Flucht und Entwurzelung, Lesen, Romane

Shida Bazyar: Nachts ist es leise in Teheran

Als Laleh nach so vielen Jahren endlich wieder durch die Haustür Madar Bosorgs, ihrer Oma, in Teheran geht, vergisst sie ganz zu schauen, ob die Tür immer noch so blau ist, wie in ihrer Kindheitserinnerung: Nämlich nicht nur einfach blau, sondern in diesem ganz besonderen Blau, in diesem Blau mit Sonnenschein. Aber sie vergisst vor lauter Aufregung auf die Farbe zu achten, denn erst als sie durch die Tür in Madar Bosorgs Haus geht, fühlt es sich für sie an, als sei sie wirklich im Iran angekommen. Es ist 1999 und Laleh ist zum ersten Mal seit der Flucht der Eltern vor über zehn Jahren mit ihrer Mutter Nahid und der Schwester Tara zu Besuch bei ihrer Familie.

Der Debütroman Shida Bazyars erzählt die Geschichte Behsads und Nahids, die als Kommunisten aus dem Iran des Ayatollah Khomeini fliehen müssen. Die vor einer angeblichen Urlaubsreise noch einmal durch die blaue Tür gehen, mit der Familie zusammen essen und sich nicht verabschieden können, weil niemand von der geplanten Flucht wissen darf. Sie flüchten nach Deutschland, wo sie studieren wollen, um dann, wenn das Khomeini-Regime beendet ist, zurückzukehren und daran mitzuarbeiten, die Heimat zu verändern. Bazyar erzählt in ihrem Roman eine Geschichte von politischen Träumen und Kämpfen, von Flucht, Entwurzelung und Identität. Nicht nur Behsad und Nahid müssen mit dem Ende ihrer Träume umgehen lernen, als aus dem Exil Heimat werden muss, auch die Kinder Laleh, Mo und Tara sind verunsichert.

Behsad ist 1979 siebenundzwanzig Jahre alt und einer der Lehrer, der während seines Militärdienstes zum Lehrer ausgebildet wurde, um die Alphabetisierung im Land voranzubringen. Mit seinen Freunden Sohrab und Peyman nimmt er teil an den Demonstrationen gegen das diktatorische Regime des Schahs, diskutiert mit anderen Studenten der Teheraner Universität über marxistische Ideen und darüber, wie es zu schaffen sei, endlich Gerechtigkeit im Iran zu etablieren. Doch das Machtvakuum nach dem Sturz des Schahs wird schnell gefüllt: Khomeini kehrt aus dem Exil nach Teheran zurück, der Klerus übernimmt wieder die Macht im Land, die Islamische Republik Iran wird gegründet: Die Unterdrückung der Bevölkerung wird nun nicht mehr durch die Machtkaste des Schahs betrieben, sondern findet nun statt im Namen des Islams.

Behsad geht mit seiner Frau Nahid in den Untergrund, kämpft weiter für seine politischen und wirtschaftlichen Ideale, bis eines Tages Peyman kommt und einen offiziellen Brief zeigt. Dort steht, es müsse sich in drei Tagen im Gefängnis einfinden, um seine Strafe abzusitzen – und alle wissen, was es bedeutet, als politischer Häftling in den Katakomben des Mullah-Regimes zu landen. Behsad und Nahid beschließen zu fliehen, solange ihre Namen noch nicht auf Listen auftauchen, solange sie noch einen Urlaub im Ausland vortäuschen können. Sie gelangen nach Deutschland und beginnen, nach der quälenden Zeit des Wartens auf die bürokratischen Prozesse, ganz von vorn. Ihre Träume in Deutschland können sie nicht verwirklichen.

Shida Bazyar lässt alle Familienmitglieder zu Wort kommen, im Abstand von 10 Jahren erzählen sie von ihrem Leben. Und sie findet für jedes Familienmitglied eine eigene Stimme. Behsad beginnt 1979, erzählt von seiner Familie, den Demonstrationen und Diskussionen, von seiner Verliebtheit in Nahid, der Besetzung von Häusern und den mehr und mehr versteckten Kampf. Nahid, 10 Jahre später, sieht beim Besuch deutscher Freunde die vielen Dinge, die sie so befremden an Deutschland: Das nicht sonderlich aufgeräumte Haus, die nicht blitzblank geputzte Spüle, die sie so gerne mal eben abwischen würde, der dreckige Hund, mit dem das Kind so völlig selbstverständlich spielt, das Stricken und Rauchen Ullas und ihre Einladung, doch einmal mit in die Frauengruppe zu kommen. Auch wenn die deutschen Atomkraftgegner fast klischeehaft dargestellt werden, der Vergleich mit ihrer Lebenssituation, mit den Maßnahmen und den Risiken ihres politischen Kampfes, zeigt die großen Unterschiede zwischen den Familien. Und dann die Sprache. Nahid, die die persische Lyrik so liebt, die Literatur studiert hat, muss sich nun mit dem schlecht klingenden Deutsch abmühen, lernt mit den Kindern „stupide Ös und Os“, statt das „viel melodischere, persische Alphabet aufzusagen.“

