Ich bin dein Bruder.“
Der Tisch zwischen ihnen war aus grobem, dunklem Holz. Die Maserung leuchtete im flachen Licht der Abenddämmerung rot. Der Junge ritzte mit dem Fingernagel in die Tischplatte. Man entkommt nicht. Dies ist das Leben, diese Verlassenheit im Abgrund.“ (S. 35)
Einmal läuft er seinem Bruder weg, läuft in die Nacht hinaus und meint, er müsste nur die ganze Nacht laufen, dann käme er schon in das Dorf, in dem seine Mutter lebt. Aber er schafft es nicht, kehrt wieder zurück. Sein Wunsch nach Freiheit aber bleibt bestehen – und das Laufen wird ein bestimmendes Motiv seines Lebens werden.
Es gibt vielleicht überhaupt nur zwei Zeiten in seinem Leben, in denen P sich nicht so verlassen fühlt: in seiner Zeit in einem von italienischen Priestern geführten Internat und zur Zeit seiner Militärausbildung, als er endlich fliegen darf. Nur durch Zufall macht er die Aufnahmeprüfung zum Militär, nur weil ein Freund vorbei kommt und ihn überredet mitzukommen. Er schafft die Prüfung, der Freund nicht. Und dann möchte P Pilot werden, er möchte die Technik beherrschen, wenn er in unterschiedlichen Wetterverhältnissen Manöver fliegt, er möchte frei sein, den Blick in den Himmel.
Nach einer Grundausbildung in Uganda werden einige Piloten nach Griechenland geschickt, um dort die Ausbildung zu vervollständigen. So kommt P Ende der 1960er Jahre zum ersten Mal nach Europa, lernt griechisch, hat eine Freundin, lernt, die Wolken zu lesen und die Winde und fliegt über das Meer. Er hätte auch Hubschrauberpilot werden können oder Pilot von Transportmaschinen, aber er will die Düsenjets fliegen.
„Er spürte, dass seine Arme von der Beschleunigung schwer wurden. Im Osten sah man das Meer. Als hätte jemand einen Spiegel zu feinem Staub zertrümmert und ihn dort hinten, auf dem Grund des Meeres, zusammengefegt. Er hatte das Gefühl, im Herzen aller Dinge zu sein.“ (S. 42)
Keiner der ugandischen Piloten kann sich vorstellen, jemals in der Realität das zu tun, was sie hier üben. Sie wollen auf Flugschauen fliegen, den staunenden Zuschauern die tollsten Loopings zeigen, auf keinen Fall aber Luftkämpfe führen, Menschen bombardieren, andere Piloten töten. Dann aber putscht sich Idi Amin an die Macht und tatsächlich steigen sofort die Spannungen mit dem benachbarten Tansania. Und P weiß, dass er nicht zurückkehren kann, denn Amin gehört einem anderen Stamm an, dessen Mitglieder er gerade abschlachten lässt.
P sitzt also in Griechenland in der Falle. Er kann nicht zurück nach Uganda, aber er kann auch nicht in Griechenland seiner Wege gehen, immerhin gibt es das Militärabkommen mit Uganda, an das die Griechen sich halten. Ab dem Zeitpunkt, an dem er zu Protokoll gibt, nicht nach Hause zurückkehren zu wollen, darf er nicht mehr fliegen, darf seine Ausbildung nicht beenden. Immerhin suchen die Griechen einen anderen Job für ihn. Wenn aber ugandische Militärs nach Athen kommen, dann muss er sie herumführen, für sie übersetzen, mit ihnen essen und trinken. Und überlegt ständig, ob einer von ihnen vielleicht schon ein Mitglied seiner Familie getötet hat; seit Wochen und Monaten hat er keinen Kontakt mehr. Irgendwann entschließt er sich zur Flucht, steigt auf eine Fähre nach Italien, reist nach Rom, denn dort lebt eine Cousine, die einen italienischen Mann geheiratet hat. Der bietet ihm an, in seine Baufirma einzusteigen, er hätte in Rom ein bequemes Leben im Wohlstand. Aber P will fliegen. Und so nimmt er das Angebot aus Sambia an, mit Sprühflugzeugen die Obstplantagen zu überfliegen.
