Für unser Projekt, dem literarischen Hund auf die Spur zu kommen, liegt es nahe, auch den literarischen Wolf zu betrachten. Hund und Wolf, das sind nahe Verwandte, und Hybride, also erste Kreuzungen zwischen Hund und Wolf, sollen gerade wieder sehr angesagt sein. Bei verwilderten Hunden können Verhaltensvergleiche zum Haushund auf der einen, zum Wolf auf der anderen Seite gezogen werden. Und in der Literatur sind sie alle auch wieder zu finden.
Petra Ahne geht in ihrem Band der Naturkunden, in dem sie sich den Wölfen zuwendet, natürlich nicht in erster Linie, aber in einigen Kapiteln dann doch, dem Hund und dem Wolf in der Literatur nach. Und setzt sich als erstes mit dem Märchen vom Rotkäppchen auseinander. Das Märchen, so zeigt sie auf, erfährt im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte in seinem Verlauf – und damit auch in seiner Wirkung – eine deutliche Veränderung und die verweise, so Ahne, auch auf die Auseinandersetzung der Bevölkerung mit den Wölfen.
Wir kennen die Geschichte, aufgeschrieben von den Brüdern Grimm, ja so: Das Rotkäppchen kommt, trotz der Warnungen der Eltern, vom Weg ab, begegnet dem verkleideten Wolf und beantwortet arglos alle seine Fragen. So bekommt der böse Wolf die Gelegenheit, erst die Großmutter und dann das Rotkäppchen zu fressen. Wenn wir dieses Märchen als Kinder vorgelesen oder erzählt bekommen, ist völlig klar, dass wir wissen, wie gut es ist, immer auf die Eltern zu hören, damit kein Unglück geschieht, und wir nicht hilflos einem so bösartigen, hinterlistigen und verschlagenen Wolf begegnen. Die Grimms also als richtig gute Didaktiker. Wir haben aber neben dieser Botschaft auch noch gelernt, dass ein Wald doch ein sehr unwirtlicher Ort ist, denn wer weiß, ob dort nicht, versteckt im Unterholz und für uns unsichtbar, ganz reale Wölfe ihren Unterschlupf haben, uns aus ihrem Versteck beim Waldspaziergang beobachten und auf den günstigen Moment des Beutemachens warten.
Die ursprüngliche Version, erzählt im 16./17. Jahrhundert in Frankreich, hat eine ganz andere Ausgestaltung. Dort trifft ein Mädchen im Wald einen schönen Jäger. Der aber ist ein Wer-Wolf, also ein Wolf, der mehr ist, als er zu sein scheint, denn in ihm steckt auch noch ein „Wer“, ein Mann also, wie das althochdeutsche Wort belegt. Auch in dieser Version wartet der Werwolf im Haus der Großmutter auf das Mädchen, gibt sich auch hier als Großmutter aus und überredet oder zwingt das Mädchen, sich zu entkleiden und nackt zu ihm ins Bett zu legen. Das Mädchen macht, was der Wolf will, ersinnt dann aber eine List, um aus dem Haus und nach draußen zu kommen. Das Seil, das der Wolf dem Mädchen aus Vorsicht an den Fuß gebunden hat, macht es draußen an einem Baum fest und kann so entkommen.
Es ist leicht nachvollziehbar, dass die Geschichten vom bösen Wolf und vom lebensklugen oder völlig hilflosen Mädchen nicht nur abends am Kaminfeuer für schaurige Spannung sorgten, sondern auch ein Bild des Wolfes transportieren, das sich einerseits aus der Sicht auf den Wolf speist und diese Sicht – andererseits – wiederum verstärkt. Der Wolf in der französischen Fassung war, so betrachtet, zwar ein durchaus verschlagener Gegner, dem die Landbevölkerung aber beikommen konnte, wenn sie sich denn auf ihn einstellte. Diese Version knüpfe, so Ahne, an die Erfahrungswelt der Bauern an, die in dem Wolf durchaus eine Gefahr sahen, immerhin lebte er in der Nähe der Siedlungen und bediente sich auch schon einmal beim bäuerlichen Nutzvieh. Im Prinzip aber konnten die Bauern mit ihm fertig werden, so wie das Mädchen in der Geschichte. Erst die spätere Version aus dem 19. Jahrhundert, also unser Rotkäppchen, nahm zum einen jede sexuelle Konnotation aus der Erzählung und erschuf zum anderen ein Bild vom Wolf, den man kaum mehr als gleichwertigen Gegner ansehen konnte. Diesem Wolf kann man nicht mehr entkommen, diesem Wolf ist man hilflos ausgeliefert, gegen seine List und Tücke, gegen seine Bosheit, braucht es ganz andere Anstrengungen.
