Shockie kämpft für die „Jammu und Kashmir Islamic Force“ und ist auf dem Weg nach Delhi, um dort auf einem Markt eine Bombe zu zünden. Es wird eine der sogenannten kleinen Bomben sein, eine Bombe, mit nur relativ wenigen Toten und Verletzten, über deren Zerstörung nur in den regionalen Medien berichtet werden wird. Eine Bombe aus dem Material, das er jeweils vor Ort kauft, sodass er keine Spuren hinterlässt, die die Polizei zurückverfolgen könnte. Eine kleine Bombe, die nicht mehr bewirkt als einen Nadelstich, aber immerhin einer, der so viel Öffentlichkeit schafft, dass wieder einmal auf die Zustände in Kaschmir hingewiesen werden kann, wo die indische Verwaltung in aller – ungerechten – Härte gegen die muslimische Bevölkerung vorgeht. Und Shockie denkt, während er am Bahnhof von Delhi den Schmutz und Dreck betrachtet und die vielen Menschen, „dass der Verlust einiger kaum tragisch oder gar wichtig wäre.“
Karan Mahajan setzt die Geschichten der Figuren in seinem Roman, der Opfer wie auch der Täter, dieser zynischen Haltung des Attentäters gegenüber. Denn natürlich ist der Tod eines Familienmitglieds tragisch und wichtig. Vikas und Deepa Khurana nämlich verlieren bei der von Shockie auf einem Markt gezündeten Bombe ihre beiden Söhne, Tusha und Nakul, elf und dreizehn Jahre alt. Mit ihrem moslemischen Freund Mansoor sind die beiden Jungen mit der Autorikscha zum Markt gefahren, um den Fernseher der Familie von der Reparatur abzuholen. Als die Bombe explodiert, sind sie sofort tot – und hundert andere Passanten und Marktbetreiber auch.
Mansoor, den seine Eltern normalerweise vor lauter Sorge kaum aus dem Haus gehen lassen und der sich nun zu dem aufregenden Ausflug auf den Markt von seinen beiden Freunden hat überreden lassen, überlebt den Anschlag, er hat „nur“ einen Splitter im Arm und Verletzungen an den Händen. In beiden Familien aber entfaltet diese Tragödie mit der unmittelbaren Trauer nicht nur eine sofortige Wirkung, sondern auch eine langfristige, denn das Attentat zerstört noch Jahre später das Leben der Familienmitglieder. Die kleinen Bomben, die gar nicht die unmittelbare große Aufmerksamkeit finden, sie zerstören die Betroffenen – und die Gesellschaft – langsam und stetig, wie ein langsames und lang wirksames Gift.
Und es ist eine durch und durch zerstörte Gesellschaft, die Mahajan uns hier zeigt: Die Khuranas, eine hinduistische Familie, scheitern daran, ein modernes und selbstbestimmtes Leben führen zu wollen: Vikas hat seinen Beruf als Wirtschaftsprüfer aufgegeben, weil er lieber Dokumentarfilme machen möchte, aus finanziellen Gründen aber verlassen Deepa und Vikas nicht seine Familie und Delhi, wo es schwer ist, sich als Filmemacher einen Namen zu machen. Mansoor Ahmeds Eltern leben als muslimische Außenseiter in Delhi – die meisten moslemischen Familien sind längst aus Indien weggezogen – haben es aber mit ihrem Kunststoffunternehmen zu einem wohlhabenden Leben geschafft. Aber Mansoor wird in seiner Schule als einziger Moslem gehänselt und drangsaliert, ein Trauma, das er sein ganzes Leben mit sich herumträgt. Und beim Kauf eines neuen Hauses lassen sich die Ahmeds so über den Tisch ziehen, sowohl aus Unachtsamkeit als auch aus der Sorge heraus, dass es alles andere als selbstverständlich ist, wenn Hindus ihnen ein Haus in guter Lage verkaufen, dass ihre Ersparnisse weitestgehend aufgebraucht sind.
Beide Familien versuchen durch ihre Freundschaft über die Religionsgrenzen hinweg eine ganz besondere Liberalität zu leben, doch Vorurteile, Vorbehalte und Vorwürfe schwelen unter einer dünnen und brüchigen Oberfläche. Da halten sich Mansoors Eltern mit bösen und gehässigen Beschimpfungen der Khuranas überhaupt nicht zurück, als sie auf dem Weg ins Krankenhaus, wo man die Leichen Tushas und Nakuls hingebracht hat, noch in Sorge um den eigenen Sohn sind; dass die Khuranas um ihre Söhne trauern, zählt in diesem Moment nicht.
Und der Staat? Zeigt in allen Bereichen auch kein vorbildliches Verhalten. Die Stimmung gegen die moslemische Bevölkerung ist , sicher auch durch den islamischen Terror, so angeheizt, dass es überall zu Übergriffen durch die Polizei kommt und auch Politiker scheinen dieses Vorgehen öffentlichkeitswirksam zu unterstützen. Um Ermittlungserfolge vorzuweisen, nimmt die Polizei wahllos Menschen fest und präsentiert sie den Opferfamilien als Täter. Und so können Deepa und Vikas einen der vermeintlichen Täter des Bombenanschlags auf dem Markt auch im Gefängnis aufsuchen, der dann vor ihren Augen gefoltert wird. Der Prozess zieht sich dann über Jahre, obwohl alle staatlichen Institutionen wissen, dass sie die falschen Angeklagten festhalten und vor Gericht zerren.