Und diese Entscheidung, vielleicht aus Liebe zum Fliegen getroffen, bestimmt aber auch aus Naivität, wird sich als der gravierende Fehler seines Lebens herausstellen, denn niemand in Afrika glaubt, dass ein Kampfpilot der ugandischen Armee, der auch unterrichtet wurde in nachrichtendienstlichen Techniken, Sprühflugzeuge fliegen will. In Sambia wird er schon am Flughafen festgenommen, noch am Abend nach Tansania ausgeliefert, dort stundenlang nach seinen wahren Auftraggebern befragt, geschlagen, nackt in verlauste Käfige gesperrt. Und von dort geht Ps Irrfahrt durch die afrikanischen Länder noch einige Jahre weiter.
Ps Geschichte zu folgen, verlangt dem Leser einige Nervenstärke ab, auch wenn wir fast von Anfang an wissen, dass er eine vermeintliche Sicherheit gelangt – die ihm jedoch auch keinen inneren Frieden schenken wird. Trotzdem ist es bedrückend zu lesen, wie Menschen mit Menschen umgehen können, ist es bedrückend, sich zu vergegenwärtigen, dass wir in Europa vielleicht und hoffentlich etwas gelernt haben aus unseren Kriegen des 20. Jahrhunderts, dies aber lange nicht gilt für andere Kontinente.
Ps Geschichte zu folgen ist aber vor allem deshalb möglich, weil Anyuru sie ganz besonders erzählt. Dass er Lyriker ist, dass er zunächst Gedichtbände veröffentlicht hat, das merkt man seiner Erzählung, seiner Sprache vor allem, an. Von der Gewalt erzählt er nie direkt, von Ps Schmerzen nicht, nicht von seiner Angst. Statt die verschiedenen Ausprägungen physischer Gewalt zu schildern, die P ja immer wieder zu ertragen hat, erfindet Anyuru großartige Bilder, erzählt ganz genaue Beobachtungen, wie die Farbe der Maserung im Holz, die Art des Windes, das Farbspiel des Sonnenlichts, die Wolkenformationen am Himmel. Diese Bilder erzählen weniger die physischen Beschwernisse als viel mehr ganz eindringlich von der Verlorenheit des Individuums, seiner Einsamkeit, eben von „dieser Verlassenheit im Abgrund“.
P verliert auf seiner Odyssee Stück für Stück seine eigene Geschichte, seine Identität. In seinem Koffer trägt er Fotos mit sich, die er immer wieder betrachtet, die ihn erinnern an seine Erlebnisse. Einige zeigen ihn bei einem Leichtathletik-Wettkampf in Athen, bei dem er im Hochsprung gewinnt und das ganze Stadion vor Begeisterung seinen Namen ruft. Andere zeigen ihn mit anderen Kadetten beim Training, vor Flugzeugen, manchmal auch in Militäruniform. Stück für Stück trennt er sich von diesen Bildern, aus Angst, sie könnten ihn verraten. Zum Schluss bleiben ihm nur noch zwei Bilder, die er aufbewahrt – und die spült seine schwedische Frau nach einer Verhaftung in einer nairobischen Polizeistation in die Toilette, ganz umsichtig und um sie vor weiteren Verfolgungen zu schätzen.
Um Ps Geschichte zu bewahren, wenn keine Fotos mehr existieren, bleibt nur noch die Erzählung. Für die Erzählung sorgt hier die literarische Figur des Sohns, der selbst lange an der eigenen Entwurzelung und der Vaterlosigkeit gelitten hat – aber auch an den deutlichen Vorbehalten in der schwedischen Gesellschaft. Der Sohn setzt die Geschichte des Vaters wieder zusammen, kann sich so mit dem Vater aussöhnen und seine Geschichte erhalten, auch über dessen Tod hinaus. Und er findet mit dem Zitat Walter Benjamins vom Sturm, der vom Paradiese weht, ein sehr treffendes Motto für das Leben des Vaters, für den Piloten, den der starke Sturm vom Paradies weg weht: „Dieser Sturm war das Leben.“
Johannes Anyuru (2015): Ein Sturm wehte vom Paradiese her, übersetzt von Paul Berf, München, Luchterhand Literaturverlag
Weitere Links:
Eine Besprechung und Einordnung des Romans in die schwedische Literatur findet ihr hier, einen sehenswerten Beitrag zum Roman auf 3sat hier.
