Lesen, Romane

Delphine de Vigan: Nach einer wahren Geschichte

Delphine de Vigan lässt in ihrem Roman „Nach einer wahren Geschichte“ die Ich-Erzählerin Delphine erzählen, was ihr Ungeheuerliches nach der Veröffentlichung ihres autobiografisch grundierten Buches über den Suizid ihrer Mutter passiert ist. Und spielt so mit dem Leser auf gleich mehreren Ebenen Katz-und-Maus rund um die Frage, was denn Literatur sei, wie sich Literatur gestalten lasse und ob in unserer unübersichtlichen Zeit nicht eigentlich die Literatur, also das Ausgedachte und Erfundene, hinter der ungleich höher einzuschätzenden Bedeutung des autobiografischen, also des wahren Schreibens zurücktreten müsse.

Damit umkreist auch Delphine de Vigans Schreiben einen Aspekt der Literatur, mit dem sich gerade mehrere Autoren auseinandersetzen, nämlich dem Verhältnis von eher autobiografischer und eher fiktionaler Literatur. Da sind – auf der einen Seite – die Schriftsteller zu nennen, die Bücher schreiben, die sich vermeintlich aus der Biografie der Schriftsteller speisen und ihren Texten somit eine ganz besondere Authentizität verleihen, z.B. Knausgard und Espedal, Melle und Bakker. Zu dieser Kategorie von Texten gehört sicherlich auch de Vigans Buch „Das Lächeln meiner Mutter“. Hier thematisiert sie den unerwarteten Tod ihrer Mutter, die sie in ihrer Wohnung gefunden hat, da lebte sie schon ein paar Tage nicht mehr. Diesem einschneidenden Erlebnis spürt de Vigan nach und sie setzt sich auch auseinander mit der bipolaren Erkrankung der Mutter, die vielleicht, dafür sprechen Indizien, dafür gibt es aber keinen ganz genauen Beleg, mit dem sexuellen Missbrauch des Großvaters de Vigans zusammenhängt. Das scheint alles biografisch, authentisch, also echt und wahr.

Und es gibt – auf der anderen Seite – die Bücher, die das Etikett „Roman“ deutlich sichtbar tragen, die aber jeweils einen Erzähler präsentieren, der so nah ist an der Biografie seines Autors, dass, neben den verhandelten Inhalten, ein großes Spiel entsteht zwischen dem Autor und seinem Leser um die Frage nach Autobiografie und Fiktionalität und den vielen Tönen dazwischen. Dieses Spiel spielt Navid Kermani in seinem Roman „Sozusagen Paris“ mit großem Spaß, dieses Spiel spielt auch Delphine de Vigan mit mindestens ebenso viel Freude an dieser Geschichte, die neben dem Nachdenken über das Schreiben im Allgemeinen und das fiktionale oder autobiografische Schreiben im Besonderen auch einen ganz besonderen Spannungsbogen aufweist.

Die Ich-Erzählerin Delphine hat ein sehr erfolgreiches Buch verfasst, in dem sie sich mit der Erkrankung und dem Suizid der Mutter auseinandersetzte. Dabei hat sie natürlich auch Familiengeheimnisse ausgegraben, die einige Familienmitglieder lieber hätten ruhen lassen. Die Roman-Delphine ist nach ihren Lesereisen und der Buchvorstellung bei der Pariser Buchmesse ziemlich erschöpft, freut sich aber darauf, nun mit den Arbeiten für ihr neues Buch beginnen zu können. In dieser Zeit beginnt auch das letzte Schuljahr der Kinder, sie schließen die Schule ab und ziehen zu Hause aus. Der Freund, ein viel beschäftigter Fernsehkritiker, ist oft unterwegs.

