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Matthias Nawrat: Unternehmer

NawratLipa lebt in Schönau, im Schwarzwald, und arbeitet als Assistentin im Familienunternehmen, das im – wir nennen es mal – Handel von Wertstoffen tätig ist. Lipa koordiniert die Einsätze, sie inventarisiert, sie erfasst die Ausgaben und Einnahmen, bewertet die beweglichen Wirtschaftsgüter, berücksichtigt vermögenswirksame Leistungen, bilanziert und sucht Kosteneisparpotenziale.

Die ganze Familie lebt die Arbeitswerte des Vaters, der die Tätigkeit als Unternehmer hoch einschätzt. Zur Motivation hat er die Idee ersonnen, dass die Familie spätestens im nächsten Frühjahr nach Neuseeland auswandere, denn dort sei ja alles besser und leichter. Und auf jede noch so problematische Situation hat er eine Antwort, die aus dem Schatzkästlein des protestantischen Wirtschaftsethos Max Webers oder der Idee des schöpferischen Unternehmers, wie ihn Joseph Schumpeter skizziert hat, entliehen zu sein scheint:

Es gibt keine unternehmensfreie Zeit, sagt der Vater. Entweder man ist Unternehmer, oder man ist es nicht. (…) Keinen Moment Ruhe kann man sich als Unternehmer gönnen. (…) Unser Beruf (…) bringt viele Schmerzen mit sich. Aber die Schmerzen müssen wir ertragen können. Das ist das Gesetz des Unternehmertums. (…) Wenn die Preise fallen, sagte er, dann muss man beweglich bleiben. Neue Märkte müssen erschlossen werden. Es zählt die Anpassungsfähigkeit.

Auch wenn Lipa ihre Arbeit beschreibt, dann hört sich das durchaus überzeugend an, da ist noch eine stolz auf die eigene Tätigkeit, die sich, wenn es gut läuft, schon am selben Abend in Geld verwandelt. Sie fährt mit ihrem Vater und dem einarmigen Bruder Berti durch die Täler des Schwarzwaldes, sie suchen stillgelegte Fabriken, aus denen sie noch verwertbare Metalle und andere Wertstoffe herausholen, die sie dann später dem Schrotthändler im „Paradies“ zum Kauf anbieten:

Wir sind die besten Unternehmer der westlichen Hemisphäre, niemand hat je so schnell einen Robusten in Anthrazit auseinandergenommen. Wie er wohl früher unter einem Schreibtisch gesummt hat, gerauscht, seine Arbeit getan? Berti und ich hebeln die Kontakte von den Plättchen. Bis Mutter uns zum Abendessen ruft, schichten wir Wolframfolien auf ein Häufchen, die Kobaltfolien auf ein anderes. Die Kobaltfolien knistern am schönsten. (S. 7)

Merkwürdig aber: Lipa ist erst dreizehn Jahre alt, zur Schule geht sie nicht mehr, denn Schüler, so findet sie in der Denktradition des Vaters, haben nur Zeit für die Schule, weil sie arbeitslos sind. Noch merkwürdiger aber ist die Welt, von der uns Lipa erzählt, denn in den Schwarzwälder Tälern gibt es nur noch leere Dörfer und in den Fabriken arbeitet niemand mehr. Vater, Berti und Lipa fahren also herum in dieser deindustrialiserten Umgebung, suchen nach Computern, nach Elektromotoren, nach Kühlschränken, Fernsehern und Mirkowellen. Zu Hause im Keller kommen dann die Magnetspulen ins Schwefelbad (!), die Abfälle dieser Tätigkeiten werden hinter dem Haus in den See gekippt.

Auf der anderen Seite aber gibt es auch das ganz normale Leben, wie wir es kennen, es gibt Tankstellen, Restaurants, in denen Tee und Kaffeelikör ausgeschenkt wird, es gibt Ärzte, einen Edeka, die Schule und die Schulfreundin, die Lipa, als sie dann in der Schule angemeldet wird, in den eigenen Garten einlädt und versucht sie vom Trampolinspringen zu begeistern und vom Tauchen im Swimmingpool.

Ist etwa Lipa nicht zu trauen? Erzählt sie uns, durchaus ein bisschen großmäulig, von ihrer Welt in fantastischen Bildern, die so gar nicht stimmen? Spinnt sie sich zusammen, was sie von der Welt nicht versteht? Zuzutrauen ist es ihr, immerhin ist sie erst dreizehn Jahre und wer versteht in dem Alter schon die Welt? Dafür soricht auch, dass sie die Fähigkeit hat, Worte zu erfinden und zu nutzen, deren Bedeutung wir uns erst aus dem Zusammenhang mühsam erklären können: Robuster aus Anthrazit, Magnetspulenherzen, Gebietsveränderte, Weltraum-Kraftwerk, die Tapeten-Teppichstadt. Auch die Beobachtungen ihrer Umgebung erzählt sie in sehr positiven, sehr poetischen Worten. Beim Streit der Eltern vermag sie auch in den schlimmsten und lautetsten Beschuldigungen noch Liebesbeweise zu finden. Und eine Industriebrache kann, mit Lipas Augen gesehen, durchaus ihre Reize entfalten:

Und wie schön dröhnt es unter mir und neben mir und durch die ganze Halle, wenn ich die Wendeltreppe in den Keller steige, wo ein Einkaufswagen liegt und zwei staubblinde Plastikflaschen und die Metallsprungfeder-Innereien einer Doppel-Liebesmatratze. Wie sich die Glasscherben in allen Ritzen eingenistet haben, und das Gebüsch hat in der Mauer noch einen Ort gefunden. Jetzt klettert die Natur sogar die Wände hoch. Dort oben auf dem Dach wächst ein einzelnes Bäumchen im Wind, der von Frankreich rüberweht. (S. 29)

Mit Lipa als Erzählerin der Familien-und Unternehmensgeschichte hat Matthias Nawrat eine gute Wahl getroffen, denn ihr lauschen wir gespannt ihren mal positiven, mal kindlich-naiven, mal verblüffenden Schilderungen aus einer eiegenartigen Welt, die ihr, eben wegen ihres Alters, nicht eigenartig, sondern völlig normal findet. Bei der Frage, was das denn für eine merkwürdige Welt sei, finden sich im Roman nur einige, wenige Erklärungen, von denen der Leser, weil sie von Lipa und ihrem Schulkarmeraden, dem lange Nasen-Timo, stammen, nicht weiß, ob er ihnen trauen kann.

Vielleicht hat Matthias Nawrat seiner Romanwelt aber einfach dieses gedankliche Experiment zugrunde gelegt: Angenommen, die Produktion der Güter findet nur noch in Asien statt, nicht mehr in den Industrieländern der westlichen Welt. Nach Asien sind die Maschinen gewandert, ebenso das Know how der Produktion und der Prozesse, dort findet die Wertschöpfung statt, dort wächst die Wirtschaft und damit neben der wirtschaftlichen auch die politische Macht, die sich darin zeigt, dass es eine „Vereinigte Republik Asien“ gebe. Wie ergeht es am Ende dieses Veränderungsprozesses den Menschen in den Industrieländern? Wie werden sich gesellschaftliche Prozesse entwickeln, wie werden die Menschen leben, wie arbeiten?

Matthias Nawrat hat in seinem Roman „Unternehmer“ diese Fragen beantwortet. Eine erschreckende Welt schildert er, eine sozial zerrissene Gesellschaft, Familien am Rande des wirtschaftlichen – und gesundheitlichen – Ruins; es ist eine Welt, wie sie uns aus den Beschreibungen der Entwicklungsländer gut bekannt ist. Da gibt es die Eltern von Schulkameraden, die morgens in silbernen Autos zur Arbeit in die Glastürme der Innenstädte fahren, es gibt die Familien wie die von Lipa, die mit aller Macht gegen den sozialen Abstieg kämpfen, sich dagegen stemmen, aus dem verschuldeten Haus ausziehen und in die Bretterbudenstadteile – Favelas – der Innenstädte ziehen zu müssen. Und es gibt natürlich die Familien, die diesen Kampf bereits verloren haben, die entweder sehr isoliert in den verlassenen Dörfern leben, sich ihrer Einsamkeit und Armut wegen wahrscheinlich merkwürdig verhalten, die Gebietsveränderten nämlich, oder in den Einzugsbereichen der Städte in in Hütten wohnen und durch Windschutzscheiben das Elend vor ihrer Haustür betrachten.

