Lesen, Romane

Gerbrand Bakker: Jasper und sein Knecht

Nach Melles „Welt im Rücken“ nun also Gerbrand Bakkers „Jasper und sein Knecht“. Ein zufälliges Hintereinanderlesen, eine Lesereihenfolge, die entstanden ist, weil Bakkers neues Buch nach seinen Romanen „Oben ist es still“ und „Der Umweg“ auf dem Lesestapel ganz oben lag. Und so ergab es sich, dass nach Melles autobiografischem Schreiben über seine manische Depression wieder ein autobiografisches Buch in den Fokus rückt, ein Tagebuch gar, das somit auch formal ganz nah an der Lebenswelt des Autors ist. Auch Bakker also spielt mit den Formen der autobiografischen Literatur, auch für ihn gelten die Anmerkungen Hamens aus dessen Artikel „Gefährliche Leibschaften“ über die im Anschluss an die Melle-Besprechung ausführlich diskutiert wurde.

Von Dezember 2014 bis Dezember 2015 zeichnet Bakker sein Leben auf, beginnt mit der Erinnerung an den Geburtstag des Großvaters, erzählt, wie er lebt in seinem Haus in der Eifel, erzählt von den Nachbarn dort, dem Hund Jasper, seinem Garten und seinen Aufenthalten in Amsterdam. Bakker blickt auf seine Vergangenheit, seine Familie und das Trauma des ertrunkenen kleinen Bruders, auf das Eislaufen, seine beruflichen Wege – von seinen Studien, seiner Heimarbeit als Untertitler ausländischer Spielfilme bis hin zu seiner Umschulung zum Gärtner. Er erforscht seine Erkrankung, die Depression, die er, lange nicht diagnostiziert, immer wieder durchlitt. Und erzählt vom niederländischen Literaturbetrieb, von Literaturpreisen und von seinem Schreiben. So entsteht ein vielschichtiger Blick auf das Leben des Autors.

Bakker hat dieses Haus in der Eifel, einer Gegend, in der offensichtlich einige Niederländer Häuser erworben haben, schon 2012 entdeckt und es sich mehrfach von außen angeschaut. Auch andere Häuser hat er sich von einer Maklerin zeigen lassen. Aber: „Jedes Mal kehrte ich wieder zu diesem Haus zurück. Es gab mir ein Gefühl von Schutz und Sicherheit.“ Zum letzten Besuchstermin kommen auch Bakkers Brüder mit und sparen nicht, wie sollte es auch anders sein, mit Kritik am Haus: die Heizungsrohre seien zu dünn, die Dachrinnen baufällig, das Haus insgesamt doch viel zu dunkel und außerdem feucht und was wolle er, da er doch keinen Führerschein habe, in diesem von der Welt abgelegenen Ort. „Deshalb beschloss ich,“ so Bakker, „es zu kaufen. Das Inventar war im Preis inbegriffen.“

Mit seinen Brüdern verbringt Bakker im September 2013 ein Mountainbikewochenende. Ein paar Tage vorher hat er Kontakt aufgenommen mit Tierschützern, die für einen Hund von der griechischen Insel Thasos ein neues Zuhause suchen. Immer wieder hat er sich durch die Hundebilder im Internet geklickt, immer wieder kehrt er zu den Bildern eines Hundes namens Jasper zurück, dem Hund von Thasos. Er erzählt den Brüdern seinen Plan, aber die haben schon wieder gute Ratschläge parat: „Wahrscheinlich haben meine Brüder mir abgeraten, vor allem mit dem Argument: Du brauchst erst einen Führerschein, bevor du dir einen Hund zulegst.“ Als er dann während des gemeinsamen Apfelkuchenessens plötzlich aufsteht, nach draußen geht, um mit der Hundepflegefamilie zu telefonieren und einen Besuchstermin auszumachen, da kommentiert dies der jüngste Bruder: „Na, das wird ja wieder was werden.“

Es ist ein ironischer Ton, den Bakker immer wieder dann nutzt, wenn er von seinem Alltag berichtet, von den Nachbarn, die manchmal auch nur Teilzeitnachbarn sind, weil sie hauptsächlich in der Stadt wohnen und nur gelegentlich vorbeikommen, von seinen Entscheidungen und auch den Tücken und Fallen, die sich immer wieder zeigen, wenn man ein Haus umbaut, noch dazu eines, das schon einige Jahrhunderte alt ist. In diesem Ton plaudert er von den Wirren des Konsumierens, wenn es um Düfte geht und Unterhosen, wenn er von einem Mittagessen mit Königin Beatrix berichtet, die Geschichte seiner Zähne erzählt und vom Warten auf das Verkünden eines Literaturpreises, den er eben doch nicht bekommt. In diesem Ton erzählt er von den Begegnungen in den literarischen Kreisen der Niederlande und auch von dem einen oder anderen Erlebnis, das er in seinem Zusammenleben mit Jasper hat, der nicht nur Windhundgene und Jagdinteressen hat, sondern als Streuner in Griechenland offensichtlich auch gelernt hat, seinen Interessen nachzugehen.