In dieser Phase des Umbruchs und des Neuanfangs, aber auch der der Unsicherheiten, in dieser Phase der Ermüdung und des Zweifelns, ob ein weiterer Bucherfolg gelingen könne, lernt sie auf einer Party L. kennen. L. verkörpert alles, was Delphine momentan an sich selbst vermisst: L. ist perfekt gekleidet, perfekt geschminkt, kein Fältchen verunstaltet ihr Gesicht. Sie vermittelt solch eine Zugewandtheit, dass Delphine ihr schon kurz nach ihrem Kennenlernen eine belastende Situation von der Buchmesse erzählt und höchst angetan ist, als L. sich als ganz ruhige, ganz zuverlässige Zuhörerin erweist, die genau die richtigen Worte findet, um Delphine Trost zuzusprechen:

„Ich kann mir vorstellen, dass diese Zeit jetzt für Sie nicht einfach ist. Die Kommentare, die Reaktionen, plötzlich im Rampenlicht zu stehen. Ich kann mir vorstellen, dass immer die Gefahr eines Zusammenbruchs besteht.“

Ich versuchte abzuwiegeln, man dürfe auch nicht übertreiben.

Sie redete weiter.

„Trotzdem dürften Sie sich manchmal sehr allein fühlen, als wären sie splitternackt mitten auf einer Straße, im Scheinwerferlicht eines Autos gefangen.“

Genauso fühlt sich Delphine, mit genau diesen Worten hat sie ihre Gefühlslage schon einmal dargestellt, sie weiß nur nicht mehr, ob sie es ihrer Lektorin so beschrieben hat oder einem Journalisten. L. scheint also ganz unglaublich emphatisch zu sein. Sie umschleicht Delphine, erschleicht sich mehr und mehr ihr Vertrauen, ist schließlich die eine, die wichtige Freundin, die immer da ist, wenn Delphine verzagt ist und eine Zuhörerin und Trösterin braucht. Schließlich zieht L. bei Delphine ein, übernimmt, als Delphine auch diese Arbeiten zu viel werden, ihre Korrespondenz, kleidet sich mehr und mehr wie Delphine, nimmt sogar als Delphine an Einladungen teil.

Parallel zu diesem Vereinnahmungsprozess entgleitet Delphine immer mehr die Kontrolle über ihr Schreiben. Ein neues Buch kann sie nicht in Angriff nehmen, die Materialsuche erweist sich als vertrackt, sie sitzt nur vor dem weißen Blatt auf dem Monitor und bekommt keinen Satz zustande, schließlich kann sie kaum länger als 10 Minuten vor dem Rechner sitzen, will sie keine Panikattacke bekommen. Dass sie nichts mehr „zu Papier bringt“, sich das Schreiben nicht mehr zutraut, liegt auch daran, dass L. ihr jede Idee, die sie für ein neues Schreibprojekt entwickelt, madig macht. Der Streit zwischen ihnen entzündet sich genau an der Frage, ob Delphines neues Buch wieder ein autobiografisches sein soll oder ein fiktives.

L. Position ist eindeutig: Sie votiert dafür, dass Delphine dem einmal eingeschlagenen Weg folgt und weiterhin autobiografisch schreibt. Dass sie eine Befürworterin des Autobiografischen ist, liegt auch an ihrem eigenen Beruf als Biografin bekannter Persönlichkeiten. Ihr Name erscheint jedoch nicht auf dem Buchcover, denn sie ist „nur“ die Ghostwriterin, die aber immer zuverlässig für den Bucherfolg garantiert. L. fordert also Delphine auf, wiederum ein persönliches Buch zu schreiben, ein Buch, das habe sie doch in einem Interview erzählt, das als „Hohlform“ schon in dem Mutter-Buch verborgen gewesen sei.

Delphine dagegen will sich nicht noch einmal mit den Problemen auseinandersetzen, die ein autobiografischer Text mit sich bringt. Sie will zurück zur Fiktion, „eine Geschichte erzählen, Figuren erfinden“, nicht der Wirklichkeit zur Rechenschaft verpflichtet sein. Und auch ihr letzter Roman sei doch nicht die Wahrheit gewesen, denn die Wahrheit, die gebe es doch gar nicht. „Mein letzter Roman war nur ein ungeschickter und unvollkommener Versuch, mich etwas Ungreifbarem zu nähern. (…) Sobald man Dinge auslässt, etwas ausdehnt oder verdichtet, Lücken füllt, ist man im Reich der Fiktion.“ Und: „Alles Schreiben über sich selbst ist Roman.“

Es sind diese Passagen der literarischen Auseinandersetzung, die die starken Passagen des Romans sind, diese Kontroverse über die Frage, welchen Stellenwert, welche Bedeutung das Autobiografische hat, welche Erwartungen auch die Leser an Literatur haben, diese Debatte auch über die Frage, was durch den Akt des Schreibens selbst passiert, durch die notwendige Gestaltung der Erzählung mit der Hilfe der Sprache.

