„sie lernte das Licht“ – Ein Gastbeitrag von Thomas Molitor
Esther Kinskys Roman „Am Fluß“ ist am River Lea im Nordosten Londons angesiedelt. Die namenlose Ich-Erzählerin wählt diesen zunächst bedeutungslosen, fast vergessenen Ort, um sich vom großstädtischen Leben, aber auch von ungenannten Beschädigungen ihrer eigenen Existenz zu verabschieden: „Ich hatte mich nach Jahren aus dem Leben, das ich in der Stadt geführt hatte, herausgeschnitten wie einen Schnipsel aus einem Landschafts- oder Gruppenfoto.“ Mit diesem sezierenden Schritt in einen ihr unbekannten Stadtrandbezirk Londons will sie sich einerseits von Vergangenem lösen, zugleich aber längst verschüttete Erinnerungen aufsuchen, um so eine neue Zukunftsperspektive aufzubauen.
In diesem Außenbezirk Londons, der schon bessere Zeiten gesehen hat, geht die städtische Dichte über in eine Art Grenzgebiet. Auch die dort lebenden Menschen sind von der pulsierenden Urbanität an den Rand gespült worden. Neben frommen Juden leben hier Menschen unterschiedlichster Herkunft. Sie alle sind hier gestrandet, weil sie sich im städtischen Labyrinth und damit in ihrem eigenen Leben nicht mehr zurechtgefunden haben.
So zieht die Erzählerin in eine kleine, eher zufällig gewählte Wohnung. Dort bleiben ihre Umzugskartons unausgepackt und mit ihren Möbeln vermeidet sie es, sich häuslich einzurichten. Hausrat zum Leben ersteht sie bei einem kroatischen Trödler im Viertel, denn sie will zunächst auch ihre Kartons nicht auspacken. Soziale Beziehungen scheinen nicht zu existieren. Sie sucht geradezu Isolation und Einsamkeit. Wie eine kühl kalkulierte Versuchsanordnung zur Ich-Erforschung wirkt diese Ausgangssituation, in der ein vertrautes, aber beschädigtes Leben gegen ein provisorisches getauscht wird.
Schließlich beginnt die Protagonistin damit, ihr zufällig gewähltes, fremdes Umfeld zu erkunden, indem sie täglich ausgedehnte Spaziergänge in ihrem Stadtteil und seiner Umgebung unternimmt. Sie stößt dabei auf den River Lea, der Londons Nordosten vom dahinter liegenden Marschland trennt. Sie entdeckt dabei, dass das Durchwandern dieses unbekannten Grenzgebiets, in dem städtische Strukturen mit ihren geschichtlichen Gebrauchsspuren durch einen Fluss aufgehalten werden, um dann in eine weite natürlich Landschaft auszuufern, in ihr Erinnerungen an Vergangenes, an ihre persönliche Geschichte wach rufen. Schließlich bemerkt sie, dass in ihrem bisherigen Leben Flüsse immer schon eine besondere Rolle gespielt haben.
Der Fluss war für sie immer schon „Bewegung, Unordnung und Unberechenbarkeit in einer Welt, die nach Ordnung strebte“. Er repräsentiert eine Grenze, an deren Bruchstelle etwas erkennbar wird: „das Hier und das Dort.“ Es stoßen unterschiedlich Räume und Welten aneinander, die etwas sichtbar machen, was ansonsten unsichtbar ist.
An der Lea zeigt sich eine vergangene industrielle Kultur in Form von verlassenen und zerfallenden Produktionsanlagen, heruntergekommenen Arbeitersiedlungen, überwuchertem Industriegelände und verwahrlosten Stadtrandbezirken, in die sich das multikulturelle Prekariat der Großstadt zurückgezogen hat und um sein Überleben kämpft, ebenso wie die Natur, die durch vielerlei Pflanzen- und Vogelarten und ungeplante Renaturierung Lebensräume zurückerobert.
Zugleich gibt es aber auch immer die andere Uferseite, die als hoffnungsvolle Perspektive erscheint, „unscharf zu erkennen und ein vages Gelände verschwimmender Formen und zerfließender Farben“, und natürlich den Fluss selbst, der vielerlei Dinge anschwemmt und Vieles auch mitreißt. Der Erzählfluss folgt dabei dem natürlichen Verlauf: „Mich interessierte nur noch, was flußabwärts ging, auf diese lichtere Weite zu, in der man irgendwann ans Meer stoßen würde.“ Das aufmerksame Durchwandern einer solchen Flusslandschaft als Erzählanlass bietet so der Erzählerin die Möglichkeit, das gerade Wahrgenommene mit Erinnerungen aus der Vergangenheit zu verbinden. So fädelt sie bei ihren täglichen Gängen entlang der Lea scheinbar zufällig erinnerte Geschichten auf einen Erzählfaden, der am Ende so etwas wie ein „Ganzes“, einen Lebensrückblick ergibt. Dies sind vor allem Flussgeschichten, die vom Rhein bis zum Ganges reichen.