Die Beziehung zu Jasper gestaltet sich überhaupt schwierig. Der bückst nämlich immer wieder aus, zeigt immer wieder auch andere Auffälligkeiten, die vielleicht eine Krankheit andeuten, ungenaue Symptome sind es allemal. Immer wieder schreibt Bakker auch darüber, dass der Hund sich wohl nicht an ihn binden möchte. Fast wirkt der Hund wie ein Spiegelbild Bakkers, fast könnte er eine ganz und gar literarische Figur sein, eine Personifikation der Depression, wie Marion Poschmann sie nutzt, wie auch Köhlmeier sie auftreten lässt. So wie Jasper sich vermeintlich nur schwer an ihn bindet, so hat auch Bakker Schwierigkeiten mit den Beziehungen zu anderen Menschen, fühlt sich immer distanziert zu ihnen. Er beschreibt „dass ich so entsetzlich wenig, vielleicht beängstigend wenig Mitgefühl mit anderen Menschen empfinde, oder besser gesagt: dass es mir so schwerfällt, zu anderen Menschen eine wirkliche Verbindung herzustellen, dass es da immer eine Barriere zu geben scheint; immer hinke ich einen Schritt hinterher, sehe erst später klar.“

Im Zusammenhang mit der Depression ändert sich – natürlich – der Ton. Hier wird Bakker nachdenklich, lotet aus, erforscht die zahlreichen Anzeichen, die es schon in der Kindheit gab, als Sorgenkind bezeichnete seine Mutter ihn immer. Er ordnet Abschnitte seines Lebens depressiven Phasen zu, dann, wenn er die Welt nur noch durch eine Art Schleier wahrnimmt, wenn er sich ständig bedroht fühlt, sich vom immerwährenden Kämpfen erschöpft fühlt, wenn er sich selbst nicht ganz „da“ fühlt, sich einsam fühlt, auch wenn er mit anderen Menschen Kontakt hat, die wiederum von seinem inneren Chaos nichts mitbekommen. Er zeigt auch, wie ihm das Eislaufen, das Training, durch das der Körper ordentlich ermüdet wurde, die notwendige Tagesstruktur und das Ziel, sich zu verbessern, einen Halt gegeben hat. Auch während des Schreibens dieses Tagebuchs kommen solche Phasen, dann ist Bakker froh, wenn er eine einfache Aufgabe hat, die ihn über den Winter bringt. So eine Aufgabe ist beispielsweise das Ausdrucken seiner wöchentlichen Kolumnen, die nun als Buch herausgegeben werden sollen, das Sortieren der Texte, das Lesen, das Aussortieren:

„Das sagt etwas über meinen gegenwärtigen Zustand, was mir normalerweise erst später klar wird, diesmal aber gleich: Offensichtlich bin ich wieder in einer Durchschleppphase. (…) Wenn ich darüber nachdenke, kommt mir mein ganzes Leben wie eine Abfolge Durchschleppphasen vor. Vom einen zum anderen, vom Hundertsten ins Tausendste; man erreicht das Ufer mit Müh und Not, über Eisschollen, nicht über dickes schwarzes Eis. Oder ist das vielleicht der Normalfall? Gilt das für jeden?“

Spätestens beim Nachdenken über die Depression kommt es also zu der persönlichen Nabelschau, schreibt auch Bakker, wie Melle, „durch den Körper“, scheint auch Bakker sein Leben 1:1 in einen literarischen Text umzusetzen, der auf den Leser umso eindringlicher und interessanter wirkt, als dass er ja als real verbürgt ist. Bakker setzt dieser Vermutung eine Poetologie entgegen, die sich immer wieder genau mit dem Begriffspaar der Wahrhaftigkeit und Authentizität beschäftigt. Damit hat er durchaus Erfahrung, denn neben den Romanen – und seit mehreren Jahren hat er keinen mehr geschrieben, veröffentlicht Bakker Texte auf seinem Blog und Kolumnen in Zeitungen. Dabei siedelt er die Geschichten, die er dabei erzählt, durchaus in einer Umgebung an, die ganz real zu sein scheinen: Die Familie trifft sich, Verwandte kommen immer wieder vor, Bekannte, Freunde und die Schriftstellerkollegen und andere Buchmenschen – und erzählt manchmal in recht deutlichem Ton von ihnen und ihren Verfehlungen.