Und so führt Nawrat in seinem klugen Roman viele der in aller Welt unkritisch ausgespochenen und ständig wiederholten Wirtschaftsphrasen ad absurdum. Wenn die Rahmenbedingungen nicht stimmen, wenn eine Region nur noch intressant ist, weil noch ein paar Wertstoffe ausgebeutet werden können, dann schafft es eben auch der findigste Unternehmer nicht, durch neue, kreative, besonders einfallsreiche Ideen zumindest sein Überleben zu sichern. Der kreative Unternehmer, so wie Schumpeter ihn vor fast 100 Jahren als Motor für Fortschritt und Weiterentwicklung gezeichnet hat, der findige Macher, der allen Widrigkeiten des chaotischen Wettbewerbs zum Trotz, seinen Weg geht und nicht nur für den eigenen Wohlstand, sondern gleich auch noch die Wohlfahrt des Landes sorgt, findet eben nicht in jedem Umfeld seinen Weg.

Das ist das spannende an Nawrats Gedankenexperiment, das die uns bekannte Welt auf die Stufe eines Entwicklungslandes stellt: Durch den Blick auf Lipa und ihre Familie zeigt er uns an einer Lebensgeschichte, welche verheerenden Auswirkungen die wohlfeilen Wirtschaftstheorien, bei denen ja der einzelne Mensch nichts zählt, ihm im Gegenteil die Schuld an seinem Elend zugeschrieben wird, auf den einzelnen, aber auch auf ganze Gesellschaft haben können.

Und Lipa? Lipa hat die Unternehmersprüche ihres ausbeuterischen, auch vor Kinderarbeit nicht zurückschreckenden Vaters so verinnerlicht, dass sie sie ihrem Vater immer wieder aufs Neue um die Ohren haut, als der nach dem Showdown mit dem ortsansässigen Konkurrenten – hier, das sei als einizig kritischer Punkt vermerkt, übertreibt Nawrat seine Geschichte – und dem schweren Unfall Bertis in eine schwere Depression versinkt. Auch ihre zarte Verliebtheit zu dem lange Nasen-Timo gestaltet sie nach den Prinzipien von Einzahlung und Auszahlung und dem angeblich Freude bereitenden Hüpfen auf dem Trampolin kann sie natürlich rein gar nichts abgewinnen.

Matthias Nawrat (2014): Unternehmer, Hamburg, Rowohlt Verlag

Die Sonntagsleserin: KW # 16 2014

Sonntagsleserin_2

Auch an diesem Ostersonntag soll die Tradition der Sonntagsleserin fortgeführt werden. Die Bücherphilosophin hat die Idee gehabt und mittlerweile berichten immer mehr Blogger in ihren allwöchentlich-sonntäglichen Rückschauen über die besonderen Blogleseerlebnisse der vergangenen Woche. Bei der Bücherphilosophin findet Ihr auch eine Liste der anderen Sonntagsleser, bei denen es immer vieles zu entdecken gibt.

In dieser Woche habe ich Blogartikel gesammelt, deren gemeinsames Thema ist, dass sie keine Bücher besprechen. Offensichtlich haben viele Blogger angesichts des Frühlingswetters und der freien Tage ihre Bücher zur Seite gelegt, haben sich feste Schuhe angezogen und es hat sie wandernd, laufend, walkend, radelnd oder Unkraut jätend in die Natur gezogen. Naja, Ihr werdet sehen, so ganz ohne Bücher ging es dann auch in dieser Woche nicht:

Blicke auf viele verschiedene Türen in Neve Tsedek, einem Stadtteil Tel Avivs, hat Sabine geworfen.

Und Anna zeigt uns, dazu passend, viele unterschiedliche Fenster, die sie in Bamberg gefunden hat und abgelichtet hat. (Die Kombination von Fenstern und Türen wird vielleicht zu dem ein oder anderen neuen Bauwerk inspirieren 🙂 .)

Charlotte hat auch ihre Kamera zur Hand genommen und zeigt uns den Frühling in Südtirol, genauer in Algund, mit Blicken auf Apfelblüten, aber auch mit weiter gestelltem Objektiv auf Waalwege, auf Meran und das Meraner Becken bis zum Gantkofel (das ist der ganz charakteristische Felzbsturz hinten rechts im Bild). Wer möchte, dass ihm das Wasser im Mund zusammenlaufe, der schaue bitte auch die Bilder vom Abendessen im Restuarant Ladurner an – mmhhh!

Maren ist mit Fotoapparat und Fahrrad unterwegs, gewährt uns tolle Blicke auf die Landschaft in den Niederlanden und weckt damit Sehnsucht nach Wind, Luft, Wasser und ganz viel Stille.

Einen Artikel zum Thema Garten, inspiriert von der Gartenwoche in England, haben die Buchfeen Siri und Selma geschrieben und mit tollen Fotos bebildert. Beides zusammen macht Lust auf Frühjahr und Sommer, aufs Leben in Garten und Natur – wenn nur nicht immer die gebückte Arbeit wäre – obwohl in dem Artikel die überaus kuriose Meinung zitiert wird: Eine Stunden Gartenarbeit erspart fünf Stunden beim Arzt. Na, ich weiß nicht so recht…

Silvia zeigt uns zwei Leserinnen, die, auch vom schönen Wetter nach draußen gelockt, im Freien lesen. Sie hat sie aber nicht fotografiert, sondern gemalt. Es lohnt sich aber auch ein Blick auf ihre anderen farbenfrohen Werke.

Auch Birgit hat das Frühlingswetter nach draußen gelockt. Dort hat sie vier Graffitis gefunden und fotografiert, aus denen sich eine wunderbare Kurzgeschichte – oder auch ein langer, kompliziert-verwickelter Roman – entwickeln lässt.

Und nun kommt doch noch „was mit Büchern“:

Die Bücherphilosophin geht, angeregt durch einen Artikel im Guardian, der Frage nach, welche Bedeutung und welche Wirkung Buchpreise für die Autoren haben und lädt anschließend ihre Leser zu einer Diskussion darüber ein, welche Bedeutung Buchpreise für uns haben, ob wir sie als Leseanregung nehmen, geradezu als Lesemuss, oder uns unsere Leseliste lieber selbst zusammenstellen. Es sind schon einige interessante Beiträge zusammengekommen.

Tobias vom Blog texteundbilder, dem wir das apokalyptische Stöckchen zu verdanken haben, hat begonnen, alle geretteten Bücher zusammenzutragen, so dass wir einen schönen Überblick über die post-apokalyptische Bibliothek bekommen können.

Und Tobias von libroskop fragt sich, was sich die Menschen in den Verlagen beim Thema Buchgestaltung so denken. Er bebildert seinen Artikel auch mit einigen tatsächlich sehr fragwürdigen Exponaten, von denen mir das letzte mit dem Verweis auf das Ebook am besten gefällt. Hat schon einmal jemand nachgeschaut, ob auf den Ebooks der Vermerk klebt: „Wer nicht nur Besitzer, sondern auch Eigentümer dieses Buches werden möchte, der kann es auch in Papierform erwerben.“ Immerhin können wir als Bucheigentümer das Buch nicht nur nach eigenen Ideen gestalten (vom Eselsohr bis zur farbigen Bebilderung), wir können es auch verleihen, verschenken, verkaufen, in einen öffentlichen Buchschrank stellen, wir können damit bei äußerster Not ein Feuer anzünden und – ich habe es gerade bei Sylvain Tesson gelesen – auch aus sorgfältig gekauten Textseiten Ohrstöpsel gegen Lärm herstellen. Das alles kann ein Ebook nicht.

Kai hat dann auch noch ein österlich passendes Buch zur Lektüre vorgschlagen, das, so versichert er, auch gerne nach Ostern gelesen werden könne – also kein Problem, wenn Ihr es heute gerade nicht zur Hand habt.

Schöne Osterfeiertage und eine wunderbare frühlingshafte (Blog-)Lesewoche wünsche ich Euch.