Und noch mehr entdeckt sie bei ihren neun Monate währenden täglichen Sreifzügen entlang des River Lea zwischen August und April: „sie lernte das Licht“. Das Licht der verschiedenen Jahreszeiten, das wechselnde Tageslicht, das Licht unterschiedlichster Witterungsverhältnisse. Aber auch die Brechung des Lichts an den verschiedensten Gegenständen, den Pflanzen, Mauern, Dämmen, Landschaften und Fundsachen.
Die Farben und Schatten mit all ihren Zwischentönen präzisieren die Wahrnehmung, schärfen den Blick für das Objekt, das buchstäblich in neuem Licht erscheint. Unermüdlich müht sich die Erzählerin, Licht und Farben differenziert und sprachlich genau zu fassen, wissend, dass dies ein unmögliches Unterfangen ist. Es ist kein neuplatonisch transzendent-metaphysisches Licht der Erleuchtung, das sie inspiriert, sondern ein in bestem Sinne frühromantisches Licht der Aufklärung. An solchen Stellen ist die sprachliche Konkretion der Lyrikerin Kinsky oft besonders spürbar und – gepaart mit dem sensiblen Sprachbewusstsein der Übersetzerin – sind einige Passagen geradezu sprachgewaltig.
Neben der wortgewandten Erzählweise greift sie zusätzlich auf eine Reihe von Fotografien als Lichtmedium zurück, die die Protagonistin scheinbar zufällig erstellt: „Ich fotografierte, was ich sah.“ Sie benutzt dazu eine alte Sofortbildkamera für Schwarzweißaufnahmen. Auch hier lassen die entwickelten Bilder durch ihre verfremdete Darstellung weitere Wirklichkeitsebenen durchscheinen: „Unter der abgezogenen Entwicklungsfolie kam auf dem Schwarzweißfoto mit seinen unzähligen Grauabstufungen eine Erinnerung zum Vorschein, von der ich noch gar nicht gewußt hatte, dass ich sie besaß. Es waren Bilder von etwas, das hinter den Dingen lag, auf die das Objektiv gerichtet gewesen war und die der Auslöser einen unmerklichen Augenblick lang beiseite gestreift haben mußte.“ In diesem Sinne ist wohl auch die „alte, sepiabraune “ Widmungsfotografie mit dem Vermerk „dem blinden Kinde“ am Anfang des Romans zu verstehen, die ein elfjähriges Mädchen zeigt, das „trotz der ahnenden Wachheit ihres Blickes“ nicht blind, sondern „unsehend“ erscheint.
Hier liegt auch der Reiz dieses von melancholischer Leere handelnden Romans. Er verführt Unsehende zum Sehen und unversehens schlägt freundlicher werdende Leere in Fülle um. Zusammen mit der Erzählerin begibt man sich auf zahllose Wanderungen entlang des River Lea und wird mehr und mehr in den Fluss als Reflexionsmedium hineingezogen. Dem Flusswasser entspricht bei Kinsky die Sprache. Immer wieder umspült sie das Wahrgenommene und Erinnerte sprachmächtig, paraphrasierend, Wortneubildungen erfindend. Satzstrudel ziehen zuweilen den Leser in den Erzählstrom, wenn z.B. vom Ganges und dessen mystischer Nutzung erzählt wird. Umgekehrt tastet sie Wahrgenommenes wie langsam fließendes Wasser mit vorsichtigen, klaren Worten ab. So wird der bewanderte, mäandernde Fluß zu einer Chiffre für ein sehendes, wahrnehmendes, erinnerndes und reflektierendes Sprechen, das flussabwärts bei Sherness „in der Mündung, zwischen Meer und Fluß“ eine nie stillstehende „Mitte“ findet, in der nichts anfängt und nichts aufhört.
Esther Kinsky (2014): Der Fluß, Berlin, Matthes und Seitz
Das klingt sehr, sehr interessant. Vielen Dank für die Empfehlung!
… und noch eine Frau, die durch London wandert … Eine schöne Besprechung, die nach Ruhe und Unaufgeregtheit klingt. Aber, und das wäre meine Frage, kommt die Protagonistin denn zu wesentlichen Erkenntnissen? Wird sich etwas ändern? LG, Anna
Natürlich durchläuft die Protagonistin einen Entwicklungsprozess. Allerdings gibt es keine Wendepunktdramaturgie. Denn wie der River Lea keine spektakulären Stromschnellen oder Wasserfälle enthält, so vollzieht sich die Veränderung eher langsam und erinnert an einen natürlich-rhythmischen Weiterentwicklungsprozess. So dauert er auch symbolische neun Monate und erstreckt sich zudem über alle vier Jahreszeiten.