Von der Hochzeit seiner Eltern erzählt er und lässt sie im Domeinenkantoor stattfinden, weil er es so erinnert und weil außerdem Domeinenkantoor „viel schöner klingt“ als Rathaus.  Das ärgert die Mutter, auch, dass er schreibt, dass sie beim Kochen Kartoffeln, Gemüse und Roastbeef gleichzeitig aufgesetzt habe, denn das stimme ja nicht. Und Bakker entgegnet:

„Ja nun, ich kann es jetzt auch nicht mehr ändern. (…) Und ist das so schlimm? Wenn ich etwas aufschreibe, dann kommt es nicht so auf die Wahrheit an. Worauf es ankommt, ist eine schöne Geschichte.“ Und weiter: „Und wie schon erwähnt ist fast kein Text in meinem Blog, keine Kolumne in Trouw wahrheitsgemäß. Immer muss ich aufbauschen, auslassen verdrehen. Im Grunde habe ich das Lügen oder Phantasieren zu meinem Beruf gemacht, es ist jetzt erlaubt, besser noch: Im Gegensatz zu früher ist es nicht mehr sinnlos, ich verdiene mein Geld damit.“

Beim Schreiben also verändert Bakker die tatsächlichen Dinge – weil er sich nicht richtig erinnert, weil sie anders zusammengesetzt zu einer „besseren Geschichte“ werden, weil er schon überhaupt nicht „verrückt ist, öffentlich alles preiszugeben.“ An Voskuils mehrbändigem Roman „Das Büro“, ein Werk, das ihn sehr geprägt hat, macht er noch einmal klar: „Das Büro ist ein Roman, er ist ein Abbild der Wirklichkeit, nicht die Wirklichkeit selbst.“

Bakker hat auch bei diesem Projekt vorgeblich autobiografischen Schreibens jederzeit die Fäden in der Hand. Auch er setzt sein Leben eben nicht 1:1 in Literatur um, auch er wählt bedächtig aus, sortiert neu, übersetzt seine Geschichte in eine Sprache, die wiederum vom Leser in Bilder übersetzt wird – und schafft somit Tagebucheinträge, die authentisch wirken – aber nicht wahr sein müssen.

Und Jutta Reichelt schreibt dazu: Es gehört zur Magie des Lesens, dass die Fiktion uns zur Realität wird und uns umgekehrt das Realistische, das Wahre, als erfunden, als unglaubwürdig vorkommen kann und es gehört daher zum Kern schriftstellerischer Praxis bei Leser.innen genau diesen Eindruck hervorzurufen: dass es sich genau so zugetragen hat, wie es da geschrieben steht. Seit Jahrhunderten spielen Autor.innen mit ihren Leser.innen Katz und Maus, ersinnen immer neue Listen, oder Möglichkeiten (postmoderner) Verwirrung.“

Bakker hat dieses Katz- und Mausspiel in seinem Tagebuch höchst unterhaltsam, höchst interessant, höchst anregend, höchst nachdenkenswert umgesetzt.

Gerbrand Bakker (2016): Jasper und sein Knecht, Berlin, Suhrkamp-Verlag

10 Kommentare

  1. Liebe Claudia, wie schön, wieder von dir zu lesen. Ich hatte dich schon vermisst. Weniger schön ist, dass du das Buch eines Autors, von dem ich definitiv nichts mehr lesen wollte, so interessant und Interesse weckend vorstellst. 🙂 LG, Anna

    • Liebe Anna,
      mich hat ein bisschen die Arbeit überrollt in den letzten Wochen. Aber platt machen lassen gilt ja nicht. Nun wird es hoffentlich wieder ein bisschen munterer hier weitergehen. Warum wolltest Du denn nichts mehr von Bakker lesen? Den „Umweg“ hast Du doch auch gelesen und besprochen – meine ich mich zu erinnern. Und wer diese literarische Tagebuchform mag (mag ich ja schon seit Max Frisch), der hat bestimmt auch Spaß an Bakkers Buch – auch wenn es natürlich nicht nur ein Spaß ist, über die Depression und ihre Wirkungen zu lesen.
      Viele Grüße, Claudia

