In „Alles zählt“, ihrem ersten Roman, folgte Verena Luekens Erzählung der Geschichte einer Journalistin, die sich eine Auszeit nimmt in New York, der Stadt, in der sie sich so gerne aufhält, um ihre Gedanken zu sortieren, um aufzutanken, um neue Schreibideen zu entwickeln. Dort erkrankt sie aber wieder an Lungenkrebs und muss nach ihrer OP eine lange und qualvolle Schmerzenszeit überstehen, bis sie endlich wieder gesundet und bei einer Reise nach Asien Hoffnung und eine neue Perspektive für ihr Leben findet. In ihrem neuen Roman „Anderswo“ ist es wieder eine weibliche Protagonistin mittleren Alters, die sich auf eine Suche begibt. Auf die Suche nach einer Leerstelle in der Biografie ihres Vaters, die sie klären möchte, auch wenn der Vater schon tot ist und sie ihm mit ihrer Recherche keinen Liebesdienst mehr erweisen kann.
Es ist überhaupt eine für die Tochter ziemlich abträgliche Beziehung, die die beiden zueinander haben. Der Vater, Jugendlicher und junger Erwachsener während der Nazi- und Kriegszeit, kann schon während ihrer Kindheit wenig Empathie oder gar Liebe aufbringen für die Tochter. Sie ist fünf Jahre, als sie erfährt, dass es ihre Mutter noch einmal 500 Mark gekostet hat, um sie nicht abzutreiben. Ein Schweigegeld sozusagen, das sie dem Arzt angeboten hatte, wenn er die Abtreibung nicht vornahm, obwohl sie selbst das Schweigen über das in ihr wachsende Kind ja gar nicht bewahren konnte. Denn eigenes Geld hatte sie keines. Und so tobt der Vater auch, als er den Kontoauszug sieht mit den zusätzlichen 500 Mark, die abgebucht wurden.
„Ihre Mutter hatte ihren Vater nicht bei ihr angeschwärzt, was die Abtreibung anging. Sie hatte vielmehr erzählt, ihr Vater, der beruflich auf dem Weg nach oben war, sei um ihre Gesundheit besorgt gewesen und habe deshalb eine weitere Schwangerschaft für keine so gute Idee gehalten. Nicht so schnell. Ihr Bruder war kaum ein Jahr alt. Aber für sie hatte es sich immer anders angefühlt. Sie ging verloren, als sie von der Geschichte erfuhr.“
Später, noch ein Kind, sitzt sie mit ihrem Vater in einem Gartenlokal, in dem es die leckersten jungen Kartoffeln gibt. Genüsslich und in Zeitlupe zerdrückt sie einen Berg Kartoffeln in Butter, streut Salz darüber und isst sie. Ob sie noch ein Eis wolle, fragt der Vater anschließend. Gerne: Schokolade, Erdbeere und Zitrone.
„Du solltest aufpassen, dass du nicht noch dicker wirst“, [sagt er]. Sie war kaum zehn und beschloss, das Essen ab sofort bleiben zu lassen.“
In diesem Ton, einfach, knapp und ohne jedes Gefühl, erzählt die personale Erzählerin vom Leben der Protagonistin, so, als könne sie selbst nicht recht ernst nehmen, was ihr da passiert ist, ja, als könne sie sich selbst – und ihren Schmerz – nicht recht ernst nehmen. Manchmal klingt an, welche Folgen diese „verquere Sache“, also der „Betrug“ um ihre Abtreibung für sie hat. Dann wird erzählt, dass sie ein trauriges Mädchen gewesen sei, dies aber als gutes Omen genommen habe. Dass sie später, als Erwachsene schon, Orte rund um die Welt gesucht habe, die ihr Sicherheit geben: „In Sicherheit hieß unsichtbar.“ Es ist genau die Stimme, die zu einer Frau passt, die sich schon als Fünfjährige selbst verloren hat.
Weil das Training ihren Tag und ihr Leben strukturiert und vor allem auch, weil ihr Körper so einen Zweck bekommt, beginnt sie zu tanzen. Und als ihr im Studium das Geld knapp wird, fängt sie an, in einer Peepshow zu arbeiten. Sie findet gar nichts dabei, „weil sie tatsächlich kein Konzept von sexy hatte. Ein paar aufreizende Bewegungen zu dämlicher Musik für geile Männer hinter einer Sichtklappe, die nach fünf Minuten wieder vors Fenster fiel – sie sah nicht, warum sie damit ein Problem bekommen sollte. Sie war in Sicherheit. Niemand konnte sie anfassen, sie hatte alles im Griff. Sie hatte die Kontrolle über die Blicke der Männer“.
