Der Titel des Romans von Michael Köhlmeier erinnert an das Märchen Hans Christian Andersens „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“. Wie im Märchen das Mädchen, so befindet sich auch das wohl sechsjährige Mädchen in Köhlmeiers Roman in einer desolaten Situation: obdachlos, ohne Eltern oder andere Familienmitglieder kämpft sie um das tagtägliche Überleben im frostigen Winter einer mitteleuropäischen Großstadt. Nahrung ist wichtig, ebenso ein warmer Platz zum Ausruhen und Schlafen, manchmal in einem beheizten Eingang, zur Not auch in einer Mülltonne. So überlebt sie, anders als das Mädchen im Märchen, auch eine kalte Winternacht.
Nach den „Herren am Strand“, nach Chaplin und Churchill, die sich ihrer Hilfe in den dunklen Momenten der Depression versichern, entführt Köhlmeier seine Leser in diesem Roman in die Welt der Kinder, die gestrandet sind in einer winterlichen Großstadt. Er erzählt die Geschichte aus der Sichtweise der Kinder, meistens aus der des sechsjährigen Mädchens, das sich keines Namens erinnern kann, und sich dann, als sie von den beiden Jungen gefragt wird, Yiza nennt. Die Erzählung bleibt ganz nah bei den Kindern und ihren Wahrnehmungen, Handlungen und Beobachtungen. In einer Sprache, die kindlich verknappt ist und in der es nur das Hier und Jetzt gibt, aber keinen Plan für die Zukunft, auch Reflexionen; wenige Erinnerungen hat Yiza, wenn sie etwas wiedererkennt, Zahnbürste und Zahnpasta zum Beispiel, oder das Fahren mit dem Auto. Die Verknappung aber trägt, sorgt für Spannung, weil die Geschichte der Kinder so ungewöhnlich ist und keineswegs vorausschaubar, weil sie sich auch mal verheddern in der Wohlstandsgesellschaft, in die sie sich aber unter keinen Einflüssen einpassen wollen.
Zu Beginn der Geschichte gibt es noch einen Onkel, der Yiza am Morgen erklärt, wie sie in Bogdans Restaurant gelangt, und was sie tun solle, um dort Essen zu bekommen. Am Abend treffen sie sich dann am vereinbarten Platz. Das klappt einige Tage lang: Yiza geht morgens zu Bogdan, isst, sitzt im Warmen, abends geht sie, trifft den Onkel. Der nimmt sie mit zu seinem Schlafplatz, spricht mit den anderen Männern über sie. Sie kann nicht viel verstehen, weil sie die Sprache nicht kennt, versteht aber so viel, dass der Mann sich um sie kümmern wolle, sodass sie wenigstens über den Winter komme. Sie versteht aber auch, dass er es nicht gerne tut. Und eines Abends wartet er nicht am verabredeten Platz. Yiza wartet, aber er kommt nicht. So macht sie sich selbst auf den Weg zum Nachtlager, verläuft sich dabei aber, findet nicht einmal mehr in den Bereich der Stadt zurück, in der Bogdan seinen Laden hat.
Yiza übernachtet in der Mülltonne. Als sie sich am nächsten Tag in der warmen Luft im Eingang eines Kaffeehauses aufwärmen möchte, ruft der Besitzer die Polizei. Und Yiza kommt in ein Kinderheim. Sie kann duschen, bekommt neue, saubere Kleidung, bekommt Essen und genießt die warme Suppe. Am Tisch sitzen andere Kinder, sie reden in einer Sprache, die Yiza nicht versteht. Weil sie zu viel und zu schnell gegessen hat, muss sie sich noch am Tisch übergeben, als sie den Mund abputzen will, schmeißt sie ihr Glas um und verletzt sich am Daumen. Die Kinder lachen und spotten über sie, Yiza kann es nicht verstehen. Aber dann versteht sie doch einen Jungen, er wird schon älter sein, vierzehn vielleicht, und er spricht ihre Sprache.
Und als der am frühen Morgen an ihrem Bett steht und sie fragt, ob sie mitgehe, da kommt sie mit. Zu dritt fliehen sie aus dem Kinderheim und begeben sich auf ihre Reise zu dem Haus am Stadtrand, das der ältere Junge, er nennt sich Schamhan, „kannte, das er zwar noch nicht gesehen hatte, über das er aber alles wusste, und dass sie auf dem Weg zu diesem Haus waren, das über den Winter leer stand und in dem es eine Tiefkühltruhe voll mit guten Sachen gab und eine automatische Heizung und einen Fernsehen und einen Computer und Internet.“ Und Arien, der andere, kleinere Junge, schenkt Yiza zu Beginn ihrer Flucht einen wunderschönen Fingerhut, den sie gleich über ihren Daumen steckt und so ihre Wunde vom Abend schützen kann. Der große Prinz also, der ein Schloss verspricht, der kleine Prinz, der Yiza etwas Wertvolles schenkt.
So ziehen die Kinder los, völlig ohne Orientierung. Als sie die Lebensmittel, die sie im Kinderheim mitgenommen haben, aufgegessen haben, stehlen sie, sie brechen in Häuser ein, schlafen im Wald oder in Heuschobern. Wenn sie von der Polizei geschnappt werden, laufen sie bei der ersten guten Gelegenheit fort, auch wenn die beiden kleineren Kinder dabei Schamhan verlieren. Und man fragt sich als Leser unwillkürlich, warum sie das tun, warum sie immer wieder die Sicherheit, den Schlafplatz, das märchenhaft anmutende Leben im Kinderheim aufgeben, warum sie sich immer wieder in die winterliche Kälte begeben.
