Nun ist Vernon also ganz unten angekommen, als Obdachloser im Norden Paris´. Sein sozialer Abstieg, etwas abgemildert durch seine Freunde und Bekannten, die ihn – mehr oder weniger begeistert – immer wieder für ein paar Tage aufgenommen haben, hat ihn jetzt also auf eine Parkbank verschlagen in der Nähe des Parc Buttes-Chaumont. Und da liegt er nun in den kalten Vorfrühlingstagen, krank und mit hohem Fieber, oft halluziniert er. Und droht selbst hier vertrieben zu werden, weil ein Anderer ihm diesen Platz streitig macht.
So also beginnt der zweite Teil der Geschichte Vernon Subutex´, der sich somit nahtlos an die Erzählung des ersten Bandes anschließt. Doch ganz schnell wird deutlich, dass dieser zweite Band in einem ganz anderen Ton erzählt ist als der erste. Hier finden sich nicht mehr die oft kurzen und knappen Sätze, die beim Lesen so eine unheimliche Geschwindigkeit entwickeln, die gespickt sind mit schnodderigen Wendungen, mit abfälligen und beleidigenden, mit Begriffen der Gewalt, des sozialen Abstiegs und des politischen Extremismus, mit Ausdrücken aus dem Drogenmilieu, der Musikszene und dem Börsenparkett und die so eine unheilvolle und bedrückende Atmosphäre schaffen.
Der viel ruhigere und nachdenklichere Ton, die vielen Reflexionen und die oft abwägende und komplexe Sicht der Figuren auf ihre Umgebung und auf ihr Leben, eine Sprache also, die eben nicht durch Aggressivität überrascht, sondern durch den intensiven Blick auf den Moment, eine Sprache, die manchmal Traurigkeit, Frustration und Melancholie vermittelt, manchmal aber auch Zufriedenheit und Hoffnung, gehen Hand-in-Hand mit einer ganz offensichtlich veränderten Haltung aller Protagonisten, auch mit Handlungen, die nicht mehr ausgelegt sind auf das Sich-Abgrenzen von anderen, sondern auf ein Miteinander. Der Absturz Vernons, die Tatsache, dass er vom Erdboden verschluckt zu sein scheint, vielleicht auch der von Rechtsradikalen durchgeführte Angriff auf Xavier, bei dem er krankenhausreif geschlagen wurde, haben Vernons Freundes wohl wachgerüttelt.
Es liest sich dieser zweite Band also keineswegs nur als Fortsetzung der (spannenden) Handlung des ersten Teils, sondern lässt vor den Augen des Lesers auch eine Wiederbelebung der vermeintlich verstaubten Idee von Gemeinschaft und Freundschaft entstehen. Ja, manchmal mutet das, was in diesem Sommer mit den Freunden Vernons unter den großen, alten Bäumen des Parkes geschieht, an, wie die Wiedergeburt der Utopie von einer besseren Gesellschaft. Und dieses andere Bild zeigt sich schon auf den ersten Seiten des neuen Bandes.
Vernon nämlich liegt ja fiebernd auf dieser Parkbank, er halluziniert, er deliriert. Da kommt Charles, ein älterer Mann, der gerne trinkt, aber offensichtlich, Vernon sieht es später an seinen Händen, kein Obdachloser ist. Charles beschimpft Vernon laut und wüst, weil der „seine“ Bank besetzt hat. Dann aber merkt er, dass Vernon so krank und geschwächt ist, dass er sich überhaupt nicht wehren kann. Charles schaut sich die Situation an, überlegt, wägt ab – und dann beschließt er, Vernon zu helfen. Er geht los und kauft Orangen ein und Aspirin, schaut jeden Tag bei ihm vorbei und freut sich über Vernons Fortschritte: „freut mich zu sehn, dass du allmählich aufwachst, Kumpel. Wurde auch Zeit.“
Charles gibt ihm den Tipp, von der Parkbank zu verschwinden, bevor die Straßenfeger ihn dort entdecken, und zeigt ihm ein Haus, in das er sich verkriechen könne. Und Jeanine kommt vorbei, eine Nachbarin, die auch die wilden Katzen füttert. Sie bringt Vernon Essen mit, muss aber heimlich kommen, damit die anderen Nachbarn sie nicht sehen, denn die möchten nicht, dass sie den Obdachlosen Essen gibt; es hat schon zu viele Probleme mit ihnen gegeben. So kommt Vernon durch die Hilfe von Charles und Jeanine langsam wieder auf die Beine.