Dem Werwolf widmet auch der Hexenhammer von 1487 ein ganzes Kapitel. Dieses Buch, immerhin die juristische Grundlage der dann wütenden Hexenprozesse, wurde von Heinrich Kramer, einem Dominikanermönch aus dem Elsass, verfasst. Dort wird ausführlich beschrieben, wie sich Menschen in Tiere verwandeln können, beim Wolf seien es vor allem die Männer. Diese Verwandlung, so viel war auch Krämer klar, finde dabei nicht wirklich statt, sondern der Werwolf bedienen sich dabei Fähigkeiten der Sinnestäuschung, durch die er sein Opfer manipuliere. Der Hexenhammer mit seinem Werwolfkapitel macht es dann möglich, unliebsame Dorfbewohner loszuwerden. Dies seien meistens nicht die anerkannten Bürger der Gemeinschaft gewesen, sondern solche, die Außenstehende waren, Einsiedler eben, Zugezogene, arme Bauern, Heiler. Der Werwolfprozess also als gute Gelegenheit, die Unordnung zu ordnen.
Ahne macht deutlich, dass diese Bilder des Wolfes durchaus mit dem Ziel der Bevölkerung einhergingen, sich dem Wolf zu entledigen. Tatsächlich gibt es schon seit dem 15. Jahrhundert in England keine Wölfe mehr, 1904 wurde der letzte Wolf in der Lausitz getötet, nachdem auch dort 60 Jahre lang kein Wolf aufgetaucht war. Der Wolf als Konkurrent des Menschen bei der Jagd, der Wolf als Opportunist, der überall da leben kann, wo er etwas zu essen findet, der, wenn ihm durch die Kultivierung des Bodens der Wald als Lebensraum entzogen wird, eben in der Nähe der Menschen lebt und sich von ihren Abfällen, zur Not auch von ihrem Vieh, ernährt, ist jahrhundertelang bei den Menschen nicht gut angesehen gewesen. Am liebsten, „am nutzvollsten“ gar, erschien er den Menschen, wenn er tot war, so Conrad Gessner in seinem 1551 erschienen „Thierbuch“. Die durchaus raffinierten Methoden, die die Menschen ersannen, um den Wolf auszurotten, sollen hier nicht beschrieben werden. Wer mag, schaue in Ahnes Wolfs-Naturkunde…
Immer schon, das macht die Figur des Wolfes in den Erzählungen und Märchen deutlich, wird der Wolf ideologisch aufgeladen. Zunächst als Konkurrent der Menschen bei der Jagd, der verteufelt wird und gleichzeitig auch als Bild für diejenigen herhalten muss, die aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden sollen. Auch hier will man den zum Wolf gewordenen Menschen nicht dulden.Das Bild vom Wolf ändert sich aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auf einmal wird der Wolf in der Literatur zum Sinnbild für Freiheit, für Wahrhaftigkeit und Intuition und steht ganz grundsätzlich für das Leben im Einklang mit der Natur. So nimmt er auf einmal einen Gegenpart ein zum Haushund, den der Mensch sich untertan gemacht hat und der dem Menschen seit mindestens 30.000 Jahren hilft, Haus und Vieh zu hüten oder ihn bei der Jagd zu unterstützen, der also mit seinen speziellen Kenntnissen durchaus nützlich für den Menschen war. Der Hund hat im Vergleich zum Wolf ganz andere Charakterzuschreibungen. Er gilt als loyal und treu ergeben, angepasst und unterwürfig, immer wieder um die Anerkennung seines Herrn bemüht, er ist eben „hündisch“. Er passt aber auch auf Haus und Vieh auf, geht mit zur Jagd, zeigt also durchaus auch seine „wilde“, seine ungezügelte Seite – zum Nutzen seines Herrn.
