Es braucht nur ein paar Sätze und schon ist er wieder ganz präsent, dieser so typische Klang der Johnson-Sprache. Eine Sprache, die Worte nutzt, denen Johnson auch unübliche Bedeutungen abringt, die immer wieder diesen ungewöhnlichen Satzbau hat, der ganz eigene Rhythmen entwickelt, einen eigenen Sog entfaltet für diejenigen Leser, die sich davon packen lassen. Eine Sprache, die Blicke freigibt auf scheinbar unwichtige Details und dadurch soviel zur Atmosphäre beiträgt und soviel auch über die Charaktere verrät. Und die Werkausgabe Johnsons, die in diesem Frühjahr mit dem ersten Band, den „Mutmassungen über Jakob“ gestartet ist, hat den Anstoß gegeben, Johnson wieder zu lesen und diesen ganz speziellen Kosmos wieder zu entdecken, der seine Werke ausmacht.
Es gilt beim Lesen immer wieder zu bedenken: „Mutmassungen über Jakob“, die Geschichte um Jakob Abs, Dispatcher bei der Reichsbahn der DDR, die im Jahr 1956 angesiedelt ist – die Widerstände in Ungarn und ihr Ende durch den Einmarsch sowjetischer Truppen bilden den politischen Rahmen – ist tatsächlich der Debütroman Uwe Johnsons. Und entfaltet schon alles, was auch die späteren Romane ausmacht, die besondere Sprache und Konstruktion natürlich, vor allem aber das Ausloten der Frage, welche Wirkungen die politischen Verwerfungen auf das Leben der Menschen hat.
Als der Roman 1959 erschien, von Beginn an erfolgreich wie nur wenige Debüts, da war die Frage, wie es zu Jakobs Tod gekommen ist, eine durchaus aktuelle. Aber auch heute, fast 60 Jahre später, sind die „Mutmassungen“ längst nicht nur ein historischer Roman, der die dunklen Kapitel der deutschen Geschichte ausleuchtet, sondern durchaus aktuell. Denn die Frage, wie Menschen sich unter politischem Druck entscheiden, welche Kraft ihnen abverlangt wird, „richtig“ zu leben, auch wenn das gegen die Liebe ist, gegen Freundschaften, gegen die Familie, die ist ja eine durchaus zeitlose.
„Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen“. Sagen die Freunde und Kollegen Jakobs, wenn sie beginnen darüber zu mutmaßen, wie es denn nur passieren konnte, dass Jakob, der doch ein sehr kundiger Eisenbahner ist und das Risiko des Gehens quer über die vielen Gleise genau einschätzen kann, zu Tode gekommen ist. Auch wenn das Unglück an einem Novembertag passiert ist, die Gleise feucht waren und Nebel die Sicht behindert hat, scheint die Version des Unfalltodes unglaubwürdig. Ist es nicht doch ein Selbstmord gewesen – oder ist er gar getötet worden von der Stasi?
Und Gründe für alle drei Optionen lassen sich leicht finden. Denn da spielt ja nicht nur das Wetter eine Rolle, sondern es gilt auch die Tatsache zu berücksichtigen, dass Jakob Abs ins Visier der Staatssicherheit geraten ist. Eigentlich aus reinem Zufall und weil Heinrich Cresspahl wegen des Singens eines vielleicht politisch unkorrekten Liedes in der Dorfkneipe Jerichows im Spitzelbericht nach Berlin auftaucht. Den Bericht liest der gerade zum Hauptmann beförderte Rohlfs, der die Berichte aus der Provinz sichtet, um für sich ein neues Betätigungsfeld abzustecken und der sich erst wundert, welche Belanglosigkeiten die Leute in die Berichte schreiben. Ein paar Zeilen später aber stößt er auf den Hinweis, dass eben dieser Cresspahl eine Tochter hat, Gesine, die nicht nur republikflüchtig ist, sondern im Westen auch noch als Dolmetscherin für die NATO arbeitet. Und so kommt er an Jakob, der mit seiner Mutter bei Cresspahl einen neuen Wohnort gefunden hat, als sie am Ende des Krieges bei der Flucht aus dem Osten in Jerichow gestrandet sind. Über Jakob, der seit seiner Ankunft in Jerichow mit Gesine zusammenlebt wie mit einer Schwester, will Rohlfs an Gesine kommen, will sie als Agentin „gewinnen“. Dabei hat er da seine Methode:
„Sie haben schon die Gewohnheit, nur das allenfalls Straffällige zu sehen, damit erfahren Sie nichts. Sie wissen mehr von einem Menschen, wenn Sie rauskriegen, wie er seine Kinder behandelt und ob er seinen Freunden gefällig ist für Gegendienste oder bloss so […]. Zwischen Staatsbürger und Staatsfeind darf man nicht eine Grenze ziehen vorher. Jedermann ist eine Möglichkeit.“
Und so beginnt Rohlfs, sein Netz um die Beteiligten zu spinnen. Er reist nach Jerichow, hört sich um, was die Leute erzählen, beobachtet Cresspahl, holt Erkundigungen ein über Cresspahl und Jakob, über ihre finanziellen Verhältnisse, ihre Arbeitsmoral, über Jakobs Beziehungen zu Kollegen, zu Frauen, über seinen Tagesablauf. Rohlfs spricht Jakobs Mutter auf ihre Beziehung zu Gesine an – und die erschreckt sich so, dass sie innerhalb von ein paar Tagen ihre Flucht nach West-Berlin vorbereitet und umsetzt. So kann Rohlf die Fäden seines Netzes immer enger um Jakob schlingen.
„Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen.“ – dieser geniale erste Satz, der, immer wieder ausgesprochen von den Freunden, verweist nicht nur auf das außergewöhnliche Ereignis sondern drückt auch auf ihre Zweifel an der Unfallversion aus und auch ihre Achtung vor dem Können und den Kenntnissen Jakobs. So treiben die Freunde in ihren Gesprächen miteinander, in ihren Monologen auch, einen Teil der Erzählung voran, nämlich durch ihre Rekonstruktionen der Ereignisse der Tage und Wochen vor Jakobs Tod. Jede der Stimmen kann nur ihre – begrenzte – Sicht der Dinge berichten, jede Stimme liefert nur ein paar Mosaiksteine. Erst der Leser kann alle Steine zusammentragen – und wird auch scheitern bei der Aufklärung des Falles.
Damit ist schon ein wichtiges Konstruktionsmodell des Romans beschrieben: Denn Teile des Romans bestehen aus Dialogen der Beteiligten. Da spricht Jonas Blach, ein Anglist aus Ost-Berlin und der Freund Gesines, mit Jöche aus Jerichow, dem Lokomotivführer und alten Freund Jakobs; da telefonieren Gesine und Jonas und es spricht Rohlfs mit Gesine. Auch Monologe von Rohlfs, von Blach und Gesine fließen in den Erzählverlauf ein. Eine dritte Erzählinstanz ist die des neutralen Erzählers, der die Geschichte chronologisch vorantreibt und die Klammer bildet für die verstreut eingeschobenen Dialog- und Monologprotokolle. Diese Konstruktion – und die wenigen Hinweise des Autors zur Frage, wer gerade spricht – machen die Lektüre vor allem zu Beginn zu einer Herausforderung, motivieren den Leser aber auch dazu, die verwirrten Fäden zu entwirren und bringen ihn so in die Rolle des Aufklärers – und ein bisschen auch in die eines Agenten, der ja oft mit ähnlichen unzuverlässigen Informationsschnipseln arbeitet.
Auch die Sprache macht es dem Leser nicht immer einfach: Den im schönsten mecklenburgischen Platt vorgetragenen Sätzen können vielleicht durch lautes Lesen noch die Bedeutungen abgerungen werden, die russischen Sätze dagegen lassen sich jedoch auch mithilfe dieser Methode nicht für alle Leser enträtseln. Insgesamt aber zeigt sich in diesem Debüt schon die ganz typische Johnson-Sprache. So kreiert er eine Stimmung, die so „grau und rauh“ ist, wie der Wind, der an der Ostseeküste ständig bläst. Und so sind auch die Figuren norddeutsch kühl, rauh, gradlinig und sehr konsequent in ihren Entscheidungen, die jeder von ihnen für sich trifft, auch ohne Rücksicht auf die, die ihm nah sind. Dabei kreisen diese Entscheidungen immer um die eigene Haltung zum politischen System, um das Bleiben oder Weggehen, um die Hoffnungen, im eigenen Land etwas verändern zu können oder um die Hoffnungslosigkeit in dieser Frage.