Es ist wahrhaftig eine zerrüttete Welt, über die Karan Mahajan in seinem Roman erzählt. In Episoden zeigt er das Zustandekommen des Anschlags und begleitet das Leben der beiden betroffenen Familien. Und erzählt von Ayub, einem moslemischen Aktivisten, der sich mit seiner Gruppe, die sich ganz klar den friedlichen Ideen Gandhis verschrieben hat, zunächst darum müht, den Angeklagten des Attentats einen fairen Prozess und menschenwürdige Haftbedingungen zu verschaffen. Dass das Private immer auch politisch ist, das erweist sich, als seine Freundin Tara, eine Hindu-Frau und Mit-Aktivistin, ihn dann ganz plötzlich verlässt, weil sie zum Masterstudium in die USA gehen will und er sich von ihr verraten und instrumentalisiert fühlt. Von nun an radikalisiert er sich mehr und mehr und schließt sich schließlich einer Terrorgruppe an, die wiederum von Shockie ausgebildet wird.
Mahajan hat ein differenziertes Figurenensemble gewählt, das vielfältige Blicke auf die verschiedenen, immer verheerenden Wirkungen des Attentats zeigt. Auch wenn er seine Figuren nie verrät, so schildert er sie doch so, dass es keine wirklich sympathische Figur gibt, Deepa und Vikas vielleicht ausgenommen, weil sie alle etwas Kleinliches, Schäbiges oder Unehrliches mit sich tragen. Denn über die politischen und gesellschaftlichen Kränkungen hinaus scheitern sie vor allem an ihrer ganz persönlichen Gier, Eitelkeit oder auch Sucht.
So unterbricht Mansoor sein IT-Studium in den USA, weil die Schmerzen in seinen Händen, die er als Folge des Bombenanschlags lange behandeln lassen musste, nach vielen Jahren unvermittelt wiederkehren. Auch in Delhi weiß kein Arzt Rat und so hat Ayub leichtes Spiel, ihn nicht nur zu ein paar Yoga-Übungen und Meditationen zu überreden, sondern ihn vor allem vom Segen des regelmäßigen Gebets in der Moschee überzeugen. Dass die Schmerzen vom ausschweifenden Onanieren, immer wieder inspiriert vom Betrachten amerikansicher Pornoseiten, stammen und nun ausgerechnet Anlass einer strengen Religiosität werden, lässt sich vielleicht gerade noch als Beispiel einer verklemmten Sexualmoral lesen, schlittert aber eben auch höchst knapp am Klischee vorbei.
Trotzdem schafft Mahajan es schon, die geradezu toxisch wirkenden Spaltungen innerhalb einer Gesellschaft, in der Gewalt in allen Formen alltäglich ist, präsent zu machen. So kann der Roman nicht nur als Analyse individueller und gesellschaftlicher Problemfelder, sondern auch als Mahnung gelesen werden, es nicht zu so einer Spaltung der Gesellschaft kommen zu lassen. Mahajan hat da wohl für Indien wenig Hoffnung, denn keine seiner Figuren schafft hier auch nur ein Stückchen Hoffnung. Immerhin kommen die Ermittlungen der Polizei doch noch zu einem im Ansatz gerechten Ergebnis, denn Shockie wird zum Ende des Romans doch noch festgehommen.
So politisch und gesellschaftlich ambitioniert Mahajans Geschichte von den kleinen Bomben sein möchte, so verzahnt und in ständigen Wechselbeziehungen die individuellen Geschichten erzählt werden, so problematisch ist jedoch die sprachliche Gestaltung. Da mag die opulente und Adjektiv lastige Sprache vielleicht auf Formen des indischen Erzählens verweisen, das kann hier kaum beurteilt werden. Die an vielen Stellen nicht flüssige, sondern abgehakt wirkende Erzählung, die vielen schiefen Bilder oder widersprüchliche Beschreibungen, das alles beeinträchtigt die literarische Qualität deutlich. Da verwundert es sehr, dass die New York Times das Buch zu den zehn besten des Jahres gekürt hat.
Karan Mahajan (2017): In Gesellschaft kleiner Bomben, aus dem Englischen von Zoë Beck, Hamburg, CulturBooks Verlag
Hallo Claudia,
das klingt nach einem thematisch wichtigen, interessanten, aber in der Hoffnungslosigkeit auch unglaublich bedrückenden Buch, und wenn du dann noch die holprige sprachliche Gestaltung erwähnst, dann weiß ich, dass ich das Buch wohl eher nicht lesen werde. Was hat dich letztendlich bei der Stange gehalten?
Vielen Dank für die Besprechung. LG, Anna
Liebe Anna,
es ist genau wie du sagst: der Roman ist thematisch/politisch wichtig, auch durch die vielen Figuren und ihre Lebensgeschichten gut und klug konstruiert, um möglichst viele Folgen und die unterschiedlichen Lebensrealitäten zu sehen. Ich habe durchgehalten, weil ich fürs Schreiben der Besprechung dann die ganze Geschichte auch wirklich gelesen haben wollte, auch, um die Probleme mit den Klischees für den ganzen Roman beurteilen zu können. Was ich immer noch schwer finde, weil hier ja eine Gesellschaft und eine Kultur gezeigt wird, die ich ja nicht kenne. Das macht auch die sprachliche Beurteilung schwierig, da wäre ich bei deutschsprachiger Literatur noch wesentlich kritischer. – Es gibt ja aber eine ganze Reihe von Besprechungen, die den Roman sehr viel positiver sehen.
Viele Grüße, Claudia