Es ist klar, dass diese Protagonistin Probleme haben wird mit Männerfreundschaften, mit Liebe, mit der Ehe und Kindern. So ist es letztendlich auch, auch wenn die Liebe zu Claudio, einem amerikanischen Musiker, lange hält. Sie trennen sich, die Protagonistin wird in den nächsten Jahren als Reisejournalistin um die Welt jetten, wird darauf achten, dass ihr Leben vor allem eines ist: provisorisch.
Spät in ihrem Leben, der Vater ist schon ein paar Jahre tot, beginnt sie doch, sich mit dem Vater auseinanderzusetzen. Sie ist auf eine Beerdigung eingeladen, der Vater einer Freundin ist gestorben, heftig beweint von seiner Tochter. Und hier, bei dieser Trauerfeier erinnert sie sich an die Trauerfeier ihres Vaters. Oder besser: sucht Erinnerungen an die Feier, die sie aber kaum findet. Lieder am Grab hat es wohl nicht gegeben, schon gar keine Maskenspieler, die einen Sketch spielen, der die Trauergäste zum Lachen bringt. Aber sie kann sich auch nicht an die Blumen auf dem Sarg erinnern, an nichts von dem, was gesagt wurde, überhaupt an kaum jemanden, der bei der Trauerfeier dabei gewesen ist. So, wie sie sich im Leben nicht kennengelernt haben, so wie sie sich dort verpasst haben, so hat sie auch die Trauerfeier für den Vater verpasst.
Nun, ausgelöst durch das Maskenspiel, beginnt sie, in der Vergangenheit nach dem Vater zu suchen. Vielleicht findet sie Gründe, warum er zu diesem Menschen geworden ist, zu dem sie keinen Kontakt bekommen hat. Vor allem beginnt sie eine Suche nach seinem Lieblingsbruder, von dem der Vater seit Kriegszeiten nichts mehr gehört hat. Ihre Suche beginnt reichlich spät, viele Zeugen, viele verlässliche Informationen wird sie nicht mehr finden. Aber immerhin erfahren, auf welcher Seite die Brüder, auf welcher Seite der Vater während des Kriegs gestanden haben. Und während ihrer Recherchen lässt sie in assoziativen Einschüben auch immer wieder ihr Leben Revue passieren, so dass sich nach und nach das Lebenspuzzle der Protagonistin vor den Augen des Lesers zusammensetzt. Es ist so, als mache sie sich nun doch auf eine Suche, so, als wolle sie ihm noch einen späten Gefallen tun, als wolle sie endlich eine Anerkennung, ein Lob von ihm. Dabei hätte sie Lob und Anerkennung von diesem Vater wohl schon zu Lebzeiten nicht bekommen.
Je weiter sie die Geschichte des Vaters und des Bruders ausgräbt, umso unsicherer werden ihre Datenquellen. Das ist auf der einen Seite nachvollziehbar. Auf der anderen Seite aber führt es auch dazu, dass die Protagonistin immer mehr Lehrstellen mit den eigenen Spekulationen und Deutungen füllt. Während sich der Leser zu Beginn der Erzählung über Ereignisse und Erlebnisse der Protagonistin, über die besondere Art ihrer Beobachtungen und ihrer Reflexionen ein Bild über sie und ihre Verletzungen machen muss, wird ihm diese eigene Deutungsarbeit gegen Ende der Geschichte, vor allem während ihrer Suche in Südafrika, völlig abgenommen, denn die Protagonistin erzählt alle ihre Annahmen und alle ihre Interpretationen. Und das schadet der Geschichte und dem Leseerlebnis.
Verena Lueken (2018): Anderswo, Köln, Kiepenheuer & Witsch
Zu einem anderen Fazit kommt Ruth in ihrer Besprechung.
Obwohl ich „Alles zählt“ fantastisch fand, bin ich in den neuen Roman nicht hineingekommen, fand viel weniger Tiefgang.
Viele Grüße!
Da haben wir wohl ähnliche Leseerlebnisse gehabt, liebe Marina. Mich hat schon der Ausgangspunkt des Romans, die Suche nach der Geschichte des Vaters, nicht so in ihren Bann gezogen, vielleicht, weil die Geschichte der vom Krieg beschädigten Eltern schon so oft erzählt worden ist, vielleicht, weil mich die Motivation der Protagonistin, sich nach so vielen Jahren auf die Suche zu machen, psychologisch nicht so recht überzeugt hat.
Viele Grüße, Claudia