Verhalten sie sich nicht auch ein bisschen merkwürdig? Auf dem Bahnsteig stehen sie eng zusammen, in der Bahn sind die Augen Schamhans „unruhig und [er] wendet den Kopf nach allen Seiten“. Sie schauen sich nicht an und ihr Gegenüber auch nicht, nicht in der U-Bahn und nicht auf der Polizeistation. Erst als Arian betteln muss, weil Yiza krank geworden ist und Essen braucht und Medizin, schaut er den Menschen in die Augen und bittet um „Aspirin“. Sie verstecken sich wie wilde Tiere im Wald, im Heuschober, in einem Gewächshaus, suchen immer einen sicheren Unterschlupf, an den sie zurückkehren können, an dem sie sich verkriechen können. Sie leben und verhalten sich wie ein Rudel junger Wölfe, schätzen genau ihre Umwelt ab und passen sich mit ihrem Verhalten bestmöglich an. Und suchen immer wieder den Weg in die Freiheit, der ihnen nur genommen werden kann, wenn sie eingeschlossen werden. Und genau das passiert Yiza, als sie sehr krank und mit hohem Fieber im Gewächshaus von Renate gefunden wird, die Arien „verscheucht“ und Yiza ins Haus trägt, sie die nächsten Monate einsperren wird – Renate, die Hexe in diesem Märchen.
Warum aber tun sie das, warum schlagen die Kinder jede Hilfe aus? Was ist mit ihnen passiert, dass sie die Angebote der Erwachsenen nicht annehmen, dass sie immer auf der Flucht sind? Dass sie schreien, wenn sie das Wort „Polizei“ hören und so schnell wie möglich weglaufen, wenn sie im Gewahrsam der Polizei sind? Darauf gibt die Geschichte kaum Antworten. Und das macht sie so universell, transformierbar in alle Zeiten, in denen Kinder ihre Eltern verlieren und, dafür eigentlich viel zu jung, für sich alleine sorgen müssen. Diese Kinder, Wolfskinder oder wilde Kinder genannt, die es nach dem Zweiten Weltkrieg im Gebiet des Baltikums gab, sind aus der Gesellschaft herausgefallen, haben gelernt, dass sie sich auf die Erwachsenen nicht verlassen können, haben gelernt, wie sie sich alleine durchschlagen können. Und es fällt nicht schwer, sich diese Situation hier und jetzt mit Blick auf die Flüchtlingsströme vorzustellen, die Bürokratie kennt ja schon den Begriff der „unbegleiteten Kinder“, oder auch in andere Krisensituationen überall auf der Welt zu übertragen.
So zeigt Köhlmeiers Geschichte auch viel davon, wie es ist, in solchen Ausnahmezeiten zu überleben. Schamhan nämlich, der ältere Junge, der schon zu alt ist, um noch ins Mitleidraster zu passen, der sogar schon so alt ist, dass er bald als junger Mann gilt, von dem Gefahr ausgehen kann, weiß, dass sie zu dritt unauffälliger sind, als wenn er alleine unterwegs ist; er weiß, dass sie noch besser durchkommen, wenn ein kleines, niedliches Mädchen dabei ist. Und die Gesellschaft, in der sich die drei Kinder bewegen, bekommt auch den Spiegel vorgehalten, denn nichts ist ja leichter, als die desolate Situation des niedlichen Mädchens für eigene, sehr egoistische Zwecke umzufunktionieren, der Junge, ja mindestens genauso hilfsbedürftig, wird verscheucht.
Köhlmeiers Geschichte ist viel mehr als ein Kunstmärchen. Sie ist vielmehr eine Geschichte, die ethische Fragen aufwirft zum immer wiederkehrenden Thema Flucht und seinen inneren Mechanismen und vor allem auch zur Frage des Umgangs mit diesen Flüchtenden. Und sie ist eine Geschichte, die nicht nur unsere Zeit beleuchtet die Flüchtlingskrise in Mitteleuropa, sondern in ihrer Ausgestaltung in jeder Zeit, in jeder Krise und auf jedem Kontinent spielen könnte.
Michael Köhlmeier (2016): Das Mädchen mit dem Fingerhut, München, Carl Hanser Verlag
Ich habe das Buch noch nicht gelesen, freue mich allerdings schon sehr darauf. Es liegt bereit, und ich mag Köhlmeiers Bücher im Allgemeinen sehr. Mir kam im Übrigen ebenfalls das Andersen Märchen in den Sinn, als ich etwas zur Geschichte las. Viele Grüße
Liebe Constanze,
auch wenn es kein „schönes“ Thema ist, von dem Köhlmeier hier erzählt, so ist es doch ein sehr gutes Buch, das lange, lange nachhallt und beschäftigt. – Dann werde ich Köhlmeier ja noch einmal lesen, wenn Du über Deine Leseeindrücke berichtest. Ich freu mich drauf!
Viele Grüße, Claudia
Eine sehr schöne Besprechung die Lust macht auf dieses Buch, auch wenn es kein einfaches Thema ist. Mal schauen, ob wir zusammen kommen werden 🙂
Vielen Dank, liebe Sabine für die lobenden Worte. Natürlich 😉 kann ich den Roman nur empfehlen: Ein bedenkenswertes Thema in einer ganz besonderen Verpackung.
Noch viele schöne Tage in Paris, Claudia
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