am Rande notiert, Romane

2016 – Mein Leserückblick

Angeregt von den Bloggern, die dieser Tage ihre Lektüren 2016 Revue passieren lassen und daraus Listen erstellen von Büchern, die sie nicht überzeugen konnten oder solchen, die gerade bestens in Erinnerung bleiben, habe ich auch noch einmal zurückgeblickt auf mein Lesejahr 2016.

Und bin erschrocken. Denn ich kann gerade einmal drei Bücher nennen, die sich mir besonders eingeprägt haben, an deren Lektüre ich mich gerne erinnere, weil sie nicht nur inhaltlich besonders waren, sondern mich auch sprachlich und konzeptionell überzeugen konnten, sodass es sich wirklich lohnt,sie hier noch einmal zu erwähnen. Dass eines davon eine Biografie mit zahlreichen soziologischen Aspekten ist, dass hier also schon die Brücke geschlagen ist aus der Romanwelt in die Welt der nicht fiktionalen Texte, ist dabei schon vielsagend.

Ich habe ja schon im Zusammenhang mit der Longlist des Deutschen Buchpreises darüber geschrieben, dass sich die aktuelle Literatur ziemlich wenig auseinandersetzt mit den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen, die wir allgegenwärtig betrachten können. Und auch die Frühjahrsprogramme der Verlage haben wiederum sehr wenig Titel im Angebot, die sich mit dieser Aktualität beschäftigen. Da scheinen die Sachbuchtitel im Moment doch tatsächlich die spannenderen. Wo aber bleiben die Bücher mit Figuren, mit denen wir uns auseinandersetzen können, mit Geschichten, die uns beeindrucken und die sich uns ins Gedächtnis schreiben? Wo bleibt also zum Logos der Mythos?

Meiner Lesechronologie nach – und nicht aus Gründen einer Rangfolge – möchte ich noch einmal auf diese Bücher hinweisen:

WinklerKatharina Winkler: Blauschmuck

Was Sprache vermag, auch und vor allem bei diesem Thema der Gewalt, das zeigt Katharina Winkler sehr beeindruckend. Wie eine Zeichnerin schafft sie es, mit wenigen Pinselstrichen Szenen zu schildern, die dem Leser lange und nachdrücklich im Gedächtnis verbleiben. So zum Beispiel, wenn sie davon erzählt, wie die Frauen des Dorfes ihren Blauschmuck stolz tragen und argwöhnisch die eine beobachten, die eben keine Hämatome vom prügelnden Ehemann hat. Beeindruckend ist auch die (psychische) Kraft, die Filiz aufbringt, um diese Jahre der Prügel, der Vergewaltigung, ja, der Folter zu überstehen.

BazyarShida Bazyar: Nachts ist es leise in Teheran

Shida Bazyar erzählt von der iranischen Revolution 1979 und von der Übernahme der Macht durch die religiösen Führer. Sie erzählt von dem Wiedererstarken einer Diktatur, nun eben einer religiösen, und der Flucht Behsads und Nahids nach Deutschland. Sie erzählt von der Fremdheit, die die Eltern in Deutschland erleben, die Kinder dann Jahre später bei Besuchen in Teheran. Auch in Shida Bazyars Roman ist die Art der Erzählung bemerkenswert. Wenn Behsad vom Sturz des Schahs berichtet und von den paar Tagen, an denen alle revolutionären Gruppen beisammen stehen und es noch unklar ist, welche das Heft in die Hand bekommt, dann erzählt er davon, wie sie gemeinsam in der Schule das Bild des Schahs von der Wand nehmen und darüber reden, wessen Bild denn in Zukunft hier hängen wird. Es ist diese Art des Erzählens von Handlungen und nicht von ständigen Reflexionen, die so überzeugt.