Dorothee Elmiger: Schlafgänger

Elmiger_2Als Schlafgänger, so erklärt der Student aus Glendale, seien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts diejenigen Zuwanderer in die Großstädte wie Berlin, Frankfurt und Wien bezeichnet worden, die nur schlecht bezahlte und meist befristete Arbeit fanden und sich deshalb kein Zimmer leisten konnten. Sie mieteten sich also ein Bett für ein paar Stunden, um schlafen zu können. Eine absolut prekäre Situation, denn Schlafgänger fanden so „auch für den Schlaf keinen unbedingt sicheren Ort, sie legen sich für einige Stunden auf eine gemietet Stelle, um dann wiederum als Arbeitskraft zur Verfügung zu stehen.“ Und sie wurden auch, so fährt der Student seine Erklärung fort, als „flüchtige Existenzen bezeichnet, auf die stets das Augenmerk der Polizei gerichtet war.“

Schlafgänger gibt es heute wohl nicht mehr, den Gedanken aber, geradezu das Primat, die Arbeitskraft so zu erhalten, dass sie immer wieder einsetzbar ist, sehr wohl. Nur wer über eine marktfäfige Arbeitskraft verfügt, findet seinen Platz in unserer Gesellschaft, sei es als Fußballspieler, als Schriftstller, als Logistiker/Spediteur. Und der Logistiker in Dorothee Elmigers Roman hat nun das große Problem, keinen Schlaf mehr zu finden. Bis zum letzten Jahr war er im Im- und Export tätig, hat Warenlieferungen in die Schweiz und aus der Schweiz heraus organisiert und überwacht und ist dabei wahrscheinlich mit den illegalen Einwanderungen in die Schweiz konfrontiert worden, mit den Grenzgängern also, die gerne die Warenwege zur illegalen Einreise nutzen.

Der Logistiker, der zu allem Übel auch noch in der Grenzstraße und an der Grenz wohnt, nimmt akribisch jede Reaktionen auf die illegale Zuwanderung auf, teils vorgebracht von Bürgern, die Sorge haben vor zu vielen „Asylanten“in ihrer Straße, teils von Vertretern der Verwaltung, allesamt jedoch in einer ausgesprochen techokratischen Sprache vorgetragen:

Reporter: Hier laufen die Asylanten jeweils hin und her? Bürger: Richtig (…). Das einzige Traktandum, das wir eigentlich haben, ist die Frage: Brauchen wir eine Bürgerwehr, oder sind die verantwortlichen Personen und Stellen in der Lage, fähig und willens, geordnete Verhältnisse zu schaffen? (S. 50)
Leiter eines Durchgangheimes: Ein Teil der Betreuungsaufgaben besteht in der Erhaltung der Rückkehrfähigkeit der Asylsuchenden und er frage sich nun,(…) ob man sich weigern solle, unter Rückkehrfähigkeit mehr zu verstehen als rudimentäre Vorkehrungen, diese Menschen am Leben zu erhalten (…). (S. 67)
Die Grenzwächter (…) müssen mit allen Waffen sicher umzugehen verstehen. Aber das Schießen finden Kursteilnehmer leichter als die Theoriestunden, in denen sie sich redlich um Materialkenntnis, Landeskunde und Kartenlesen bemühen. (S. 70)

Über Auswanderungen und Reisen, über Grenzgänge verschiedener Art, über die Frage, wie – gutes – Zusammenleben glücken könnte, darüber sprechen Dorothee Elmigers Figuren. Eine der Figuren meint, das Thema ihrer Gespräche sei doch der Wert des Körpers, eine andere äußert, es gehe doch um wesentlich mehr, nämlich um die Menschen- und Bürgerrechte. Eine Handvoll Personen jedenfalls scheint für eine gewisse Zeit an einem Ort zu leben, sie treffen sich in einem Zimmer, in einem Saal, an einem Tisch und jede der Figuren erzählt Bruchstücke einer, seiner Geschichte, erzählt, was ihn beschäftigt, manchmal auch, was er erlebt hat.

Dabei erscheinen die Figuren dem Leser wie auf einer Bühne, auf der mal der ein auf- und der andere abtritt, immer sind andere Figuren präsent, immer wieder steht ein anderer im Rampenlicht und erzählt; manchmal werden Geschichtenbruchstücke mehrfach erzählt, wahrscheinlich, weil andere Zuhörer da sind, manchmal beziehen sich die Erzählungen der Figuren aufeinander, seltener reden sie miteinander, gehen aufeinander ein. Die Figuren erheben ihre Stimmen, erzählen Teile ihrer Geschichten, Beobachtungen, Recherchen, Reflexionen, doch für den Leser entsteht nur ein Stimmen- und Themengewirr, kaum auseinanderzuhalten, kaum zuzuordnen, vor allem aber nach der Lektüre: kaum zu erinnern.

So wird dem Leser nie richtig klar, woher diese Personen sich kennen und warum sie an diesem Ort zusammen sind, wobei ihm manchmal sogar die Frage beschleicht, ob diese Personen tatsächlich alle zur selben Zeit am selben Ort sind oder er die Gespräche von verschiedenen Schauplätzen und unterschiedlichen Zeiten liest. Flüchtige Existenzen sind also auch die Figuren, die uns Dorothee Elmiger in ihrem Roman präsentiert; flüchtig wirken sie auf den Leser, weil sie nicht als Personen erscheinen, die durch ihr Handeln das Geschehen weiter voran treiben, vor allem, weil sie nicht als komplexe Charaktere erkennbarbar und erinnerbar sind. Irritation also ist eine der wesentlichen Wirkungen, die Elmigers Geschichte beim Leser hinterlässt.

Fortunat Boll, einer der Teilnehmer der Gesprächsrunden, beschäftigt sich mit dem Auswandern von Schweizern im 19. Jahrhundert. Seine Vorfahren sind nach Amerika ausgewandert, „als Mittel der Verminderung von Armut“. Er selbst reist nach Texas, weil er sich für das im 19. Jahrhundert von Victor Considerant gegründete und schnell wieder gescheiterte sozialistische Wohnexperiment La Réunion interessiert. Die Schriftstellerin, die in einem 20-bändigen Werk ihre Reisen an Grenzen zusammengetragen hat, „stets demütigend, wenn nicht tödlich“, wird ganz offiziell aus Los Angeles mehrmals in die Schweiz eingeladen; der Journalist, den, wie den Logistiker, die illegalen Grenzübertritte interessieren, hat seiner Redaktion angekündigt, sich mit eben diesem Werk auseinandersetzen und eine Besprechung schreiben zu wollen. Die Übersetzerin Winnie, die auf ihrer gemeinsamen Schiffsreise mit der Schriftstellerin nach Europa in der Bordbibliothek das Buch über den Konzeptkünstler Bas Jan Aders findet, der einmal ein Video über seinen Sturz drehte, träumt immer wieder davon, dass die Alpen zusammenstürzen. Der Student aus Glendale, der das Phänomen der Schlafgänger erklärt, denkt über die Entwicklung der Städte nach. Der Vater von Fortunat Boll sieht den Wald als einen idealen Ort und fragt sich, ob das Leben in einer gut organisiserten Bienengesellschaft tatsächlich gerechter sei. Und A.L. Erika, die auch in Los Angeles gelebt hat, hat es nie geschafft, ihren Eltern aus den USA einen Brief zu schreiben.

Personen, Gespräche und Themen hat die Autorin sehr experimentell, sehr kunstfertig, aber auch sehr artifiziell konzipiert. So entsteht eine herausfordernde, eine arbeitsintensive Lektüre, an deren Ende trotzdem nur zusammenhanglose Versatzstücke in Erinnerung bleiben, flüchtige Erinnerungen an einen Roman, der auch mit der Form experimentiert. Diese Wirkung liegt vor allerm an der Konzeption des Romans, die eben nicht auf das Erzählen und Erleben einer Geschichte (mythos) setzt und damit dem Leser ermöglicht, eigene Bilder zu erschaffen, sondern die Themen, Fragen, Probleme und Konflikte, die die Menschen umtreiben, aus der distanzierten Perspektive des Verstandes, des gesprochenen Wortes betrachtet (logos).

Vielleicht ist diese nicht-kohärente Wirkung auf den Leser genau das Abbild unserer Gesellschaft, das vermittelt werden soll; vielleicht sollen weniger Lebensweisen und Haltungen von Figuren im Mittelpunkt einer Handlung stehen, als vielmehr eine irritierende Atmosphäre unserer Zeit gespiegelt weden; vielleicht ist gerade das Spiel mit dem Leser, der trotz Anstrengung am Ende vor dem großen Fragezeichen sitzt, das Ziel dieses Textes.

Dorothee Elmiger (2014): Schlafgänger, Köln, DuMont Buchverlag

Anna Buchpost hat zur Elmiger-Besprechung noch den Link zu einem Artikel geschickt, der die Schlaf- und Wohnverhältnisse in Hongkong, der Stadt mit der freiesten aller Marktwirtschaften, beschreibt.  Auch dort lassen sich Schlaf- und Grenzgänger, wie es uns kaum vorstellbar ist, finden, die auf der Suche nach Möglichkeiten des Über-Lebens sind.

