Lesen, Romane

Margriet de Moor: Von Vögeln und Menschen

 

 

Vor ein paar Tagen stellte Anna auf ihrem Blog buchpost die Autobiografie Anthony Ray Hintons vor, der 1985 in Alabama zu Unrecht wegen angeblichen Mordes zum Tode verurteilt und erst dreißig Jahre später aus dem Gefängnis entlassen wurde. Seine Geschichte ist ein Paradestück dafür, wohin rassistische Vorverurteilungen führen, wenn es denn im gesamten Rechtsapparat so gar niemanden gibt, der seine Arbeit ernsthaft betreibt und auf Widersprüche und eklatante Ermittlungsfehler hinweist. Fast zeitgleich habe ich Margriet de Moors Roman „Von Vögeln und Menschen“ gelesen, dessen erzählerischer Kern auch solch ein „Justizirrtum“ ist.

Auch wenn in de Moors Roman schließlich ein Geständnis vorliegt, wenn auch ein falsches, durch Schlafentzug und andere Formen der psychischen Folter erpresst, die Ermittlungen sind genauso schlampig durchgeführt wie in Hintons Geschichte. Weil die Schuldige, wie in Hintons Fall, schon sehr schnell feststand. Diese Geschichte ist wohl wirklich passiert, in den Niederlanden der 1980er Jahre, nur dass hier die Vorverurteilung keine rassistische Grundlage hat, sondern eine soziale, vielleicht auch eine frauenfeindliche. Margriet de Moors Augenmerk liegt jedoch nicht so sehr auf der Rekonstruktion des fehlerhaften Verfahrens. Viel mehr interessiert sie, was der Mord am neunzigjährigen Bruno Mesdag mit dem Leben von Louise Bergman und ihrer Tochter Marie Lina macht. Wie dieses Ereignis ganz plötzlich ihr Leben umkrempelt, wie es sie in den kommenden Jahren prägt, wie es sie begleitet, ja, wie es in Rache mündet und in einen zweiten Mord.

Die Geschichte setzt an einem frühen Junimorgen ein, als Rinus Caspers, der Vogelvertreiber des Amsterdamer Flughafens Schiphol, von der nächtlichen Arbeit nach Hause kommt. Und schon der zweite Satz des Romans lässt keinen Zweifel daran, dass „die friedliche Stille“ des schönen Frühlingsmorgens „trügerisch“ ist. Zwar scheint alles ganz normal, Rinus legt sich ins Bett, schmiegt sich an Marie Lina an, und erzählt ihr, noch bevor er einschläft, dass die Nacht ruhig gewesen sei am Flughafen, nur am Ende seiner Schicht hätten die Bussarde sich sehen lassen. Sie hätten auf den Tafeln der Anflugbefeuerung gesessen.

Gespräche über seine Arbeit am Flughafen sind üblich bei Rinus und Marie Lina. Sie interessiert sich sehr für die vielen Vögel, die sich neben den Flugbahnen so gerne aufhalten, weil sie der Krach der startenden und landenden Flugzeuge nicht stört und es dort keine Menschen gibt. Dabei unterschätzen die Vögel, dass sie in die Triebwerke geraten können und sich und die Menschen an Bord in Gefahr bringen. Und Rinus weiß genau, was zu tun ist, um Bussarde, Stare und Gänse ihrer Art entsprechend zu vertreiben, damit solch ein Unglück eben nicht passiert.

„Jetzt aber schlafen sie, der Vogelvertreiber und seine heitere Frau Marie Lina, die gestern, am frühen Nachmittag, mit einer anderen Frau in eine tätliche Auseinandersetzung geraten ist. Es war ein heftiger Kampf, ihrerseits in der klaren Absicht, Böses zu tun.

Und dann so friedlich schlafen in der darauffolgenden Nacht?

