Lesen, Romane

2017 – Ein verspäteter Lese- und Blogrückblick

Die Zeit der Leserückblicke auf 2017 – und Lesevorfreuden auf 2018 – ist ja fast schon vorbei. Mich hat das neugierige Interesse an einem rückschauenden Blick auf das vergangene Lesejahr offensichtlich erst verspätet erwischt, aber doch noch nicht zu spät, um mein Lesejahr 2017 noch einmal in den Blick zu nehmen.

Ich bin im letzten Jahr weniger zum Lesen gekommen und habe manchmal noch weniger Lust – manchmal auch weniger Zeit – gehabt, über das Gelesene zu schreiben. Denn irgendwie ist mir die die Motivation abhanden gekommen, die doch oft sehr zeitintensive und aufwendige Schreiberei über das Gelesene so regelmäßig zu betreiben, wie ich es in der Vergangenheit ganz selbstverständlich getan habe. Erkrankungen werden einen großen Einfluss darauf gehabt haben, wofür Zeit ist und Zeit verwendet werden soll, erst die der Eltern, dann eine eigene. Trotzdem haben sich genügend Bücher in meinen Lesekanon gereiht, die mir wiederum ganz neue Horizonte eröffnet, mich Vieles über die Welt gelehrt und meinen Blick auf mein Umfeld neu geschärft haben, Bücher, die mich sprachlich und konzeptionell herausgefordert haben.

Da sind vor allem die französischen Romane zu nennen. In besonderer Weise – und so wie ich es bei den deutschsprachigen manchmal auch vermisse – befassen sie sich mit der aktuellen gesellschaftlichen Verfasstheit, mit ihren Brüchen und Rissen. Aber selbstverständlich hat es auch zahlreiche beeindruckende deutschsprachige Romane gegeben, bei denen es mir dann doch schwer gefallen ist, meine Auswahl zu treffen.

Zunächst also der Blick auf die französischen Romane:

Shumona Sinha zeigt in ihrem Roman „Staatenlos“ (Edition Nautilus) die Situation dreier indischstämmiger Frauen auf. Mina, Tochter einer bengalischen Bauernfamilie, engagiert sich im Kampf gegen einen Automobilkonzern, der der die ansässigen Bauern um ihr Land bringen will, um einen neuen Produktionsstandort zu bauen und damit Arbeitsplätze zu schaffen. Letztendlich aber scheitert sie auf barbarische Weise an den archaisch anmutenden gesellschaftlichen Vorschriften. Esha dagegen, eine Tochter reicher indischer Eltern, kann ihren Traum von einem Leben in Paris verwirklichen. Sie unterrichtet Englisch in einer Schule, wohnt nahe des Zentrums und stellt einen Antrag auf die französische Staatsbürgerschaft. Innerlich jedoch verunsichern Rassismus und Sexismus sie mehr und mehr. Und Marie, die dritte Frau, ist als Kleinkind von französischen Eltern adoptiert worden und pendelt nun auf der Suche nach ihrer indischen Familie zwischen den Ländern.

Dass mich Virginie Despantes „Das Leben des Vernon Subutex“  begeistert hat, habe ich ja schon berichtet. Nicht nur die Handlung um den in einen finanziellen Abstiegsstrudel gerissen Vernon ist rasant, witzig, spannend und mit vielen überraschenden Wendungen erzählt. Vor allem die Einblicke in Denken und Handeln der unterschiedlichen Menschen, auf deren Sofas und in deren Gästebetten Vernon immer für ein paar Tage strandet, erweisen sich als grandiose Blicke auf die verschiedenen gesellschaftlichen Milieus. Und geradezu erschreckend ist das rechte Gedankengut, das sich einige der Figuren angeeignet haben.

Tanguy Viel lässt in seinem Roman „Selbstjustiz“ (Wagenbach Verlag) einen Mörder zu Wort kommen. Martial Kermeur, Vater des 17-jährigen Erwan, ein unauffälliger Bürger, der lange Jahre in den Rat der Stadt gewählt wurde, hat beim Angeln auf hoher See Antoine Lezenec über die Reling gestoßen und so seinen Tod verursacht. Nun sitzt er vor seinem Richter und soll den Tathergang genau schildern. Und der Richter scheint, wie der Leser auch, seine Sympathien zu finden für diesen Mörder eines Immobilienentwicklers, der nicht nur Kermeur ganz übel mitgespielt hat.