Das apokalyptische Stöckchen

ApokalypseObwohl doch nun das Wetter besser wird und alle Leser und Blogger die freie Zeit draußen verbringen sollten, fliegen sie immer noch, die Blog-Stöckchen. Ein ganz besonderes hat mich gerade erreicht, denn es malt sich gleich mal  die Apokalypse aus. Tobias, von dem die Idee, was in apokalyptischen Zeiten als Buchliebhaber am dringendsten zu tun sei, stammt, beschreibt sie so:

Wenn du drei Bücher vor der Apokalypse, die alle anderen Bücher auf dem Planeten zerstört, retten könntest – welche wären es?

Und Tobias hat dann gleich noch ein paar Regeln mitgeliefert – Ordnung muss im Angesicht des Weltuntergangs schließlich sein: es dürfen wirklich nur drei Bücher genannt werden (und schon beginnt man zu grübeln, wie man diese Regel elegant unterlaufen kann: ist eine Gesamtausgabe etwa als ein Buch zu werten, welche mehrbändigen Werke sind auch einbändig erschienen?, wie schaffe ich es also, möglichst viel Lesestoff zu retten?), es muss erklärt werden, WARUM es genau diese drei Werke sind und die Begründung darf nicht mehr als 140 Zeichen pro Buch lang sein (wie sympathisch).

Nun warf mir Sophie dieses apokalyptische Stöckchen in einer durch häufige und lange Zahnarzttermine der Apokalypse sehr ähnlichen Zeit zu und ich konnte die im Zahnarztsessel bei merkwürdigen Geräuschen sinnlos verbrachten Stunden immerhin mit der schönen Aufgabe bestreiten, mir zu überlegen, welche drei Bücher ich denn im Falle einer kurz bevorstehenden Apokalypse schnell mal in meinen Rescue-Rucksack packen würde.

Und dies ist bei der Überlegung zwischen Anästhesie, Wurzelbehandlung und Abdruck herausgekommen, wobei ich frank und frei erkläre, dass ich nur meine Interessen in den Vordergrund gestellt habe und mir angesichts der langsam erschlaffenden Gesichtsmuskeln völlig egal war, ob ich durch die Auswahl an der Erhaltung der mitteleuropäischen Hochkultur teilhabe oder nicht :

1. Uwe Johnson: Jahrestage (und zwar nicht in meiner vierbändigen, sondern in der auch verfügaberen einbändigen Ausgabe! Werde ich mir für den Fall der Fälle auf jeden Fall noch besorgen und an promineter Stelle zum schnellen Einpacken bereit halten:-) ),

weil hier die Erinnerung an die politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen von über 50 Jahren lebendig bleibt.

2. Max Frisch: Gesammelte Werke, Bd 4, auch wegen Homo faber,

weil so die Erinnerung an mythos und logos sowie ihr Wirken erhalten bleibt.

3. Kathrin Schmidt: Du stirbst nicht,

weil hier nachzulesen ist, dass es sich auch in apokalyptischen Zeiten lohnt zu kämpfen.

Das ist also das Ergebnis meiner sanft narkotisierten Grübeleien.

Nun bitte ich noch, das ist die letzte Regel, nämlich zwei weitere Mitstreiter zu benennen, Anna von buchpost und Jacqueline von masuko13 mitzuhelfen, unsere Literaturauswahl nach der Apokalypse zu bereichern.

Die Sonntagsleserin: KW # 14 2014

Sonntagsleserin_2Die Bücherphilosophin hat die Idee gehabt, mittlerweile berichten immer mehr Blogger in ihren allwöchentlich-sonntäglichen Rückschauen über die besonderen Blogleseerlebnisse der vergangenen Woche. Bei der Bücherphilosophin findet ihr auch eine Liste der anderen Sonntagsleser, bei denen es immer vieles zu entdecken gibt.

In dieser Woche habe ich viele Blogbeiträge zum Thema Reisen und Literatur gefunden. Angestoßen wurde dieser Blick zum einen von Wolfgangs Vorstellung eines Essays zum Thema Reisen und Lesen, speist sich zum anderen aber bestimmt auch aus meiner Vorfreude auf die Freiheiten, die die die kommenden Ostertage uns bescheren, und hat natürlich auch etwas zu tun mit meinem immer interessierten Blick auf die vielen Reisen in entfernte Gefilde oder zu besonderen Ereignissen in der Nähe, die ich beim Lesen der Romane erleben kann.

Die Initialzündung meiner Blogperspektive in dieser Woche ist aber Wolfgangs Beitrag über seine Lektüre von Petras Essay (ja, es ist Petra von phileablog!) „Ganz weit weg. Leselust und Reisefieber“ gewesen. In ihrem Text skizziere Petra „in elegantem Plauderton“ die ähnlichen Beweggründe, die zum Reisen sowie zum Lesen verleiten, sie erkläre, ob man sich auf Lektüren vorbereiten müsse wie auf die Erkundung fremder Landstriche und Menschen und zeige, dass es manchmal auch sehr schöne Reisen zu Hause gebe.

Und schon reiste ich beim Lesen von flattersatz´ Blog nach Damaskus und folgte einem vierzehn-jährigen Jungen in die Altstadt, in das alte Viertel, „in dem noch Lehrhäuser stehen, die Kinder ohne Sorge vor dem Verkehr auf der Straße spielen können und das Leben noch weitgehend in einem althergebrachten Rhythmus verläuft“. Diese scheinbare Ruhe ändere sich dann in den nächsten Monaten aber und so könne der Leser auch die politischen Verhältnisse Syriens und weitere Umbrüche des normalen Lebens beim Lesen miterleben. Flattersatz jedenfalls empfiehlt uns Rafik Schamis Jugendroman „Eine Hand voller Sterne“.

Leopods Literarische Landkarte entführt uns mit zu Antoine des Saint-Exuperys „Nachtflug“ über Südamerika. Mit der Karte bebildert er wieder einmal sehr anschaulich die Flugrouten der Postflugzeuge, des „Patagonien-Fliegers, des „Chile-Fliegers“, des „Paraguay-Fliegers“, die hier in den 1930er Jahren wegen der Konkurrenz zu Schiffen und Eisenbahnen pünktlich sein müssen. Die wenn auch spannende Geschichte lässt Leo aber wegen des problematischen Umgangs von Piloten und Flugkoordinatoren mit ihrer Verantwortung „ratlos zurück“, es bleibt aber der Blick auf die Anfänge der globalen Postverkehrs und die Entwicklung der Schnelligkeit.

Tobias bricht mit Jonathan Lethems Roman „Der Garten der Dissidenten“ auf nach New York, genauer in die Gartenstadt Sunnyside Gardens in Queens/ New York sowie nach Manhatten. Durch seine Reise in der Literatur erlebt er dabei mit der Familie Zimmer sowohl die kommunistischen Zirkel der 1930 Jahre wie auch die Kultur der Beatniks in den 1960er Jahre und die Occupy-Bewegung der Gegenwart.

Anna entführt uns mit Sylvain Tesson zum Baikalsee und erzählt uns nach ihrer Lektüren-Reise, wie es sich lebt in einer einsamen Hütte „In den Wäldern Sibiriens“. Tesson beschreibe in seinem „Tagebuch aus der Einsamkeit“ seine sechs Monate dort, seine Wanderungen, sein abgeschiedenes und bei den extremen Temperaturen sicher auch nicht immer einfaches Leben. Er habe vor allem auch eine große Kiste Büchern mitgebracht, die er nun lese und über deren Lektüre er in seinem Tagebuch berichte und uns nun als Leser aufzeige, wie gut es zusammengehen kann, das Reisen und das Lesen.

Maren denkt in ihrem Beitrag „Träume der anderen“ über eine ganz besondere Art des Reisens nach. Sie berichtet von Menschen, die eine große Reise unternehmen, stellvertretend für einen geliebten Menschen, der sich seinen Traum nun nicht mehr verwirklichen kann.

Und mit Eva können wir nach Rom reisen, eine Möwe auf der Engelsbrücke bewundern, den legendären Fiat Bambino begucken und schauen, wo überall der Frühling in die ewige Stadt einzieht.

Und da in der letzten Woche Linus einen Lieblingsbeitrag vorstellen durfte, möchte Felix das in dieser Woche gerne tun. Er empiehlt eine Reise in den Herbst, denn nur dann gebe es so viel Spaß mit Laubhügel, wie er in diesem Video nicht leid wird zu gucken. Das hat er wohl auf Maras Facebook-Seite gefunden (und bitte an der blöden Werbung vorbeigucken!).

Ich wünsche Euch wieder schöne Lesereisen – mit hoffentlich frühlingshaftem Wetter.