Und die Lektüre lohnt sich aus einer ganzen Reihe weiterer Gründe: da ist die ganz beeindruckende Erzählung über die Art und Weise, wie Jakob arbeitet, wie er in vielen, vielen Überstunden immer wieder versucht, für pünktliche Züge zu sorgen, obwohl er doch nur eine Mangelwirtschaft verwaltet, entstanden durch den Abbau von Schienen durch die Russen, durch fehlende Kohle, die der große Bruder nicht liefert, weil die DDR nicht mit Westdevisen zahlen kann; da ist die Beschreibung des Katz- und Mausspiels zwischen Jakob und Rohlfs, das entsteht, als plötzlich Gesine auftaucht und nach Jerichow reisen möchte; da sind die Hoffnungen der Menschen auf politische Veränderungen, die den einen oder anderen angesichts der Kämpfe in Ungarn ganz unvorsichtig werden lassen; da ist die ganz wunderbare Darstellung der vielen Unzulänglichkeiten eines Stundenten bei seinem Vortrag, die jedem heutigen Lehrer und Dozenten deutlich machen: Früher war es auch nicht besser.
Die „Mutmassungen über Jakob“ sind nun der erste Band der Werkausgabe Uwe Johnsons, der „Rostocker Ausgabe“. In dem zusätzlichen Material zum Roman ist nicht nur ein umfangreicher textkritischer Apparat zu finden, in dem die Übersetzungen des Russischen nachgeschlagen sowie die Verweise, die Johnson so zahlreich in seinen Roman eingebunden hat, nachgelesen werden können. Er enthält auch ein sehr lesenswertes Nachwort, in dem die Geschichte der Entstehung des Romans, seiner Veröffentlichung und seiner Rezeption geschildert wird und das auch erklärt, warum Johnson das „ß“ weitestgehend meidet. Abbildungen im Buch zeigen Ausschnitte aus der Bearbeitung der verschiedenen Textfassungen und das erste Gutachten Walter Maria Guggenheimers, des Lektors bei Suhrkamp, der den Roman sehr zur Veröffentlichung empfiehlt:
„auf diesen autor würde ich haushoch setzen. Ich kenne kein vergleichbares erzähl- und sprachtalent bei uns, auch arno schmidt nicht, er ist viel solider und – >haltbarer<, aber: sein erfolg ist nicht unabhängig vom erscheinungsdatum. […] ich meine damit: wir dürfen diesen mann nicht auf eis legen. wenn wir gründe gegen ihn haben, dann muss er andere chancen frei kriegen.“
Und natürlich knn, wer Johnson wiiederlesen oder aber überhaupt erst entdecken möchte, auch eine andere Ausgabe seiner „Mutmassungen“ lesen. Wer sich allerdings auf die „Jahrestage“ in der Werkausgabe freut, der muss leider noch ein paar Jahre warten. Zur Publikationsübersicht geht es hier entlang.
Uwe Johnson (2017): Mutmassungen über Jakob, Rostocker Ausgabe, Band 2, hrsg. von Astrid Köhler, Robert Gillet, Cornelia Bögel und Katja Leuchtenberger unter Mitarbeit von Johanna Steiner, Berlin, Suhrkamp Verlag
Uwe Johnson (1959/1992): Mutmassungen über Jakob, Frankfurt am Main, edition suhrkamp
Vielen Dank für die schöne und überzeugende Ermunterung, Johnson wieder einmal zu lesen – nach vielen Jahren. Ich habe schon einmal mit dem Gedanken kokettiert, mir die Rostocker Ausgabe mit und mit zuzulegen, bin aber letztlich doch reserviert. Vorerst bleibe ich wohl bei meiner alten Taschenbuchausgabe, die, wie ich gerade geschaut habe, schon über 30 Jahre zu meinem Buchbestand gehört.
Liebe Grüße
Peter
Lieber Peter,
Johnson wiederzulesen lohnt sich auf jeden Fall (sagt eine „Jahrestage“-Verehrerin). Ich jedenfalls bin noch viel beeindruckter von der lektüre gewesen als ich es zu Studienzeiten war. Jetzt, da ja auch immer mal wieder Debüts auf dem Lesezettel stehen, ist es umso erstaunlicher, was für einen Roman Johnson da verfasst hat. (Der wäre ja etwas für den Blogger-Debütpreis.) Und Johnson hat ja, 25-jährig, neben allem anderen Lobenswerten, auch schon den Kern erarbeitet für die „Jahrestage“: die Figuren, die Orte und Landschaften, das Thema und die Sprache. – Da die Rostocker-Ausgabe ja in kleinen Häppchen veröffentlich wird, kann ich mir schon vorstellen, den einen und/oder anderen Band zu erwerben, ein verrücktes Hobby kann man sich ja leisten…
Viele Grüße, Claudia
Oh, das ist noch eine ganz große literarische Lücke bei mir. Soll sich aber ändern. LG, Anna
Liebe Anna,
es ist ein bisschen herausfordernd zu Beginn der Lektüre, aber dann großartig. Finde ich wenigstens… 🙂 Mich hat das Johnson-Fieber im Studium gepackt, ein Lieblingsprofessor hat das angerichtet und es war jetzt beim Wiederlesen nicht anders. Es würde mich freuen, wenn die „Mutmassungen“ es auch in deinen Lesesessel schaffen.