eribonDidier Eribon: Rückkehr nach Reims

Eribon setzt sich mit seiner Familiengeschichte, nämlich seiner Herkunft aus dem Arbeitermilieu, erst auseinander, als sein Vater gestorben ist und er seine Mutter wieder besucht. Offensichtlich hat ihn noch viel viel mehr als seine Homosexualität seine Herkunft geprägt, weil er doch gerade immer alles daran gesetzt hat, sie zu vergessen, sie nie anzusprechen und aufzudecken. Gerade seine Herkunft erschien ihm bei seinem Aufstieg als Intellektueller in Paris als großes Hindernis, das er besser verbirgt. Während er wieder in Kontakt mit den Familienmitgliedern kommt, erkennt er, wie sie sich politisch verändert haben, dass sie sich abgewendet haben von den Sozialisten, von denen sie nur enttäuscht ist und sich seit deren Regierungszeiten geradezu verraten fühlen. Eribon erklärt schlüssig, warum gerade die Arbeiter zum Front National übergelaufen sind. Eine Erklärung, die wohl genauso gelten kann für die (ehemaligen) Mitglieder in den Ortsvereinen der SPD im Ruhrgebiet, in denen es auch nie so ganz besonders progressiv, tolerant und offen zuging.

18 Kommentare

  1. Liebe Claudia, ich habe „Blauschmuck“ aufgrund Deiner Rezension gelesen. Das Buch ist auch für mein Lesejahr 2016 (das sich ja nicht nur auf die in Stift und Schrift vorgestellten Titel beschränkt) ein sehr wichtiges. Grüße, Ingrid

    • Darüber freue ich mich ja ganz besonders! Andere zum Lesen „anzustiften“, die dann auch noch eine ähnliche Leseerfahrung machen, das ist doch das Schönste beim Bloggen. Viele Grüße ins Bergische – und einen guten Rutsch ins neue Jahr (wenn wir uns nicht mehr lesen:-)), Claudia

      • Es ist eher unwahrscheinlich, dass wir uns dieses Jahr noch mal lesen 🙂 Deshalb wünsche auch ich Dir, und zwar hier und jetzt, einen guten Rutsch ins Jahr 2017. Ingrid

  2. Liebe Claudia, „Rückkehr nach Reims“, das war für mich das Buch des Jahres. Schön, es auch in Deiner kleinen Auswahl zu sehen. Mehr dazu in den nächsten Tagen in meinem Rückblick. Und Shida Bazyar landet auf meiner Wunschliste. Liebe Grüße, Tobias

    • Lieber Tobias,
      ja, ich erinnere mich noch gut an deinen Text zu Eribons „Rückkehr“, der ja auch meinen Leseeindruck so deutlich widerspiegelte. Mittlerweile sind ja ähnliche Analysen zum politischen Geschehen in den Feuilletons gelandet, aber bei Eribon habe ich sie tatsächlich zum ersten Mal so gelesen und deshalb wirklich etwas Neues kennengelernt. Ich habe es nur nie zu einer Besprechung geschafft. Immerhin bot sich der Leserückblick nun an, das Buch noch einmal besonders hervorzuheben. Komm gut ins neue Jahr! Viele Grüße, Claudia

  3. Alle drei Bücher möchte ich 2017 noch lesen. Aufgrund deiner Empfehlung rutschen sie jetzt etwas nach vorne. Für dich alles Gute und noch mehr des Erinnerns werte Lektüre für das Neue Jahr!

    • Dann bin ich ja gesapnnt, auf Deinem Blog noch einmal von meinen Lieblingsbüchern 2016 zu lesen und dabei noch einmal in Leseerinnerungen zu schwelgen! Ein gutes neues Jahr 2017 wünscht Claudia

  4. Pingback: Die Besten und Schönsten 2016 | SchöneSeiten

  5. „Nachts ist es leise in Teheran“ habe ich – möglicherweise sogar auf Deine Anregung hin, das weiß ich nicht mehr so genau – mit sehr großem Gewinn gelesen! Mich hat auch die (künstlerische) Form, die die Autorin der Geschichte gegeben hat, sehr überzeugt.