Kim Thúy: Der Geschmack der Sehnsucht

ThuyHeimat bezeichnet, dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend, zu allererst einen Ort, der mit seiner räumlichen Umgebung als Haus, Dorf oder Stadt, Landschaft, als Region oder gar Land, den Menschen eine Orientierung gibt, einen Halt, auch ein Stück Identität. Aber es ist nicht der Raum alleine, der Sicherheit und Geborgenheit gibt, es ist die Familie und es sind die Menschen, die uns umgeben, es sind die gemeinsamen Rituale und Gewohnheiten, die Sprache mit ihren auch lokalen Besonderheiten, es sind die Geschichten, die erzählt werden, es ist das Sonnenlicht, der Wind, die Temperatur des Regens, es sind die Gerüche, die Geräusche, es ist der Geschmack des Essens, mithin die Gefühle, die wir auch mit Heimat assoziieren. Manchmal führt schon der Umzug in einen anderen Stadtteil, in die nächste Gemeinde dazu, dass wir uns nicht mehr aufgehoben, nicht mehr heimisch, fühlen, manchmal kommt uns sogar im eigenen Haus die Sicherheit, die Orientierung und der Halt abhanden – wir fühlen uns fremd in den eigenen vier Wänden.

Von Heimatverlust, von Entwurzelung, von Exil erzählt Kim Thúy auch in ihrem zweiten Roman. Sie selbst musste mit ihren Eltern als Boat people aus Vietnam fliehen, als sie zehn Jahre alt war. Nach Wochen in Flüchtlingslagern hat die Familie in Montreal ein neues Zuhause gefunden – vielleicht auch eine Heimat. Schon in ihrem ersten Roman „Der Klang der Fremde“ hat Kim Thúy über die Flucht, den Verlust des alten Lebens, das Überleben in den Flüchtlingslagern und das Ankommen in einem neuen Land, in dem die Ankommenden am unteren Ende der sozialen Leiter ganz neu beginnen müssen, durchaus biografisch erzählt. Und nun erzählt sie uns die Geschichte von Mãn, die nach Kanada verheiratet wird, viel mehr noch als über den räumlichen Heimatverlust aber an einer inneren Entwurzelung leidet.

Mãn lebt bei Nhãn, die nicht ihre leibliche Mutter ist, sondern sogar ihre dritte Mutter. Die leibliche Mutter nämlich, wahrscheinlich bei Mãns Geburt noch sehr jung, ist erschossen worden, wahrscheinlich, weil der Vater des Kindes ein westlicher „Kolonialist“ war, denn Mãn ist viel größer als andere Vietnamesen, sie hat eine porzellanfarbene Haut und rote Lippen. Eine Nonne hat das Kind gefunden und versorgt, später hat Nhãn sich des Kindes angenommen. Nhãn selbst hat auch schon mehrfach Sicherheit, Geborgenheit und Halt verloren, ist sozusagen heimatlos in ihrer gewohnten Umgebung. Sie lebte als Tochter eines vietnamesischen Beamten gut behütet bis sie nach dem ihrer Mutter und der zweiten Heirat ihres Vaters eine Stiefmutter bekommt. Im Französischen, so erzählt Mãn uns später, werde die Stiefmutter „Belle-Maman“ genannt, im Vietnamesischen aber Mẹ Ghẻ, kalte Mutter. Und diese Bezeichnungen verraten, wie sich Nhãns Stiefmutter verhält, nämlich genauso grausam und herabwürdigend, wie wir es den Märchen der Brüder Grimm kennen. Nhãn rettet ein Buch aus der Bibliothek ihrer Mutter, Guy de Maupassant „Leben“, und bewahrt es in einer Keksdose auf, die sie im Garten am Mangobaum vergräbt, um immer wieder darin lesen zu können, das Buch also al ein Stück Erinnerung an die Mutter, ein Stück Flucht in freien Minuten, ein Stück Heimat und Geborgenheit.

Auch Vietnam selbst scheint ein Land ohne Orientierung, ohne Identität zu sein, denn „das herrschende Regime“ sieht keinen Widerspruch darin, „Kinder mit Schlitzaugen (…) [zu lehren], „unsere Ahnen, die Gallier“, zu sagen.“ Als es zum Umsturz kommt und die Unabhängigkeit gefordert wird, gemeint ist hier wohl die Tet-Offensive des Vietcong, muss Nhãn ihre Wurzeln, ihre Familienzugehörigkeit, ihre Herkunft ganz und gar verleugnen, um überleben zu können. Sie sucht sich einen neuen Namen – Nhãn, was Geduld bedeutet – und lebt nun in den Dörfern der Revolutionäre, findet sich in ihrem neuen Leben zurecht, indem sie Vorträge hält über „Patriotismus, Mut, Unabhängigkeit, Kolonialismus und Opfer“, wird zur Spionin für den Widerstand. Und sie nimmt Mãn auf, der sie sehr liebevoll erklärt, warum sie so anders aussehe, nämlich dass sie sie während des Mittagsschlafes mit dem durchsichtigen Teig von Reismehlpfannkuchen bedecke, so

dass ihre Haut schimmere wie Schnee und leuchte wie Porzellan. Und wie die Lotusblüte ihren Duft trotz des Gestanks der Sümpfe bewahrten, dürfe ich niemals zulassen, dass Frechheit diese Reinheit beflecke.
Mama kannte auch das Geheimnis, die Nase wachsen zu lassen. Asiatische Frauen versuchen, ihr Nasenbein durch Silikonimplantate zu verlängern, während Mama nur jeden Morgen neunmal sanft an meiner Nase ziehen musste, um sie zu verwestlichen. Deshalb heiße ich Mãn, das bedeutet „vollkommen zufrieden“ oder „dass nichts mehr zu wünschen übrig bleibt“ oder „dass alle Bitten erhört werden“. Mehr kann man nicht verlangen, denn mein Name zwingt mich zu Zufriedenheit und wunschlosem Glücklichsein. Im Gegensatz zu Guy des Maupassants Jeanne, die davon träumte, sich nach dem Kloster in alle Freuden des Lebens zu stürzen, bin ich ohne Träume aufgewachsen. (S. 31)

Mit dieser Haltung geht Mãn alle Situationen ihres Lebens an – und hat, ganz passend zum Namen, immer wieder unwahrscheinliches, fast märchenhaftes Glück im Unglück: In einer arrangierten Ehe heiratet sie nach Kanada, dort arbeitet sie in der kleinen Suppenküche ihres Mannes und erkennt alle seine Wünsche, noch bevor er sie gedacht hat; sie will ihm und seiner Familie für ihre Aufnahme dankbar sein. Statt zu hadern überlegt sie in ihrer Küche, ihrem neuen, ihrem einzigen Lebensraum, was sie den Restaurantgästen, meistens allein stehenden Vietnamesen, die ein paar Mal in der Woche vorbeikommen, Gutes tun könne, um ihr Heimweh zu stillen, und so fängt an, die Speisenkarte zu erweitern und verschiedene vietnamesische Spezialitäten zu kochen, um den Gästen „den Geschmack der Sehnsucht“ zu servieren.

Ihre Idee ist so erfolgreich, dass sie die Anzahl der Gäste bald nicht mehr alleine bewältigen kann. Julie ist eine ihrer Gäste und so begeistert von ihren Kochkünsten, dass sie ihr ein Kochatelier einrichtet, sie mitnimmt zu einer Tour nach New York, um dort in Rezeptbüchern nach neuen Ideen zu suchen, sie motiviert, ein vietnamesisches Kochbuch herauszugeben, dass, auch wegen der vielen Heimat- und Exilgeschichten, die darin zusammengetragen werden, so erfolgreich wird, dass Mãn auch nach Frankreich eingeladen wird – und dort die große Liebe kennenlernt, ein Gefühl, dass sie noch nie erlebt hat.

Kim Thúy erzählt hier wieder eine nur auf den ersten Blick knappe Geschichte, in der sie verschiedene Facetten der Heimatlosigkeit beschreibt. Sie versteht es auf ganz besondere Art und Weise, die Brüche und Entbehrungen, die Grausamkeiten im Leben ihrer Figuren zwar knapp, fast beiläufig zu erzählen, aber doch so, dass sie beim Leser eine große Wirkung erzeugen. Knappheit, Leerstellen und assoziative Ablenkungen im Erzählstrang sorgen so beim Leser, dank seiner eigenen Fantasie, für eindringliche Bilder, die besonders erschreckend wirken, weil sie ja offensichtlich unaussprechbar, unerzählbar sind. Ablenkungen und Fluchten wiederum verweisen auch auf die Befindlichkeit Mãns, die immer dann in andere Welten abtaucht, wenn sie den Blick auf die Gegenwart nicht ertragen kann. Für sie ist es die Welt des Kochens, die Hilfe und Erleichterung verschafft, der Geschmack der Kindheit sozusagen als Fluchtraum; es ist die Sprache, die Mãn so genau betrachtet, um sich mit ihrer Hilfe die manchmal unverständlichen Handlungen der Menschen zu erschließen; und es ist die Literatur, die hilft, Bezüge zur Realität aufzustellen, sowie die Geschichten der Mutter und die Träume, die helfen können und Orientierung geben.