Das Spiel mit diesen beiden Seiten, mit der Natur und der Kultur, hat Jack London in seinem Romanen gleich zweimal ausgelotet (Birgit hat über beide Romane in unserer Reihe bereits berichtet.) Im „Ruf der Wildnis“ (1903) wird ein Haushund gekidnappt, wird aus seinem gemütlichen Umfeld in Kalifornien entführt in die Wildnis Alaskas zur Zeit des Goldrauschs. Dort muss er sich im wahrsten Sinne des Wortes „durchbeißen“, gelangt schließlich in die Freiheit und lebt dort in der Wildnis als Anführer eines Wolfsrudels – stolz, selbstständig, unabhängig. In Wolfsblut erzählt London die Geschichte genau anders herum: Wolfsblut, ein Hybrid aus Wolf und Hund, gelangt als Welpe in menschliche Hände. Seine Hundeerbe, die Bereitschaft, sich dem Menschen unterzuordnen, ermöglicht ihm die Anpassung an den Menschen. Als er schließlich in die liebevollen Hände einer Familie gelangt, als er gar dem Vater seines Besitzers das Leben gerettet hat, da zeigt sich, wie die im Sinne eines Zusammenlebens gebändigte Wildheit des Raubtieres sich auch entwickeln kann.
Und so werden dem Wolf im Laufe des 20. Jahrhunderts und bis heute wiederum andere Eigenschaften zugeschrieben, wird der Wolf wiederum ideologisiert, nun mit Blick auf ihre besondere „unbekannte und ursprüngliche Kraft“ als wildes Tier. Ahne verweist hier auf Hélène Grimaud, die Pianistin, die ein Wolf Center gegründet hat, auf Mark Rowlands, den britischen Philosophen, den das Zusammenleben mit Brenin zu philosophischen Überlegungen inspiriert hat und einer Familie in Niedersachsen, die ein Wolfsgehege unterhalten.
„Sie wollen das Leben mit Wölfen teilen, sie besitzen, ihnen nah sein. Wo etwas unverfälscht ist, muss auch etwas verfälscht sein, künstlich nicht richtig. Die Wölfe scheinen den Weg zu einer Wahrheit zu weisen, die im normalen Menschenleben verstellt ist. Vielleicht ist die Wahrheit aber auch einfach, dass der Mensch ein Gefäß braucht, das seine Sehnsüchte aufnimmt. Und der Wolf sich dafür ebenso eignet wie zuvor als Bösewicht.“
Der Hund aber, den die Menschen domestiziert haben, der hat diese Ursprünglichkeit aus der Sicht der Wolfsfans nicht. Und im Wolf Science Center bei Wien, wo Verhaltensforscher Wölfe und Hunde beobachten, kann Ahne sich selbst ein Bild vom Unterschied machen. Während die Wölfe gelassen und neugierig zur Absperrung kommen und abwarten, was passieren wird, springen auf der anderen Seite die Hunde „am Zaun hoch, bellend, schwanzwedelnd, den Eindruck größter Dringlichkeit vermittelnd.“ Und da fällt Ahne auch ein Zitat Kurt Tucholskys aus seinem „Traktat über den Hund“ ein: „Niemanden hasst der Hund so wie den Wolf, denn er erinnert ihn an seinen Verrat, sich dem Menschen verkauft zu haben.“
Petra Ahnes Naturkunde zeigt weit mehr Facetten auf, als hier, mit Blick auf den Wolf in der Literatur, zusammengetragen wurden. Sie blickt auf die Forschung im Laufe der Jahrhunderte, auf neuere Erkenntnisse zu den Wolfsrudeln, die sich seit 1995 wieder in Deutschland angesiedelt haben. Sie hat insgesamt ein sehr interessantes Buch über den Wolf zusammengetragen, eines, das die Stigmatisierung des Wolfes auflöst, das aber auch Vorsicht walten lässt vor einer erneuten, nun positiven, Idealisierung. Dass der Band auch wiederum wunderbar bebildert ist, muss ja fast nicht mehr erwähnt werden.