Das Zitat für den Buchtitel stammt aus Walter Benjamins 1940 verfasstes Essay „Über den Begriff der Geschichte“. Darin bezieht er sich in der 9.These auch auf ein Bild Klees. Darüber könnt ihr hier nachlesen.
ausgezeichnete Besprechung eines mir ganz unbekannten Romans.
Vielen Dank!
Liebe Claudia,
wieder einmal hast Du ein Buch zu Deinem Schwerpunktthema „ausgemacht“, das wohl sonst an vielen Lesern hier vorbeiginge. Spannend die Verbindung Uganda-Griechenland-Schweden. Und auch interessant in der Selbstbeobachtung: Einige Zeit habe ich mich in die Idi-Amin-Phase eingelesen…und schon wieder alles vergessen. Weil eine Katastrophe die andere jagt und Menschen zur Flucht zwingt …
Liebe Birgit,
ich habe erst durch den Roman die Geschichte der 1970er Jahre noch einmal genauer angeschaut. Idi Amin und „Schlächter“ sind mir ja noch Begriffe gewesen, aber was genau passiert ist, wer da gegen wen und warum geputscht hat, das ist mir so nicht klar gewesen. Also habe ich ein paar Geschichtskenntnisse nachgeholt – und auch gestaunt über das Militärabkommen der griechischen Militärregierung mit dem unter Obote sozialistischen Uganda. Deutlich wird in dem Roman ja auch, welche große Bedeutung die Volksstämme in Afrika immer noch haben, in Ländern, die wohl mehr oder weniger künstlich zusammengefasst worden sind. Wenn dann noch die wirtschaftlichen Chancen für die Menschen so gering sind, dann müssen wir uns wohl nicht wundern über weitere Zuwanderungswünsche. Insofern erklärt dieses ältere Verbrechen auch noch Strukturen, die wir heute noch antreffen. – Aber von diesen tagesaktuellen Aspekten abgesehen: Anyuru hat einfach auch einen sprachlich und konzeptionell anspruchsvollen Roman geschrieben, der in Deutschland bisher viel zu wenig beachtet worden ist. Im Feuilleton der Zeitungen hat er bisher beispielsweise so gut wie gar keine Rolle gespielt.
Viele Grüße aus dem Rheinland nach Bayern ;), Claudia
Liebe Claudia,
das klingt eigentlich wie eine ArtGtundlagenroman für das, was heutepassiert. Es hängt leider alles irgendwie zusammen. Mit dem Uganda Idi Amins habe ich mich damals eine ganze Weile beschäftigt. Ich glaube z. B. hier kann man eine Menge lernen über gnadenlose, brutalste Gewalt – weshalb ich hier z. B. Eine Linie ziehen würde zur Boko Haram und dem IS.
Wie auch immer, Deine Besprechung hat mich jedenfalls wieder angefixt – und das Buch kommt auf jeden Fall auf niedrigsten Stapel – damit es bald drankommt.
Danke für den grossartigen Hinweis, das wäre sicher an mir vorbei gegangen.
Liebe Grüße
Kai
Lieber Kai,
der Roman lässt den Leser wirklich noch einmal die 1970er Jahre eintauchen, ich jedenfalls habe eine ganze Menge afrikanischer Geschichte gelernt. Aber der Roman schildert die Vorgänge auf der anderen Seite auch so zeitlos, dass der Roman auch aktuelle Geschehnisse schildern könnte. Und: er ist einfach literarisch auch sehr beeindruckend. Es ist wieder einmal ein Autor, der von der Lyrik kommt (auch wenn Du vom letzten dieser Romane nicht so ganz begeitsert gewesen bist ;)). – Mit Blick auf die Gewalt – und P hätte es sicher noch viel schlimmer treffen können – ist es schon erstaunlich: Immer wieder treten neue Akteure auf, die extrem gewalttätig, brutal und barbarisch sind und führen dafür Ideologien an – entweder politische oder rassistische oder gar theologische.
Viele Grüße, Claudia