Erstaunlich – und erschreckend zugleich – aber ist, dass Mãn, mit einer Ausnahme, nie über Gefühle spricht, dass ihr Lebensmotto, so hilfreich es möglicherweise in vielen Situationen ist, auch lebensfeindlich werden kann. Zum Schluss ihrer Geschichte entdeckt sie die Welt der Gefühle und der Berührungen, dann beginnt sie auch, ihre Vergangenheit klarer reflektieren zu können. Fraglich ist, ob diese Lebenshaltung aus der spezifischen Geschichte Mãns und Nhãn entstanden ist, aus ihrem Verlust der Heimat, der Sicherheit, der Geborgenheit, oder vielleicht auch auf das deutlich nach dem Senioritätsprinzip strukturierte Gesellschaftssystems Vietnams verweist:

Mama hat mich sehr früh gelehrt, Konflikten auszuweichen, zu atmen, ohne zu existieren, und mit der Umgebung zu verschmelzen. Diese Lehre war entscheidend für mein Überleben, denn manchmal war Mama in irgendeiner Mission unterwegs. (…) Während ihrer Abwesenheit gab sie mich zu Leuten, die sie kannte und die den Befehl hatten, auf mich aufzupassen. Ich lernte schnell, unsichtbar und nützlich zu sein, um vergessen zu werden, um mir von niemandem Vorwürfe machen zu lassen, um unerreichbar zu sein. (S. 100)

Kim Thúy also erzählt uns hier eine kleine, leise Geschichte von Heimatlosigkeit und den – meistens, aber auch nicht immer – glücklichen Versuchen, Halt, Orientierung und Identität zu finden.

Kim Thúy (2014): Der Geschmack der Sehnsucht, München, Verlag Antje Kunstmann

Die Sonntagsleserin: KW # 13 2014

Sonntagsleserin_2Die Bücherphilosophin hat die Idee gehabt, mittlerweile berichten immer mehr Blogger in ihren allwöchentlich-sonntäglichen Rückschauen über die besonderen Blogleseerlebnisse der vergangenen Woche. Bei der Bücherphilosophin findet ihr auch eine Liste der anderen Sonntagsleser, bei denen es immer vieles zu entdecken gibt.

In dieser Woche stand meine Bloglektüre ganz unter dem Thema der Geschichte – der wissenschaft-lichen Analyse sowie auch des Suchens und Erinnerns an die eigenen Familiengeschichte oder die erinnerten Geschichten anderer Menschen.

Uwe stellt uns Christopher Clarks „Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ vor, ein Buch seiner Leseliste zum Gedenkjahr 2014. Vier Monate, so schreibt er, habe er mit der „brillanten“ Analyse verbracht und hierbei die verschiedenen Ansatzpunkte, so beispielsweise die Interessenlage der verschiedenen involvierten Staaten, aber durchaus auch die Animositäten einzelner Politiker, für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs nachvollzogen, die Clark akribisch recherchiert und in seinem Werk zusammengetragen habe. Schon alleine die Lektüre Uwes Besprechung zeigt die Komplexität der „Schlafwandler“ auf.

Birgit erinnert auf ihrem Blog gleich an zwei Menschen. Zum einen zeichnet sie in ihrem Beitrag über Elfriede Lohse-Wächtler den Leidensweg der psychisch erkrankten Malerin in von Zwangs-sterilisation und Euthanasie gekennzeichneten Nazi-Psychiatrie wieder. Und sie stellt den Reporter Albert Londres mit seinen fast schon literarischen Reportagen vor, die uns Einblicke geben in das Leben in China und in Palästina in den 1920er Jahren, aber auch berichten vom ersten Dopingfall bei der Tour de France.

Kai hat, inspiriert durch Heike Pohls Blog und ihre Geschichten über ihre „Oma Duisburg“, über seine „Oma Berlin“ nachgedacht und zusätzlich in  alte Texte recherchiert. So erhält er mit seinem Blogbeitrag über die Großnmutter die Erinnerung der eigenen Familiengeschichte lebendig – toll zum Beispiel die Anekdote mit der BILD-Zeitung, die er der Oma am Büdchen gekauft habe, eine Geschichte, die es wohl von vielen Omas zu erzählen gibt.

Flattersatz hat Katja Petrowskajas Roman „Vielleicht Esther“ gelesen. Petrowskaja, die in Kiew geboren ist, in Estland studiert und in Moskau promoviert hat und nun in Berlin lebt, sei auch auf der Suche nach der Geschichte ihrer Familie gewesen, einer jüdischen Familie, die nie sonderlich religiös gelebt habe, deren Familienmitglieder über die Generationen hinweg als Taubstummenlehrer gearbeitet und die schließlich auch in das Getriebewerk des Holocausts geraten sei. Diese Suche, so beschreibe es die Autorin selbst, sei ihr zur Sucht geworden, die Ausgangsfrage irgendwann völlig belanglos und vergessen. Flattersatz beurteilt die Lektüre als „nicht einfach“, sie fordere Aufmerksamkeit, sei aber, auch wegen der sprachlichen Gestaltung, eines sehr lohnenswerte Lektüre.

Das Erinnern und Festhalten hat Sabine sich zur Aufgabe ihres Blog gemacht. Sie lebt in Jerusalem und betreut dort Holocaustüberlebende. Über die kleinen und großen Geschichten, die sie dort erzählt bekommt, über die Erlebnisse die sie gemeinsam mit den von ihr betreuten Menschen hat, darüber hat sie gerade begonnen, auf ihrem Blog zu schreiben.

Zum Schluss, so hat mir Linus , den ihr ja auch auf dem Sonntagsleserinnenbild schlafend seht, mit vor Aufregung zwinkernden Augen aufgegeben, soll ich unbedingt auf Lotta-Filipas Blog hinweisen. Linus liest ihn mit großer Begeisterung, würde eigentlich gerne alle Beiträge empfehlen und meint, darauf hingewiesen, dass in diesem Wochenrückblick auf diesem Blog Hundeblogs nichts verloren haben, dass  aber gerade der Beitrag über die Redewendungen, die Menschen gerne benutzen und in denen immer wieder ein Hund vorkomme, doch eine Bereicherung für alle Buch- und Sprachliebhaber sei, sodass ich bitte wenigstens diesen Beitrag weiter empfehlen solle. Das habe ich nun getan.

Eine wunderschöne Bloglesewoche und viele gute Erinnerungen wünscht ich Euch.

Aus Holst Garn Cocoa wird Breckon

BreckonWegen des ja  nun sich mit ungewöhnlicher Schnelle nähernden Frühling ist meine Wollwahl für eine neue Strickerei wieder einmal auf das sommelrich leichte Coast Garn von Holst gefallen (halb Merino, halb Baumwolle). Die Farbe Cocoa, ein erdig meliertes violett (ist doch klar, was ich meine, oder? – das untere Bild zeigt die wirkliche Farbe am besten), lag noch im stash („Geheimversteck“ als Übersetzung finde ich in diesem Fall viel passender als „Lager“, denn ähnlich dem riesigen Stapel der ungelesenen Bücher beginne ich mich langsam auch für meine emsig zusammengetragenen Wollvorräte zu schämen).

Passend zum sommerlichen Garn mit sommerlicher Farbe sollten es auch ein sommerliches Muster sowie möglichst auch eine sommerlich lockere Form für eine Jacke werden, und so fiel mein begehrlicher Blick auf das Modell „Breckon„, mal wieder von den Designern von Brooklyn Tweed.

Also mutig angeschlagen, nach dem breiten Bündchen das Muster eingeteilt und schon konnt ich – fast – ohne weiteres Nachdenken vor mich hinnadeln, denn die drei Muster sind so einfach, dass man sie schnell auswendig kennt. Das finde ich jetzt ziemlich gut, denn momentan liebe ich „mindless  knitting“  (zu viele Anleitungen auf englisch schädigen offensichtlich den Sprachgebrauch des Deutschen nachhaltig 🙂 ). Es werden kleine Zöpfe mit einem einfachen Lochmuster sowie einem rechts-, links-Muster kombiniert, das strickt sich trotz allem abwechslungsreich und motiviert, es wachsen zu sehen. Und das Lochmuster führt zu netten kleinen Wellen bei den rechten Maschen, ansonsten wirkt es eher unruhig.