Während dieser Zeit wird die Protagonistin – wie beschrieben – „sehend“. Gleichzeitig verändert sich auch ihr Gefühl für „Leere“, deren Facetten immer wieder beschrieben werden. Erscheint diese „Leere zunächst als Resultat einer urbanen, schnelllebigen Überreizung und seelischen Sättigung, die fast alle Erlebnis- Handlungsfähigkeiten erstarren lassen, so wandelt sie sich im Laufe der „Flussgänge“ zu einer Leere der Offenheit, in der immer mehr Platz entsteht für das Sehen, Erinnern, Reflektieren und Phantasieren. Dies ist mit der gefundenen „Mitte“ im Mündungsbereich der Lea angesprochen; außerdem ist es Frühling.
Wie weit dieser Entwicklungsprozess wirklich trägt, bleibt (glücklicherweise) offen. Immerhin macht die Protagonistin sich im mehrfachen Wortsinn „erleichtert“ auf den Weg nach Osteuropa…
Viel interessanter ist, ob der Roman etwas mit uns macht und was wohl ein vergleichbares Experiment in unsere eigenen „Grenzgebieten“ bei uns auslösen würde.
Seit der Lektüre trage ich jedenfalls bei meinen täglichen Spaziergängen mit meinem Hund (Lotta, Berner Sennenhündin, 5 Jahre) entlang des River Ruhr eine kleine Digitalkamera bei mir, mit der ich fotografiere, „was ich sehe“ – selbstverständlich in Schwarzweiß. Ich bin erstaunt, was ich sehe bzw. nicht sehe und was mir dazu alles einfällt – aber das verrate ich hier nicht!
Lieber Thomas,
das ist ja ein wunderbarer Aufhänger für einen schönen River-Ruhr-Blog in schwarz-weiß :-).
Viele Grüße, Claudia
Vielen Dank für deine Antwort, Thomas. Auch und besonders für die Anmerkung, dass der Roman etwas mit dem Leser machen könne. Plötzlich war mir klar, ob dass ein Buch für mich sein könnte oder eben nicht. Viel Freude und gelingendes Sehen bei deinen Spaziergängen.
Liebe Anna,
nun also die Antwort zu Deiner Lektüre-Frage vom Autor des Beitrages. Schau noch einmal auf dem Blog vorbei.
Viele Grüße, Claudia
Lieber Thomas,
vielen Dank für diese aussagekräftige wie einfühlsame Besprechung dieses doch nicht ganz so einfach zugänglichen Buches. Mir jedenfalls schien es so beim Reinlesen.
Ich werde das Buch wohl in absehbarer Zeit, bei aller Sprachmacht nicht lesen. Obwohl ich die Idee Flussidee und das durchs Bilder machen Sehen lernen eigentlich schön finde. Es scheint mir einfach zu viel Selbstbespiegelung dabei. Das ertrage ich gerade schlecht.
Wie auch immer, vielen Dank für Deine Besprechung, die habe ich auf jeden Fall gerne gelesen.
Liebe Claudia,
ich bin nun wirklich froh, dass ich abgelehnt habe, dieses Buch zu besprechen. Thomas Monitor hat das an dieser Stelle so viel besser gemacht, als ich es je gekonnt hätte – und ich bin mir eigentlich sicher, dass ich das Ding nicht durchbekommen hätte. Zu viele Seiten über ein trauriges Ich. Es spricht mich einfach immer noch nicht an.
Liebe Grüsse an Euch beide
Kai
Ich habe das Buch von Esther Kinsky im vergangenen Dezember gelesen, und es war eine der merkwürdigsten Lektüren seit langem. Denn ich mochte es nicht. Es – ? Hm, die Art des Erzählens, des Sprechens, des Textens (hu, schlimmster Vorwurf, wenn Schreiben zum Texten wird). Ich habe hier und da gequiekt, als hätte mich jemand gepiekst beim Lesen mancher Sätze. Andere Absätze habe ich gar nicht zu Ende gelesen, ich brachte die Geduld nicht mehr auf, sehr oft habe ich laut gestöhnt. Und weitergelesen. Und zwar mit steigendem Vergnügen. Wie, frage ich mich, kann das sein? Die Sprache hat mich bis zum Schluss oft geschüttelt. Nichtsdestotrotz haben sich große Panoramen in meinem Kopf gezeigt, kleine Bilder von Details, Bilder durchzogen von eigenen Erlebnissen, Himmel aus anderen Ländern und anderen Zeiten. Ich mochte besonders diese Szenen, die sich in surrealen Spiralen verlieren. Oder die anderen, wo Menschen auftauchen, mit denen ich mich an den Leseabenden anfreundete, und von denen ich gerne wüsste, wie es ihnen geht und ob sie noch leben. Vielleicht ist es das Erzählen selbst, ungeachtet der verwendeten Worte, das mich durch das Buch und durch die Dezemberabende getragen hat. Bin ich froh, keine Literaturkritikerin zu sein!