Und gleichzeitig setzt sich diese Auseinandersetzung zwischen den Polen der Literatur auch in der Handlung fort. Die Erzählerin Delphine schreibt aus der Rückschau, sie macht immer wieder deutlich, dass sie versucht, Gespräche zu rekonstruieren, zeitliche Abläufe „richtig“ zu erzählen. Indem sie die – wahre?- Geschichte nach-erzählt, lässt sie Dinge aus, dehnt aus, verdichtet, füllt Lücken: schreibt also Fiktion. Und gleichzeitig legt sie auch immer wieder Fährten aus, die den Leser daran zweifeln lassen, ob es L. tatsächlich gibt, ob L. nicht überhaupt ein Hirngespinst der etwas labilen Erzählerin ist, eine Figur, die sich aus ihrer inneren Auseinandersetzung um das kommende Romanthema entwickelt hat, und die mehr und mehr ein Eigenleben zu führen beginnt. Dieser Handlungsstrang entwickelt sich mehr und mehr zu einem Thriller, wie wir ihn von Stephen King kennen. Nicht umsonst ist ein Zitat aus Stephen Kings Roman „Sie“ dem Text vorangestellt.

Nun mag dieser spannungsreich-ausweglose Verlauf, der im letzten Drittel des Romans richtig Fahrt aufnimmt, nicht jedem Leser gefallen, die Auflösung erscheint auch zu gewollt. Das Thema des Romans jedenfalls ist auf vielen literarischen Ebenen in einem sehr komplexen Geflecht verarbeitet und leuchtet so auf verschiedenen Ebenen die Frage sehr deutlich aus, was Fiktion sei, auch mit Blick auf Melle und Bakker, Espedal und Knausgrad. Und schließlich steht die Roman-Delphine dann tatsächlich und wortwörtlich „splitternackt mitten auf einer Straße, im Scheinwerferlicht eines Autos gefangen.“

Delphine de Vigan (2016): Nach einer wahren Geschichte, übersetzt von Doris Heinemann, Köln, DuMont Buchverlag

11 Kommentare

      • Liebe Marina,
        ich erinnere mich, bei Dir schon über den Roman gelesen zu haben. Deshalb hier noch einmal der Link zu Deinem Beitrag: https://literaturleuchtet.wordpress.com/?s=Delphine+de+Vigan.
        Du bist ja insgesamt rundum zufrieden gewesen mit der Romanlektüre. Ich habe den Roman auch schon vor geraumer Zeit gelesen und nun erst den Beitrag verfasst. Aus der Rückschau finde ich die Konstruktion auch überzeugend. Beim Lesen dagegen hat mich die Geschichte am Ende nicht so überzeugt. Da scheint der Roman nach einiger Zeit der Reifephase – wie ein guter Wein – besser zu werden :-).
        Viele Grüße, Claudia

    • Liebe Birgit,
      die literarische Debatte hat auf jeden Fall ihren Reiz. Es scheint ja tatsächlich eine Frage zu sein, die auch Schriftsteller sehr umtreibt. Und zufällig sind mir in den letzten Wochen ja ganz viele dieser Bücher in die Hände gefallen, sodass sich hier schon fast eine kleine Reihe ergibt.
      Die Frage, was denn „gute“ Literatur sei, ob sie nah an der realen Welt sein müsse, oder hier doch „nur“ die Autoren ihre Geschichte, manchmal auch ihren Körper, in den literarischen Ring werfen, um Aufmerksamkeit zu bekommen und ob denn fiktive Geschichten tatsächlich nicht mehr funktionieren (was ist dann mit Kafka?), das ist schon eine interessante Auseinandersetzung (leider kommt Kafka gar nicht vor; er iste mir immer eingefallen bei den Disputen zwischen Delphine und L.). Dass sich diese Debatte dann auf der Handlungsebene spiegelt, ist für den Roman ja nur konsequent, hat mich aber nicht so ganz überzeugt. Ich bin aber eben auch kein Stephen King Leser. Dann bin ich mal gespannt, ob die „wahre Geschichte“ sich zu Dir verirrt und ob Du sie magst.
      Viele Grüße, Claudia