Und auch Laleh (1999) und Mo (2009) kämpfen, auf verschiedene Arten, mit Verunsicherungen und ihrer Identitätssuche. Sie sind schon mehr Deutsche, bewegen sich ganz selbstverständlich in dieser Gesellschaft, kennen die Verhaltensregeln und Umgangsformen, wie sie in Schule und Jugendgruppe üblich sind. Laleh, die eine der stärksten Stimmen im Roman verkörpert, ärgert es, wenn sie in der Schule festgelegt wird auf ihre Rolle der Iranerin, auch sie will im politischen Rollenspiel für die USA sprechen, will auch einmal Sieger sein. Als sie dann mit ihrer Mutter und der kleinen Schwester zum ersten Mal seit der Flucht nach Teheran zurückkehrt und die Verwandten besucht, da ist sie auch dort die Fremde, diejenige, die sich hier mit den Regeln und Umgangsformen nicht auskennt, die den Blickkontakt nicht beherrscht, die nicht richtig geht, die das Gefühl hat, trotz Kopftuch und Mantō in der Öffentlichkeit so aufzufallen, dass sie ihren eigenen Körper nicht mehr mag – ein längst überwunden geglaubtes Gefühl aus pubertären Zeiten. Und immer wieder fühlt sie, trotz der Verhüllung, fremde Hände über ihren Körper wandern.

Shida Bazyars Roman überzeugt nicht nur inhaltlich, sondern auch mit Blick auf die literarische Konzeption: vier, eigentlich sogar fünf, eigene Stimmen erzählen ganz unmittelbar in der jeweiligen Gegenwart von den Ereignissen, erinnern vergangene Erlebnisse und lassen den Leser so ganz nah an das eigene Fühlen und Erleben heran. Dabei wird die Gefühlslage nicht reflektiert – es würde ja auch gar nicht in dieses Konzept passen -, sondern bleibt offen und ermöglicht dem Leser ein Miterleben mit Deutungsspielräumen. So erlebt er ganz unmittelbar die innere Zerrissenheit, das Gefühl der Fremde, der Verunsicherung und des Nicht-Verstehens nach, wenn er sich auf die Figuren einlässt. Er erfährt zwar nie das große Ganze – auch der Bericht über politische Daten gehört nicht zum Erzählkonzept und lässt sich durch Nachlesen im Lexikon rasch beheben -, kann aber nacherleben, wie es sich anfühlt, wenn der Mensch zum Spielball der Mächtigen wird.

Eine große Stärke des Romans sind die vielen Alltagssituationen, die Bazyar nutzt, um in Situationen, in Bildern zu erzählen, welche individuellen und auch gesellschaftlichen Entwicklungen es gibt. Behsad zum Beispiel erzählt von den Tagen nach der Flucht des Schahs – als endlich seine Bilder von den Wänden der öffentlichen Räume verschwinden. Und beim Disput darüber, welches Bild dort in Zukunft hängen soll, können wir die Zerrissenheit des Landes erkennen, eine Zerrissenheit, die quer durch die Familien geht:

„Auf dass nie wieder ein Foto eines Einzelnen in den Klassenräumen hängt, sagt Peyman. Auf dass dort bald der Ayatollah, zurück aus dem Exil, hängt, sagt seine Mutter. Auf dass bald Marx und Engels, Che Guevara und Castro, Mao und Lenin in den Räumen hängen, sagen Sohrab und ich in den Pausen, sagen es inzwischen sogar im Lehrerzimmer, sagen es lauter, als wir es jemals durften. Und warten auf den Moment, in dem wir bestimmen werden, wer die leeren Wände füllt.“ (12)