      • Mich macht natürlich auch neugierig, warum Anna Bakker nicht mehr lesen will …ich habe noch nicht so sehr viel von ihm gelesen, aber mir gefällt dieses reduzierte, bedächtige in der Sprache. Es erklärt sich vielleicht auch mit der Erkrankung. Jedenfalls behalte ich nach deiner eingehenden Rezension das Buch nochmals im Auge. Dass es autobiographisch geprägt ist, war mir gar nicht bewußt – bis ich gestern in einer Buchhandlung auf einen „Männertisch“ gestoßen bin (Autoren, die von ihrem Leben erzählen). Da lag der Bakker neben Melle …und noch viele mehr. Warum das seit Knausgard so ein literarischer Trend ist, diese männlichen Lebenserzählungen, das bringt mich momentan ins Grübeln.
        Liebe Grüße Birgit

      • Woher die ruhige reduzierte Sprache kommt, das erklärt Bakker mit seiner mehrjährigen Tätigkeit als Untertitler von ausländischen Filmen. Da habe er gelernt, auf den Punkt kurz und knapp zu formulieren. Das fand ich eine interessante Erklärung, denn ich habe auch gedacht, die Erzähltstimme in seinem Romanen stamme schon von der depressiven Sicht auf die Dinge. – „Männertische“ sind ja schon eine merkwürdige Sache, „Frauentische“ würde ich aber auch so sehen; und „Frauenregale“, in denen dann nur dieses oberflächliche Zeug in Pastellefarben und Schreibschriften steht, sind mir ein ziemlich Graus. Ob diese Art der Literatur von Männern ein Trend ist, weiß ich gar nicht. Max Frisch hat das ja auch schon gemacht – ich mochte diese Art der Weltbetrachtung irgendwann aber auch nicht mehr. Ich jedenfalls konnte Melle und Bakker gut hintereinander lesen, weil einfach andere Themen und bei Bakker auch verschiedene Themen verhandelt werden.
        Viele Grüße, Claudia

  2. Hallo Claudia,
    ja, ich buddel mich auch langsam aus diversen Oberstufenstapeln hervor und du hast da sicherlich noch einige zusätzliche Verpflichtungen um die Ohren. Jedenfalls, schön, dass du wieder davon redest, dass es bald wieder munterer bei dir zugehen soll. Ich habe drei Bücher von Bakker gelesen, fand das erste phänomenal gut, konnte jedoch den anderen nichts mehr abgewinnen. Tagebücher mag ich auch gern. Aber wenn ich so um mich schaue, hier liegt und steht noch genug. Sonst müssen wir hier bald anbauen. LG, Anna

    • Ja, da gibt es im Moment viele, viele Baustellen und Unterrichten findet dann meist „nebenbei“ statt. Wenn dann aber ein Klausurstapel kommt, dann bricht halt alles zusammen und so war es in den vergangenen Wochen. Wenn ich dann mal eine Stunde Zeit habe, kann ich auch nicht auf Kommando eine vernünftige Besprechung schreiben – und so ging Woche um Woche ins Land. In der Zwischenzeit habe ich dann, um meinen Frust zu kompensieren, zumindest einmal jede Menge Bücher erworben (hihihi). Die liegen nun auch hier herum. Insofern verstehe ich gut, dass Du Dich auch erst einmal auf die Bücher stürzen möchtest, die schon den Weg zu Dir gefunden haben. Vielleicht drängt sich ja irgendwann noch einmal „Jasper“ auf. Ich habe die Lektüre schon sehr genossen, das Reflektierende, das dem Alltag nachsprüende, die schrägen Einblicke in den Literaturbetrieb, auch das Erzählen von und das Nachdenken über die Depression. Aber ich habe mich auch auf das Buch gefreut, seit ich davon im Verlagsprospekt gelesen habe.
      Viele Grüße, Claudia

      • Dein Frustkompensierungsprogramm – Bücher kaufen – kommt mir seltsam vertraut vor. Kicher. Ich wünsche dir sehr, dass jetzt die Arbeit langsam wieder in andere Bahnen kommt 🙂 Liebe Grüße, Anna

      • Ja, hoffe ich auch! Es macht schon sehr viel Spaß, mal wieder einen Bericht hochzuladen und auf die Reaktionen zu warten. Da hat mir schon was gefehlt.
        Viele Grüße vom hohen Bücherstapel, Claudia

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.