Jedenfalls habe ich schon ein ganz schönes Stück erstrickt, viel schneller und leichter als es mir der dunklen und auch dickeren Yak von der Hand ging.

Breckon_2

Breckon_1

 

 

 

 

 

Ulrike Draesner: Sieben Sprünge vom Rand der Welt

Draesner_SprüngeDie Stimme der Großmutter Lilly habe sie zuerst gehört, so berichtet Ulrike Draesner in ihrem Werkstattessay  zum Roman. Plötzlich sei sie da gewesen, die Großmutterstimme, und habe von der Vertreibung aus Oels erzählt, ohne Punkt und Komma, atemlos immer wieder, wenn sie die Bilder der Erinnerung kaum ertragen konn-te. Schnell habe sie notiert, was Lilly zu erzählen hatte, obwohl sie doch eigentlich an einem ganz anderen Roman arbeitete und obwohl ihr doch die Idee, die eigene Familiengeschichte in einem Roman zu verarbeiten auch immer als viel „zu nah“ erschienen war. Aber die Stimme der Großmut-ter und ihre zu Lebzeiten nie erzählte Geschichte ließ Ulrike Draesner nicht mehr los. Vielleicht war nun auch, 60 Jahre nach Kriegsende, endlich die Zeit gekommen, diese Geschichten zu erzählen. Die Autorin begann zu recherchieren, reiste nach Breslau und traf Vertriebene aus Ostpolen, die, da diese Gebiete nun zur Ukraine gehörten, von dort vertrieben wurden, in Breslau in die verlassenen Wohnungen der Deutschen einzogen und sich in dieser Umgebung entwurzelt und fremd fühlten, wie die Breslauer in Deutschland. Da, so berichtet Ulrike Draesner, habe sie die Konzeption für ihren Familienroman gefunden: verschiedene Figuren unterschiedlicher Generationen zweier ver-triebener Familien sollten ihre Erlebnisse und Geschichten erzählen, sodass erkennbar werde, wie die Traumata von Krieg und Flucht sich über die Generationen in das Bewusstsein einschreibe, jede neue Generation wieder neu betreffe, obwohl die Ereignisse doch so lange zurückliegen.

Und damit erzählt Ulrike Draesner am Beispiel der Familien Grolmann und Nienalt das Schicksal von Millionen Menschen, die nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs aus ihrer Heimat vertrie-ben werden. Manchmal wird die Vertreibung „Evakuierung“ genannt, mal auch „Repatriierung“, ein Begriff der die Tatsachen besonders falsch darstellt, weil die Vertriebenen ja gerade nicht in eine Heimat zurückkehren, denn sie haben viele Generationen lang dort gelebt, wo sie nun nicht mehr geduldet, wo gar gewalttätige Übergriffe zu erwarten sind [1]. Statt Repatriierung und Heimkehr haben die Menschen also nicht nur Kriegserlebnisse zu verarbeiten, sondern nun auch noch einen Zusammenbruch des normalen Alltags, gefährliche und entbehrungsreiche Fluchten, Verlust von Familienmitgliedern und Freunden, den Verlust der gewohnten Umgebung, des Eingebundenseins, der lieb gewonnen (Familien-)Rituale. Was den Menschen auf ihren Wegen passiert, wie die Flucht die Menschen verändert, dieser Ausnahmezustand, in dem übliche Werte und Moral nichts mehr gelten, in dem die Erlebnisse so unglaublich sind, dass die Worte fehlen, sie zu erzählen, ja, was Flucht aus den Menschen macht, davon erzählt Ulrike Draesners beeindruckender Roman über zwei Familien.
24 Stunden Zeit habe sie, so hört Lilly aus dem Megafon des Wagens, der durch die Straßen von Oels fährt, um ihre Flucht vorzubereiten. Seit Wochen schon beobachtet sie, wie die Flüchtlinge aus Ostpreußen, die dick vermummten Frauen und die mageren Pferde, durch Oels kommen. Sie ma-chen ihr Angst und sie meidet ihre Blicke, fürchtet sich davor, von ihnen „angesteckt“ zu werden. Nun muss sie selbst packen und drei Pappkoffer füllen für sich, für den 14-jährigen Eustachius und den 23-jährigen Emil mit dem verkrüppelten Fuß. Später kann sie sich nicht mehr erinnern an diesen Tag.

der letzte Tag vor der Flucht, der letzte Tag zuhause, vollkommen
vergessen
nichts aufgehoben, nichts in Erinnerung behalten, Lilly, kein Vorgefühl
so stumpf
das graue Mittagslicht, Januar, kahle Äste, langsam, langsam das Wiedererwachen der Sonne (…). (S. 199)

Schon bevor sie überhaupt losgeht, zum letzten Mal die Türe absperrt, den Schlüssel wie üblich versteckt, damit Hannes, wenn er aus dem Krieg heimkommt, ihn finden und aufschließen kann, wird sie selbst die üblichen Normen und Werte verletzen, wird selbst den Alltag auf den Kopf stellen, wird selbst schuldig an Eustachius. Weil sie nämlich den Familiendackel Max, der nicht zurückgelassen werden soll, aber auch nicht mitgenommen werden kann, nicht selbst töten will, befiehlt sie ihrem Sohn Eustachius, ihn zum Metzger zu bringen. Eustachius gehorcht, dieses eine Mal noch. Später, die Familie hat sich nach der Flucht in Bayern wieder gefunden, erzählt er seinem Vater Hannes davon, mit großen Vorwürfen, sich dem Befehl der Mutter, dieser „als Verantwortung getarnten Feigheit und Ideenlosigkeit“ nicht entzogen zu haben, es gebe alternative Handlungen – und sicher meint er damit auch die Tat, der er sich schuldig gemacht hat auf der Flucht, die Entscheidung, die er in Anlehnung an die Entscheidung der Mutter getroffen hat und über die er erst am Ende seines Lebens sprechen kann.

Draesners Figuren entkommen Krieg und Vertreibung alle mit starken Deformationen ihrer Persön-lichkeit. Sie verschließen sich, werden immer einsamer, denn jeder bleibt mit seinen Erinnerungen alleine, jeder auch mit seiner Schuld, und manchmal wissen sie nicht einmal mehr, ob ihre Erinne-rung auch das selbst Erlebte, „das Eigenste“ ist, oder nur etwas Angelesenes: Lilly, die sich nicht mehr erinnern kann an ihren letzten Tag zu Hause und die so hart und entschlossen geworden ist, dass sie sich gegen jeden Angriff mit Gewalt zur Wehr setzt; Hannes, ihr Mann, der in seinem Leben nie mehr von seinen vielen Kriegserlebnissen loskommt, der sich manchmal sogar zurücksehnt in die Schlacht, weil er an der Front „die Augenblicke größter Ausgesetztheit und größter Geborgenheit“ erlebt hat, der aber über all seine Erlebnisse, über sein Täter-Sein und sein Opfer-Sein, schweigt und sich in der neuen Heimat Bayern und seiner Arbeit bei der Bank nur minderwer-tig fühlt: „angestellt, halbstattlich, ein kleines Licht“; Eustachius, viel zu früh erwachsen geworden, geht seinen Weg, zielstrebig und wortkarg. Er arbeitet tagsüber auf Baustellen, geht abends zur Schule, um das Abitur zu machen, denn er will Forscher werden, will forschen, wie es zum freien Willen der Menschen kommt, will sich dieses Themas mit Hilfe der Affen annehmen, der Spezies, die dem Menschen doch so ähnlich ist: „Sie könne man nicht manipulieren“ behauptet er seinem Vater gegenüber, „nicht wie uns. Nicht zum Töten von Artgenossen animieren.“

Ulrike Draesner hat alle ihre Figuren mit eigenen Stimmen versehen; die von Hannes erzählt gefasst, fast distanziert, was sie wohl vorher noch nie erzählt hat; Lillys Stimme dagegen scheint sich zu überschlagen, wenn ihr selbst die Erinnerung so unglaublich, so irreal vorkommt, dass die Ge-schichte sich einer chronologischen, dem üblichen Satzbau folgenden Erzählung verschließt; Halka Nienants Stimme dagegen, wird immer fester, wenn sie davon erzählt, wie sie sich im Nach-kriegschaos Breslaus ein eigenes Leben, eine Familie, eine Zukunft aufbaut. Und dann gibt es noch Simone, Eustachius Tochter, auch eine Affenforscherin, und Boris, Psychologe und Sohn Halkas, beides Kriegsenkel also, beide in den 1960er Jahren geboren in eine friedliche Umgebung, beide aber getroffen durch die Vertreibungs-Verletzungen ihrer Eltern, die sich nun kennen und lieben lernen.