Es sind diese kleinen, vermeintlich so privaten Geschichten, die dem Leser einen beeindruckenden Blick auf das große Ganze geben. Wenn die Freunde im Sommer 1979 den Bartwuchs Sohrabs betrachten, der durch den längeren Bart, den Bart der Gläubigen, versucht in ein unauffälliges Leben zurückzukehren, kann der Leser erkennen, dass der politische Kampf im Iran entschieden ist. Wenn Nahid die Zeit morgens im Bett ausdehnt, um sich ihre imaginierten Videos anzuschauen, von ihrer Hochzeit, vom Familienessen bei Behsads Familie, aber auch vom letzten Essen mit der Familie und auch den Film von Peyman, der im Keller sitzt und auf Khomeinis Tod wartet, dann zeigt das ihr Heimweh, ihre Sehnsucht nach einem anderen leben, auch ihre Schuldgefühle den zurückgebliebenen Freunden gegenüber. Und wenn Laleh beim Besuch in Teheran über die durchaus auch schmerzhafte Behandlung beim Friseur erzählt, wundert sich der Leser über diese Schönheitsprozedur, bei der nicht nur die Augenbrauen gezupft, sondern alle auch noch so kleinen Härchen im Gesicht entfernt werden. Solch ein Schönheitskult in einem Land, in dem Frauen ihr Äußeres nicht nur unter Kopftuch und Mantō verstecken (müssen), sondern zum Teil darüber auch noch den Tschador tragen, das große schwarze Tuch, das vom Kopf bis zu den Fußspitzen reicht? Solch ein Schönheitskult in einem Land, in dem das gesellschaftliche Leben vor allem innerhalb der eigenen Häuser stattfindet, mit der Familie, mit wenigen Freunden? Oder ist es gerade anders – lassen sich die Iraner ihr Leben nicht verbieten, sondern weichen einfach in den privaten Raum aus?

„Nachts ist es leise in Teheran“. Tagsüber lärmt die Stadt, lärmen und lachen die Menschen auf den Straßen, lärmen die überfüllten Straßenbahnen und die, trotz ausdrücklichen Verbots, laut hupenden Autos; zu Hause lärmen die vielen Verwandten, Bekannten und Freunde, die im Haus der Oma ein und aus gehen, um den Besuch aus Deutschland zu begrüßen. Aber nachts, wenn es leise ist, dann werden die Geheimnisse erzählt, und hier haben viele Menschen viele Geheimnisse, nachts, wenn es leise ist, erscheint das Weinen der Mutter um die vielen verlorenen Freude und um ihr verlorenes Leben umso lauter.

Bazyars Roman hat einen ganz aktuellen Bezug, auch wenn ihre Geschichte schon vor Jahrzehnten ihren Anfang gefunden hat. Der Roman zeigt uns Menschen, die fliehen und ein Leben in einem unbekannten Land mit einer fremden Kultur und einer ganz anderen Sprache beginnen mussten. Und dabei ist diese Geschichte auch zeitlos, kann sicherlich auf die Situation der gerade Flüchtenden übertragen werden und gilt so auch noch in dreißig Jahren.

Und als letzte Stimme kommt auch noch Tara zu Wort, der Logik nach aus dem Jahr 2019. Mit einer – vermutlich utopischen – Wendung der Geschichte.

Shida Bazyar (2016): Nachts ist es leise in Teheran, Köln, Verlag Kiepenheuer & Witsch    

Hier liest Shida Bazyar aus ihrem Roman.

7 Kommentare

  1. Danke für deinen Hinweis bei „Unterleuten“, sonst hätte ich tatsächlich diesen Beitrag verpasst. Das Buch klingt lohnenswert und wesentlich besser als „Ohrfeige“, von dem ich doch arg enttäuscht war. Kommt auf die Liste. LG, Anna

    • Liebe Anna,
      ja, man sollte nie, nie, nie etwas am Blog ändern, es gibt immer Chaos. Das scheint nun aber besitigt zu sein, denn offensichtlich bist Du ja über Deinen Readre wieder bei mir vorbeigekommen. Hat der Happy Support also tatsächlich ganze Arbeit geleistet! – Und Shida Bazyars Roman ist ein im Vergleich zur „Ohrfeige“ – und auch zu „Unterleuten“ sehr schön geschriebener und komponierter Roman. Es gibt viel zu Lernen über den Iran – und über das Fremdsein.
      Viele Grüße, Claudia

      • Ja, spätestens seitdem ich im Deutschunterricht für Flüchtlinge mitmache, merke ich, wie unangemessen eurozentriert mein Weltbild ist, und da ist Literatur doch eine wunderbare Abhilfe. Falls du also noch einen tollen Tipp zu Literatur aus/über Afghanistan hast … LG, Anna

  2. Das hört sich wirklich sehr lesenswert an. Ich glaube ich muss doch noch zur Lesung der Autorin in Köln gehen.

    • Ja, wenn Du die Gelegenheit hast, dann mach das unbedingt. Es ist auf jeden Fall ein ganz tolles Buch. Ich glaube, der Lesetermin ist Dienstag oder Mittwoch? Da bin ich ja abends immer in der Schule und kann ÜBERHAUPT nicht am kulturellen Leben teilnehmen ;).
      Viele Grüße, Claudia

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