Und nicht nur die Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung kümmern sich um ihn, auch seine Freunde machen sich auf die Suche nach ihm. So unterschiedlich sie sind, sie eint das Ziel, Vernon zu finden, ihn vielleicht gar „zu retten“. Und es stoßen auch diejenigen zu dieser Suchaktion dazu, die zu Beginn der Geschichte noch deutlich zu Vernons Gegnern gehörten, denen er einfach lästig war, die ihn gar den sozialen Netzwerken mit Schimpf und Schande überschüttet haben, die den dubiosen Auftrag hatten, ihn zu finden. Denn er besitzt ja die Bänder mit den Aufnahmen Alex Bleachs, von denen der Produzent Laurent Dopalet meint, sie könnten ihm gefährlich werden. Die Freunde laufen durch die Parks, sprechen die Menschen an, fragen nach Vernon. Und Charles und Laurent, ein anderer Penner, erzählen es Vernon:
„Weißt du eigentlich, dass es da unten einen ganzen Stamm Hirnis gibt, die dich suchen?“
„Was meinst du?“
„Es sind mehrere. Sie kommen jeden Tag und nerven alle und jeden. Sie fragen nach dir.“
Vernon wird blass, aber Laurent hebt beschwichtigend die Hand:
„Sieht nicht so aus, als ob sie sauer wären. Eher bisschen durchgeknallt, insgesamt … entweder perfekte Schauspieler oder sie wollen dir wirklich nichts Böses.“
„Es sieht mehr so aus, als machten sie sich Sorgen.“
„Nein, das wusste ich nicht.“
Charles und Vernon überreden Vernon, zu ihnen zu gehen und die Hilfe anzunehmen. Und so sitzen sie eines Abends alle gemeinsam in der Wohnung der Hyäne, Vernon kann duschen und seine Kleidung wird gewaschen und sie alle gemeinsam schauen sich Alex Bleachs Videos an. Und es stellt sich heraus: Laurent Dopalet fürchtet die Bänder völlig zu Recht, ist er doch ein Paradebeispiel für die Vorfälle, die in der #Metoo-Debatte ans Licht gekommen sind. Vernon aber, bei dem sich alle fast überschlagen, um ihm ein Bett oder eine Couch anzubieten, will weiter draußen leben, will weiter die Freiheit und Weite genießen, will nicht wieder zurück in sein altes „bürgerliches Leben“, von dem er sich nun wundert, dass er es darin solange ausgehalten hat. Stattdessen richtet er sich an den verlassenen Schienen ein – ein Tipp von Laurent – und empfängt jeden Tag im Park auf der großen Wiese unter den alten Bäumen seine Freunde, die, so unterschiedlich auch jeder von ihnen ist, zu einer großen Gemeinschaft zusammenwachsen.
„Tagsüber ist der Park eine Mischung aus Debattierklub, Coffee Shop unter freiem Himmel und Bierausschank geworden. Die Wiese ist Vernons Salon, er empfängt dort mit der Liebenswürdigkeit eines Gastgebers, der Zeit hat und sich über die Aufmerksamkeit freut. Sein Leben ist angenehm. Es gibt Gebäck, Rosé, nette Menschen, die Frauen kümmern sich um ihn, sie hören gute Musik aus rohrförmigen Bluetooth-Boxen, es gibt Stammgäste und Tagesbesucher. Ein unkompliziertes gesellschaftliches Leben und keine Briefe von irgendeiner Verwaltung, um ihm den Tag zu verderben.“
Auch wenn Virginie Despantes den Erzählton ins Fürsorglich-Mitfühlende neu justiert hat, auch wenn sie vom Sommer im Park mit der wachsenden Freundesgruppe erzählt, von denen sich keiner dem ganz besonderen Charisma Vernons entziehen kann, so bleibt sie doch auch den großen gesellschaftlichen Problemen unserer Zeit verhaftet und legt durch die Perspektiven ihrer Figur gnadenlos den Finger die Wunde. Dies gelingt, indem sie den Blick immer häufiger von Vernon weg und auf die anderen Figuren richtet und sie sprechen lässt, sie von ihrem Leben erzählen und reflektieren lässt und so einen vielstimmigen und multiperspektivischen Chor erschafft.
Virtuos wechselt Despentes die Erzählstimmen von Kapitel zu Kapitel, zum Teil innerhalb eines Kapitels, zum Teil im Satz. So ermöglicht sie auch, ein und dieselbe Sache aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Jede Figur hat dabei, wie schon im ersten Band eine eigene Stimme, eine eigene Sprache, eine ganz eigene Gefühlslage: Vernon zum Beispiel schaut genau hin, wenn er andere Obdachlose trifft und ihren sozialen und vor allem auch körperlichen Verfall diagnostiziert; Sélim, der aus Algerien stammende Hochschullehrer, der die Errungenschaften des aufgeklärten Frankreich so liebt, erzählt von den Zuständen im Mittelbau der Universitäten, von den Budgets für Forschung und Entwicklung, die als erstes zusammengestrichen werden und wie er darunter leidet, dass seine Tochter zu Religion und Kopftuch zurückgekehrt ist; Charles weiß genau, wohin die Solidarität der französischen Arbeiter verschwunden ist – sie haben kein Klassenbewusstsein mehr, sondern wollen denken, leben und handeln wie ihre Chefs – und Céleste, die einzige, die gegen Vernons Charme immun zu sein scheint, lässt sich von Aïcha, der Tochter Sélims, zur Rache an Dopalet überreden, zu einer Art Selbstjustiz, die notwendig ist, weil sie Dopalet über den rechtsstaatlichen Weg nicht überführen können. Und Antoine, der Sohn Dopalets, kommt ihnen dabei zur Hilfe.
Wie im ersten Band versammelt Despentes auch hier viele unterschiedliche Stimmen aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus und verschiedenen politischen Richtungen, treibt die Handlung spannend voran und lässt eine Gruppe um Subutex wachsen, die eine Form utopischen Lebens erprobt, bei der ganz ungewöhnliche Freundschaften entstehen und neue Ideen, wie Vernon seine Kunstfertigkeit als DJ zeigen kann. Das ist eine anregende Analyse des gesellschaftlichen Status quo, eine rasante Geschichte mit vielen schillernden Figuren, ein großartiger Lesespaß. Der sich zum Glück ab dem 7.9. mit dem 3. Band der Trilogie fortsetzen lässt.
Virginie Despantes (2018): Das Leben des Vernon Subutex 2, aus dem Französischen übersetzt von Claudia Steinitz, Köln, Kiepenheuer & Witsch