Wie ein Murmeltier, nein: wie ein Kind.“

Gestört wird ihr Schlaf kurze Zeit später durch die Polizisten, die erst Olivier, den Sohn, aus dem Bett klingeln, der ihnen die Tür öffnet, und dann Marie Lina noch im Schlafzimmer festnehmen. Bevor sie geht, umarmt sie Rinus und flüstert ihm ins Ohr „Ich habe es getan“. Und sie gibt es auch unumwunden einen Monat später bei Gericht zu. Ja, sie hat Klazien Wroude in die Baugrube am Bahnhof gestoßen – und sie hat es mit Absicht getan: „Ich habe mein ganzes Leben an nichts anderes gedacht.“ Und das ist umso überraschender, als dass Marie Lina mit Rinus, dem Sohn Olivier und dem Bordercollie Sjaak ein so normales Leben führen, ja, ein sehr glückliches, wie immer wieder zu lesen ist. Anders also als der reale Hinton kann Marie Lina die Geschichte des Mordes an Bruno Mesdag und die dazugehörenden Ungerechtigkeiten nicht verwinden und bewahrt ihre verlorene Kindheit und das zerstörte Leben der Mutter tief in sich auf.

In der Festnahme Marie Linas spiegelt sich die Festnahme ihrer Mutter Louise vor über zwanzig Jahren. Als die Polizisten damals Louise abholten, geschah das aber völlig überraschend. Wie in einem schlimmen, nicht endenden Albtraum kann Louise sich dem Verdacht nicht entziehen und gerät tief in die Mühlen der Justiz. Und Marie Lina, damals neun Jahre alt, hat die Szene der Verhaftung so entsetzt, dass sich die Wut, die sie in diesem Moment erlebt und die zu einem Schrei führt, „ein hoher Schrei, ein Schrei wie ein Messer“, so tief in ihr eingräbt, sich so entwickelt und gedeiht, dass, neben dem ganz normalen Leben, das sie führt, immer auch eine Sehnsucht in ihr wächst, dass endlich ein spektakuläres Unglück geschehen möge.

Marie Linas und Rinus´ Geschichte, die Geschichte ihrer seit zwölf Jahren so glücklichen Ehe, bildet den Rahmen des Romans. Während sehr detailliert und zeitdehnend der Morgen der Festnahme erzählt wird, schildert die Erzählerin, die ganz souverän alle Fäden der Geschichte in der Hand hält und die ebenso souverän ganz verschiedene Erzählperspektiven und -stile anwendet, wie es zu der Auseinandersetzung zwischen Marie Lina und Klazien Wroude an der Baugrube gekommen ist. Sie holt weit aus in der Vergangenheit Marie Linas, erzählt von ihrer Kindheit, von ihrer Mutter Louise, der Altenpflegerin, die so fürsorglich und liebevoll für die Tochter sorgt, ein Kätzchen aufnimmt, weil Marie Lina sich eines wünscht, und die die Literatur so mag. Zweimal in der Woche versorgt Louise die Wohnung des hochbetagten Bruno Mesdag. Die Erzählerin hat auch Zeit und Muße, von Bruno Mesdag zu erzählen, von seinem erfüllten Leben, von seiner Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft, die sich auch darin zeigt, dass er, selbst sechsundachtzigjährig, einen jungen Mann vor dem Ertrinken zu retten versucht.

Und sie erzählt von der Familie Caspers, dem Vater mit seinen drei Söhnen, von denen einer Rinus ist, der Gärtner, der dann als Vogelvertreiber arbeitet. „Es war einmal ein Vater, der zu seinem Kummer keine Tochter hatte, dafür aber drei Söhne“, beginnt dieser Erzählstrang. Und tatsächlich mutet diese Familiengeschichte, auch wenn sie nicht immer für alle Familienmitglieder nur das reine Glück bereithält, an, wie ein Märchen.

Es spricht für Margriet de Moors Erzählkunst, dass die Erzählung dieser fast märchenhaft gestalteten Familiengeschichte nicht in den Kitsch abrutscht. Und dass sie – ganz im Gegenteil – durch die sprachliche Gestaltung eine ganz besondere Atmosphäre kreiert, der man geradezu gespannt folgt, eine Atmosphäre auch, die wie aus der Zeit gefallen erscheint, auch wenn es Hinweise zu der Verwurzelung der Ereignisse in unserer Zeit gibt. Letztendlich spiegelt diese Zeitlosigkeit den Kern des Romans, denn Rache, wie sie entsteht und lange schlummert, um dann irgendwann doch an die Oberfläche zu streben, ist ja eine zutiefst menschliche und alle Zeiten überdauernde Regung.