    • Das wäre ja richtig toll, wenn ich Deine Neugier auf den Roman geweckt hätte! Ich freue mich einfach mal, als wäre es genau so gewesen! Dir einen guten Rutsch ins neue Jahr! Viele Grüße, Claudia

  6. Du stellst drei Bücher vor, die ich selbst noch nicht gelesen habe, die mir aber immer wieder in Form von Besprechungen begegnet sind. Danke, liebe Claudia, für die Erinnerung. Es müssen besondere Bücher sein, wenn du sie als überschaubares Trio als Rückblick auf das Jahr 2016 erwähnst. Viele Grüße und ein spannendes kommendes Lesejahr

    • Tja, alles, was auf den Blogs empfohlen wird, kann man ja gar nicht lesen. Ich hadere ja gerade mit der „Vegetarierin“, zu der so viel Gutes zu lesen ist. Aber es liegen ja auch noch so viele ungelesene Bücher in den regalen, dass es gar nicht möglich ist, allen guten Tipps zu folgen. – Ich wünsche Dir auch einen guten „Rutsch“ ins neue Jahr, viele gute Bücher 2017 und viele spannende Blogbeiträge und Kommentare! Claudia

  7. Dank dir schön fürs Erinnern, liebe Claudia. Ich nehme alle drei Titel mit ins neue Jahr. Möge es ein bisschen ruhiger und friedlicher werden als 2016! Vielleicht kommen dann sogar die (Roman-)Autoren hinterher. Dir einen guten Rutsch und auf Wiederlesen in 2017!

    • Dir wünsche ich auch ein frohes neues Jahr, viele gute Bücher und vor allem viele tolle Fotos, an denen Du uns auf Deinem Blog teilhaben lässt! Viele Grüße, Claudia

  8. Liebe Claudia, ich habe deinen Rückblick sehr gerne gelesen. Dass es derzeit leider wenige Autoren in der deutschen Gegenwartsliteratur gibt, die sich den aktuell gesellschaftlichen und politischen Themen widmen, finde ich auch extrem traurig, ja fast schon bedenklich. Wie auch immer, mit „Nachts ist es wärmer in Teheran“ hast du mich an ein Buch erinnert, das ich schon vor einer ganzen Weile lesen wollte. Ich sende liebste Grüße und wünsche ein gesundes neues Jahr 2017.

    • Vielen Dank für die guten Neujahrswünsche! Und natürlich wünsche ich Dir auch alles Gute zum Neuen Jahr. Shida Bazyars Roman lohnt sich wirklich zu lesen. Sie hat sich ja auch beim Debütpreis durchgesetzt. Und wenn ich es schaffe, werde ich Bazyar auch lesen hören können, denn sie kommt im Januar nach Essen. Ich hoffe, dass ich es zur Lesung schaffe (es gibt ja immer so viele andere Termine, die sich genau dort hinmogeln, wo ich sie überhaupt nicht gebrauchen kann…). Viele Grüße, Claudia

  9. Ja, man sagt, dass sich gute Literatur mit gesellschaftlichen Problemen beschäftigen sollte. Muss das aber so sein? Ist es nicht ebenso wichtig, dass unsere Fantasie angeregt wird? Denn wie sonst sollten wir den tristen Alltag bestehen?

    • Es ist auf jeden Fall so, dass Literatur viele Facetten haben soll, ja, haben muss. Was wäre die Literatur zum Beispiel ohne die großen Liebesromane? Was wäre sie ohne das Faust-Thema, was ohne Lessings „Nathan“ (dazu habe ich mich ja in der Klassiker-Reihe bei Sätze&Schätze geäußert)? Es braucht Romane zu den Fragen der Schuld, zur Frage, wer wir Menschen sind und wie wir miteinander umgehen, es braucht die Bildungsromane, die Eheromane, die magischen Romane usw. Aber für mich braucht es eben auch die gesellschaftspolitischen, die, die von unserem Leben in einer alle Bereiche mehr und mehr durchdringen Ökonomie erzählen und die auch erzählen von den politischen Verwerfungen. Das ist – ganz ausdrücklich – mein Wunsch an Literatur, das ist mein Blick auf Literatur, meine Suche nach entsprechenden Geschichten. Und das heißt nicht, dass alle anderen Themen nicht wichtig und nicht wertvoll wären. Viele Grüße, Claudia

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.