Und bei den deutschsprachigen Romanen:

In einem ziemlich verregneten Sommerurlaub in den Bergen hat die neu herausgebrachte Rostocker Ausgabe der „Mutmassungen über Jakob“ von Uwe Johnson mich wie schon vor vielen Jahren begeistert und so erfolgreich von trüben Blicken auf das ewig regnerische Wetter abgehalten. Sprache und Konstruktion des Romans sind auch beim Wiederlesen beeindruckend n. Beeindruckend aber ist auch die Klarheit von Johnsons Blick auf die ostdeutschen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse gewesen. Und die Kommentare der Herausgeber tragen noch einmal wichtige Hintergrundinformationen zum Roman, zu seiner Entstehungs-, Veröffentlichungs- und Rezeptionsgeschichte zusammen.

Robert Menasses „Hauptstadt“ hat mich begeistert, denn es ist doch eigentlich unmöglich, so habe wahrscheinlich nicht nur ich gedacht, einen ironischen, spannenden und die Brüssler EU-Bürokratie entlarvenden Roman verfassen zu können, in dem trotz- und alledem die ursprüngliche politische Idee eines vereinten Europas wieder in Erinnerung gerufen wird. Geht aber wohl doch. Robert Menasse hat es bewiesen und ist dafür auch gleich mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden.

Ebenso unwahrscheinlich schien es vor Petra Morsbachs Roman „Justizpalast“ (Knaus) so interessant, so umfangreich, so vielschichtig und mit so tiefen Einblicken über die Arbeit mit den Gesetzen zu schreiben. Und auch wenn Leser sich möglicherweise manchmal vergewissern mögen, ob sie nicht doch ein juristisches Sachbuch lesen, dann sind die zahlreichen dargestellten Fälle, die Thirza Zorniger, die Hauptfigur des Romans, bearbeitet, ihre rechtsphilosophischen Reflexionen und auch ihre Beobachtungen und Berichte aus dem inneren Leben des Justizpalastes mit seinen persönlichen Schicksalen, seinen persönlichen Krisen und seinen so menschlichen und kollegialen Zwistigkeiten, eine wirklich sehr lohnenswerte Lektüre.

Über einige der hier in meiner Art „Liste der besonderen Romane 2017“, Romane, die vielleicht nicht nur mich beeindruckt haben, sondern auch in 10 Jahren noch interessierte Leser finden werden, habe ich noch nichts geschrieben. Es würde sich schon lohnen, den Berg der „unverbloggten“ Bücher abzubauen. Mal schauen, ob ich das hinbekomme oder es doch immer mal wieder ruhiger auf dem Blog wird.

3 Kommentare

  1. Manchmal fehlt die Zeit, machmal die Lust, manchmal gibt es einfach Wichtigeres als zu bloggen – das kenne ich gut, liebe Claudia. Mach es einfach so, wie es für dich passt. Ich freue mich in jedem Fall von dir zu lesen, auch wenn es seltener ist. Ein gutes und gesundes neues Jahr wünsche ich dir!

  2. Liebe Claudia,
    wie schön, wieder von dir zu hören bzw. zu lesen. Hätte dein Schweigen auf dem Blog noch länger gedauert, hätte ich eine Vermisstenmeldung aufgegeben. Aber es tut mir leid, dass es nicht nur die Fragen ums Zeitmanagement waren, die es auf deinem Blog ruhiger haben werden lassen, sondern auch ernstere Fragen. Ich wünsche dir sehr, dass es dir und deiner Familie wieder gut geht.
    Und dein Rückblick hat auch etwas sehr Gutes: Ich habe die Mutmaßungen immer noch nicht gelesen und du erinnerst mich daran, dass ich das doch schon längst habe lesen wollen, wenn sich da nicht dauernd andere Bücher recht vorwitzig vordrängeln würden… Und „Die Hauptstadt“ liegt auch noch unberührt hier herum.
    Also, ganz herzliche Grüße an dich, in der Hoffnung, dass es ein gutes, schönes, buntes, gesundes Jahr für dich und deine Familie wird. Und blog so viel oder wenig, so lang oder kurz, wie du willst. Hauptsache, man liest sich überhaupt.
    Anna

  3. Siehste mal, liebe Claudia! Bei den Jahresfavoriten sind wir uns gar nicht so einig. Ich habe nur einen Deiner sechs Toptitel gelesen und fand „Vernon Subutex“ eher halbgar (Kurzkritik folgt noch). Aber gleichzeitig wird mir klar, dass ich dringend „Staatenlos“ lesen muss. Habe Shumona Sinha in Berlin bei der Buchvorstellung erlebt, das war eine der tollsten Literaturveranstaltungen 2017! Und dann ging das Buch im Herbststress irgendwie unter … wird nachgeholt! Ein schönes neues Jahr wünsche ich Dir! Tobias

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