      • Liebe Claudia, ja sie ist reizvoll, aber auch ein wenig akademisch … das fiel mir besonders am Buch von Thomas Melle auf, wo auch eine Menge Leute versuchten, dieses in eine begriffliche Schublade zu stecken. Ist es eine literarisch „aufgemotzte“, also literarisierte Autobiographie? Wenn es kein Roman ist, darf es dann überhaupt für den Buchpreis nominiert sein, etc.? Letzten Endes ist ja jedes Schreiben, selbst die irrsten Phantasien, ein ganz klein wenig autobiographisch – weil von einem Menschen ersonnen mit seinen eigenen Erfahrungen, Gedanken etc. Mich interessiert am Ende eigentlich vor allem: Mag ich es lesen oder nicht? Am Beispiel Melle: Mich hat der Stil, die Sprache mitgenommen. Am Beispiel Knausgard: Ich halte keine 20 Seiten aus, ohne einzuschlafen. Ich denke, die Frage nach „guter Literatur“ hängt weniger vom Inhalt ab – autobiographisch oder nicht – sondern von der Art der Verarbeitung der Themen…

  1. Ich habe schon einige Zeit das ungekürzte Hörbuch des Buchs. Martina Gedeck liest in 579 Minuten das Buch vor.
    Nachdem ich deine Besprechung gelesen habe, werde ich es wohl in naher Zukunft hören.
    Ein schönes Weihnachtsfest wünscht dir Susanne

    • Liebe Susanne,
      Martina Gedeck als Leserin – das hört sich ja gut an. Aber fast 10 Stunden ein Hörbuch hören, das könnte ich, glaube ich, nicht durchhalten. Ich habe es auch mal mit den Hörbüchern probiert, denn das hätte den Vorteil, dass ich beim Hören stricken könnte. Aber bei mir klappt das nicht. Ich kann nur ganz kurz konzentiriert zuhören, dann macht es mich völlig nervös, der Rhythmus des Vorlesenden folgen zu müssen. Ich bin wohl wirklich ein Leser. Aber es würde mich natürlich schon ganz interessieren, wie Dir der Roman gefallen hat.
      Auch Dir – wenn wir uns nicht mehr lesen – ein schönes und erholsames Weihnachtsfest, Claudia

      • Liebe Claudia,
        wegen dieses Vorteils höre ich sogerne Hörbücher, ich zeichne dabei. So erhalte ich eine gewisse Lockerheit in den Linien. Wenn ich mich konzentrieren muss, höre ich automatisch nicht hin. Bei den neuen Hörbuchplayern können Lesezeichen und Timer eingestellt werden, so dass ich komfortabel wieder an die Stellen gelangen kann, ab denen meine Gedanken abschweiften.
        Auch verwende ich das Hörbuch zum einschlafen, bei manchen Vorleserinnen /-leser geht es besser als bei anderen.
        Liebe Grüße und auch dir ein schönes Weihnachtsfest von Susanne

      • Ich habe mich ja gar nicht getraut zu fragen, ob Du beim Zeichnen Hörbücher hörst, weil ich dachte, dass Du dabei die ganze Zeit ganz konzentriert auf Dein Tun bist. Aber wenn das ja beides – meistens – gut zusammen geht, ist das ja toll.
        Liebe Grüße nach Berlin, Claudia

  2. Das möchte ich auch unbedingt noch lesen. Die Rezension hat jetzt noch mal mehr Lust darauf gemacht 🙂

    • Vielen Dank! Leselust zu bereiten, ist ja immer schön. Und dann lese ich auf Deinem Blog, ob ich die Neugier auf das Buch zu Recht entfacht habe.
      Viele Grüße, Claudia

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