Und was die Besonderheiten Margriet de Moors sprachlicher Gestaltung betrifft, so findet sich in diesem Roman wieder, was wir auch schon aus anderen ihrer Romane kennen, nämlich der ganz besondere Klang ihres Erzählens. Dabei wechseln sich märchenhaften Passagen, in denen auch schon einmal Konversation mit den Toten betrieben wird, mit ganz realistischen ab, mit Zeitungsartikeln, die über Bruno Mesdags Rettungsaktion berichten, mit den Passagen, in denen die Polizisten Louise gegen alle rechtsstaatlichen Standards in die Verhörmangel nehmen, mit den Passagen, in denen das fast fürsorglich anmutende Strafvollzugssystem der heutigen Niederlande erwähnt wird.

Erstaunlich ist aber nicht nur, wie Margriet de Moor die Geschichte um Louise und Marie Lina erzählt, sondern vor allen Dingen auch, wie diese Geschichte auf die Leser wirkt. Wie der Leser, genau wie die Familie Caspers, sich gar nicht wundert, dass die eigenen ethischen Vorstellungen hier ordentlich aus dem Lot geraten. Wie auf einmal gar nicht mehr der Justizirrtum und die Frage, wie das in einem Rechtsstaat am Ende des 20. Jahrhunderts nur passieren konnte, im Mittelpunkt steht. Sondern dass Rache offensichtlich durchaus dazu führen kann, die Seele zu befreien. Davon erzählt Margriet de Moor äußerst kunstvoll und versiert, fesselnd, verstörend und nachdenklich.

Margriet de Moor (2018): Von Vögeln und Menschen, übersetzt aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen, München, Carl Hanser Verlag

12 Kommentare

  1. letteratura sagt

    Sehr schöne Besprechung zu einem wunderbaren Buch!

  2. De Moor ist eine ganz große Schriftstellerin! Danke für den ausführlichen Beitrag. Ich bin auch immer wieder gebannt bei jedem neuen Buch.
    Viele Grüße!

    • Liebe Marina,
      ich habe vor den „Vögeln und Menschen“ erst den Roman „Sturmflut“ gelesen, der mich auch nachhaltig beeindruckt hat. Und habe nun offensichtlich noch ein paar Romane de Moors vor mir. Ich habe mich ja auch von deiner Besprechung vor einigen Wochen zu dem Roman hinreißen lassen – zum Glück, kann ich nur sagen, denn es war ein wirklicher Lesegenuss.
      Viele Grüße, Claudia
      Marinas Besprechung könnt ihr hier nachlesen: https://literaturleuchtet.wordpress.com/2018/06/24/margriet-de-moor-von-voegeln-und-menschen-hanser-verlag/

      • Das freut mich riesig. Es ist immer schön, wenn man sich gegenseitig „befruchten“ kann. Das ist auch das Beste am Bloggen!

      • Das stimmt. Kommentare, ab und zu auch mal eine ganz angeregte Diskussion und die Rückmeldung, dass man einen Leser neugierig gemacht hat auf einen Roman – das ist immer wieder die Motivation.

  3. Ich liebe ihre Bücher und verstehe nicht, warum ich dieses noch nicht gelesen habe.
    Sehr schön Rezension!
    Viele Grüße
    Silvia

    • Liebe Silvia,
      dann hast du ja noch ein tolles Lektüreerlebnis vor dir. Ich wünsche dir viel Freude dabei und hoffe, dann darüber lesen zu können.
      Viele Grüße, Claudia

  4. Liebe Claudia,
    keine Frage, jetzt möchte ich das Buch lesen und nach der Lektüre komme ich zu deiner Besprechung zurück. LG
    Anna

    • Liebe Anna,
      da freue ich mich drauf! Vielleicht wird ja aus der Lektüre sogar eine eigene Besprechung von dir und ich kann dann den Roman noch einmal nacherleben.
      Viele Grüße, Claudia

    • Das ist ja schön, liebe Maren. Auf ein Buch neugierig gemacht zu haben, ist doch das Beste, was einem als Blogger passieren kann. Und ich hoffe, du wirst nicht enttäuscht.
      Viele Grüße, Claudia

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