Wölfe. Ein Portrait von Petra Ahne in der Reihe Naturkunden (2016), hrsg. von Judith Schalansky, Berlin, Matthes & Seitz
Interessantes Thema….und einfach tolerant Tiere🐺
Eine ganz tolle Reihe, die der Matthes & Seitz Verlag da herausgibt. Alle Bände der Naturkunden sind nicht zuletzt eine Augenweide. Viele Grüße, Petra
Das stimmt, eine Augenweide sind sie wirklich. Die Abbildungen von Gemälden zeigen ja zusätzlich zum Text, wie der Wolf wahrgenommen, wie er verfolgt, wie er gedeutet wurde. Dass die Bände auf sehr schönem Papier gedruckt und außerdem auch fadengeheftet sind, muss man ja kaum noch zusätzlich erwähnen. Also ein Rundum-Genuss!
Liebe Claudia, ein toller Artikel über den Canis lupus und das Buch … die Reihe Naturkunden ist einfach genial. Interessanterweise verfolgt der Wolf mich derzeit geradezu: Gestern war ihm ein großer Artikel in der Tageszeitung gewidmet – ja, das Tier bewegt sich immer noch im Spannungsfeld zwischen Stigmatisierung (die Allgäuer Landwirte sind höchst empört, da der Wolf sich ja an ihren Herden bedienen könnte) und Idealisierung. Und je mehr Wölfe wiederkommen (in Bayern die ersten seit 150 Jahren) umso heftiger wird die Debatte Naturschützer contra Landwirte wohl werden…
„Bayern ist Wolfsland“ meldete der Nabu: https://www.nabu.de/news/2016/06/20840.html
Ich finde es gut – solange kein hungriger Wolf mir auflauert – ein faszinierendes Tier, mit einer eng mit den Menschen verwobenen „Beziehungsgeschichte“ wie auch deine Buchvorstellung zeigt.
Einen schönen Sonntag an das #lithund-Rudel! von Birgit
Liebe Birgit,
vermutlich lese ich die Tageszeitung, die Du auch liest. Denn von dort schaute mir doch vor ein paar Tagen aus dem Regionalteil ein bernsteinäugiger Wolf auf den Frühstücksteller. Und der Bericht verwies auf die Bauern, die um ihr Vieh fürchten, sollte der Wolf in Rudelstärke nach Bayern zurückkehren. Petra Ahne gibt in ihrem Buch jedoch wissenschaftlich Daten zum Fressverhalten des Wolfs wieder: das Nutzvieh spielt eine Rolle im einstelligen Prozentbereich. Das zum Thema Dämonisierung.
Ahnes Naturkunde ist ein wirklich spannendes Buch zum Wolf mit vielen, vielen Geschichten, die sie zusammengetragen und in sehr schöner manchmal mehr informierender, manchmal mehr erzählender Art wiedergibt. Ich hätte mir natürlich noch viel mehr „Wolf in den Künsten“ gewünscht, aber das hätte wohl das Thema „Naturkunde“ gesprengt.
Dir auch einen schönen, hoffentlich literarischen, Sonntag, Claudia
Das war offenbar ein dpa-Bericht, der durch verschiedene Tageszeitungen ging. Aber ja: Dämonisierung, es wird etwas die Hysterie geschürt, wie seinerzeit beim Problembär – und wie der in Bayern endete, wissen wir ja. Hoffen wir, dass es den Wölfen besser ergehen wird – bei unseren Nachbarn in der Schweiz und in Frankreich gab es ähnliche „Problemchen“, inzwischen haben sich Mensch und Wolf wohl aneinander gewöhnt und es gibt in manchen Regionen sogar wieder richtige Rudel.
Das klingt spannend und ist soeben auf meine Wunschliste gewandert. Ganz nach meinem Geschmack, danke für die schöne Rezension 🙂
Und wenn Du magst, dann kannst Du auf dem Einband sogar den Wolf erspüren… Es ist ein wirklich in allen erdenklichen Richtungen schönes Bändchen zum „Wolf“.
Viele Grüße, Claudia