Viele Grüße, Claudia
Uwe Johnson ist natürlich ein ganz ein fabelhafter Autor. Habe die „Jahrestage“ damals auch fast geschafft, fand aber nicht die Zeit den vierten Teil ganz zu lesen. Kommt noch… Schöne Grüße, Gérard
Lieber Gérard,
ja, die „Jahrestage“ haben noch ein paar mehr Seiten als Austers „4321“. Mir ist zu Beginn des vierten Bandes auch ein bisschen die Luft ausgegangen. Und ich würde siejetzt gerne noch einmal lesen – aber die Versuchung der vielen, neuen Bücher ist ja auch da. Ich schließe mich dir also an: „Kommt noch“.
Viele Grüße, Claudia
Ich schließe mich meinen „Vorrednern“ sehr gern an. Ich finde es schön, dass Du auf Johnson aufmerksam machst. Die „Mutmaßungen“ habe ich während meines Studiums gelesen, ungelesen wartet noch der dicke „Jahrestage“-Band im Regal. Vor einigen Jahren, als ich auf der Insel Poel Urlaub gemacht habe, war ich in Klütz und habe mir das Johnson-Haus angeschaut. Sehr empfehlenswert. Viele Grüße
Liebe Constanze,
irgendwann ist auch einmal die richtige Zeit gekommen für die „Jahrestage“. – Nach Klütz würde ich auch gerne einmal reisen und mir das Johnson-Haus anschauen. Überhaupt die Gegend erkunden und schauen, ob sich die Leseeindrücke von der Ostsee auch in der eigenen Betrachtung bestätigen.
Viele Grüße, Claudia
Sehr gut geschriebene Rezension!
Vielen Dank!
Liebe Claudia,
Hut ab vor dieser Besprechung! Insbesondere, wie Du die Aktualität der Mutmassungen herausarbeitest. Ich selbst bin sehr dankbar, dass ich einen engagierten Deutschlehrer – besser: Pädagogen – hatte, der uns die Mutmassungen damals richtig nahebrachte und in den passenden Kontext stellte. Ohne ihn hätte ich als 17jährige wahrscheinlich wenig verstanden.
Seither hat mich dieser Autor gefangengenommen – seine Sprache, seine Konstruktionsfähigkeit, aber eben auch als einer der politischen Köpfe. Ich bin noch am liebäugeln mit der Werkausgabe … aber Du verlockst mich geradezu…
Liebe Grüße Birgit
PS: Ich kann jeden nur zu den Jahrestagen ermuntern…
Liebe Birgit,
die „Mutmassungen“ im Deutschunterricht zu lesen: das ist wirklich klasse. Hut ab vor deinem Lehrer und seiner Unterrichtskunst! Und toll, wenn man auf solch einen Lehrer trifft. – Ich habe Johnson erst im Studium entdeckt, in einer Vorlesung über das Tagebuch in der Literatur. Da war ich schon politisch höchst interessiert und mich hat in den „Jahrestagen“ diese Kombination von Vergangenheit, die sich erzählt über die Erlebnisse der Figuren, und der Gegenwart, die sich auch spiegelt in den Artikeln der New York Times, so gepackt. Und dann noch die Sprache! – Und die Werkausgabe? Ich habe einen total verregneten Tag im Wohnwagen in den Alpen ganz gespannt und hoch konzentriert in der Sofaeckje verbracht und mich durch das ganze zusätzliche Material gelesen – und mir war das Wetter sowas von egal! Alleine das Nachwort, in dem auch vom Perfektionismus Johnsons in allen belangen berichtet wird, ist so interessant. (Aber vielleicht auch nur etwas für ganz doll Infizierte :-).)
Liebe Grüße, Claudia
Ja, die Sprache – ich meine da immer auch eine Verwandtschaft zu Max Frisch zu erkennen. Stichwort Tagebuch – auch Frisch schreibt ja über seine Begegnungen mit Johnson in Berlin, das muss ich nochmals nachlesen…