Stichpunkte dazu, in welch luft-, genauer erdleerem Raum sich die ersten, einer Vertreibung nach-folgenden Generationen befanden, welchen Ängsten, Verletzungen, Einschränkungen sie sich aus-gesetzt sahen. Welcher Einsamkeit. Ich erzählte Simone von den amerikanischen Forschungen zu „postmemory“ und „co-witnessing“, zur Übernahme von Gefühlen für jene, die nicht mehr fühlen konnten, führte Eva Hoffmanns Begriff der „broken refrains“ an, der sehr genau den zerscherbten Sirenengesang der emotionalen Wiederkehr traumatisierender Erlebnisse bei Töchtern, Söhnen und Enkeln fasse. (S. 130)

Es sind beeindruckende Stimmen, die beeindruckende Erlebnisse zu erzählen haben, immer aus ihrer ganz persönlichen Perspektive, nie larmoyant, nie das eigene Leid mit dem der anderen ver-gleichend, manchmal, gerade in der Generation der Enkel, durchaus auch selbstkritisch und selbst-ironisch. Im Kanon dieser Stimmen ist Eustachius die Hauptstimme, denn er ist, über 80-jährig mittlerweile, immer noch besessen von seiner Forschung. Alle Forschungsphasen hat er seit den 1950er Jahren mitgemacht, nun soll die systemische Forschung neue Aufschlüsse bringen. Aus seiner Geschichte heraus ist sein Forschungsdrang vielleicht nachvollziehbar, für den Leser ist sein Einfluss auf alle anderen Figuren, die er mit seinen Forschereskapaden bis zu seiner Enkelin ordent-lich aufmischt, manchmal zu dominant.

Wie Krieg und Vertreibung wirken bei denen, die diese Situationen erlebt haben, aber auch bei ihren Kindern und Kindeskindern – das hat Ulrike Draesner in ihrem Roman sehr beeindruckend und lange nachwirkend beschrieben. Sie hat Figuren erfunden und lässt sie erzählen, was passiert ist und wie die Traumata jahrzehntelang nachwirken. Die Figuren werden beim Lesen lebendig und hinterlassen ihre intensiven Spuren in der Erinnerung der Leser – auch derjenigen Leser, die diese (Familien-)Erinnerungen nicht haben. So bleibt ein Bewusstsein erhalten zu einem Thema, das mit Blick auf die europäische Geschichte – und sicherlich auch vor dem Hintergrund des Holocausts – bisher in der Literatur nicht oft aufgegriffen worden ist, aber einen ganz wichtigen Beitrag zum Verständnis unseres Blicks in die Welt liefert („deutsche Angst“). Und ein Blick auf die Krisenherde der Welt zeigt, dass dieses Thema ein ganz aktuelles und damit auch zukünftiges ist [2].

Anmerkungen:
[1] Sabrina Janesch hat die Geschichte der Vertreibungen in ihrem Roman „Katzenberg“ auch schon thematisiert und dabei beeindruckend erzählt, wie Dorfbewohner unterschiedlicher Nationalitäten, die gut zusammengelebt, sich gegenseitig unterstützt und geholfen haben, die Geburt von Kindern gemeinsam „begossen“ und den Tod von Familienmitgliedern gemeinsam betrauert haben, nun plötzlich so gewaltsam aufeinender losgehen, dass das Leben der polnischen Bevölkerung gefährdet ist, wenn sie nicht Hals über Kopf flieht – um sich dann dort anzusiedeln, wo die Häuser nach der Flucht der deutschen Bevölkerung nun leer stehen.

[2] In ihrem Essay zeigt Carolin Emcke auf, warum es so schwer ist, von Krieg und Gewalt, Folter und Vertreibung zu erzählen. Die Gründe dafür, die sie hier auf der Grundlage vieler Gespräche mit Betroffenen in Krisengebieten darlegt, beleuchten auch die Hintergründe der Figuren in Ulrike Draesners Roman.

weitere Links:
Weitere Besprechungen findet Ihr bei Tilman  und Sophie.

Die Autorin hat eine eigene Homepage zum Buch, auf der sie ihren Essay veröffentlich hat sowie weitere Materialien.

Ulrike Draesner (2014): Sieben Sprünge vom Rand der Welt, München

Die Sonntagsleserin: KW # 11 2014

Sonntagsleserin_2Die Bücherphilosophin hat die Idee gehabt, mittlerweile berichten immer mehr Blogger in ihren allwöchentlich-sonntäglichen Rückschauen über die besonderen Blogleseerlebnisse der vergangenen Woche. Bei der Bücherphilosophin findet ihr auch eine Liste der anderen Sonntagsleser, bei denen es immer vieles zu entdecken gibt.

In dieser Woche haben mich wieder besonders Berichte über Veranstaltungen, Interviews und natürlich die Leipziger Buchmesse neugierig gemacht:

Caterina bloggt immer noch mit höchst lesenswerten Artikeln vom Literarfestival lesen.höeren aus Mannheim. Zum einen berichtet sie uns über die Lesung Roger Willemsens, in der er sein neues Buch „Das hohe Haus“ vorstellt, so lebendig und anschaulich, dass man sofort Lust auf dieses Buch bekommt – auch wenn „Lust“ wohl angesichts dessen, was Willemsen da über die von uns gewählten Vertreter berichtet, nicht das richtige Wort zu sein scheint. Und dann erzählt Caterina noch von der Mannheimer Abschlussveranstaltung, bei der vier „professionelle“ Leser mit ganz viel Engagement – und manchmal auch Lust zur Debatte – acht Lieblingsbücher vorstellen.

Masuko berichtet über die Lesung mit dem kanadischen Autor Ryad Assani-Razaki, dessen Roman „Iman“ sie schon zu Beginn des Jahres gelesen habe, so dass sie nun neugierig auf den Autor gewesen sei. Und der habe dann auch erzählt, wie es sich lebt in seiner Heimat Benin, warum die Menschen nach Europa fliehen und unter welchen Bedingungen die Kinder dort leben.

Mara hat wieder eines ihrer feinen Interviews geführt, dieses mal mit Ursula Gräfe, die ich kannte von Übersetzungen aus dem Englischen, die aber auch japanische Romane ins Deutsche überträgt,  so den gerade aktuellen Roman Haruki Murakamis „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“. Sehr lesenswert ist, wie sie über die Besonderheiten der verschiedenen Sprachen berichtet und die größeren und kleineren Anforderungen an eine Übersetzung.

Die Bücherphilosophin beschäftigt sich mit der Frage, auch wenn es ihr als gewiefter Leserin kaum noch passiere, ein Buch ausgewählt zu haben, dem sie so gar nichts abgewinnen kann, ob es dann  erlaubt sei, eine Lektüre vor dem Ende abzubrechen und wie dann mit dem doch schlechten Gewissen zu verfahren sei.

Und auch die ersten Berichte von der Leipziger Buchmesse erscheinen dieser Tage. So wirft Sophie einen kritischen Blick auf das Jäger-und-Sammler-Verhalten einiger Messebesucher und skizziert das aus diesem Grund verständliche abwehrende und manchmal auch sehr abwertende Verhalten an einigen Ständen.

Und dann gab es natürlich auch noch einige schöne Buchvorstellungen, die große Vorfreude wecken auf schöne Romane:

Die Klappentexterin empfiehlt uns John von Düffels „Wassererzählungen“, elf Erzählungen, in denen das Wasser, das ja für den Autor ein ganz wichtiges Lebenselixier ist, eine große Rolle spielt: „Also, lasst euch hinabziehen und spürt das Wasser in all seinen unterschiedlichen Formen, bis sich eure Hände wie Schwimmhäute anfühlen und ihr atemlos wieder auftaucht.“ Ich freue mich jedenfalls schon mächtig auf meine Lektüre.

Und natürlich ist auch Sasa Stanisics Roman „Vor dem Fest“ gelesen worden, mehrfach und immer mit so viel Begeisterung, dass ich um die Lektüre wohl nicht herumkomme. Ein Besprechung findet sich bei Masuko, eine bei literatwo

Eine schöne Lesewochen wünsche ich Euch!

Anthrazitfarbene Bloody Mary aus Yak

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Endlich ist die Jacke fertig! Monate hat das Stricken gedauert, weil ich, wie der erste Anfänger, fast alles zweimal gestrickt habe, die schöne Bloody Mary von Thea Coleman.

Das kommt davon , wenn man, weil sie so lästig ist,  eine richtige Maschenprobe schludert. Und wenn dann noch das Garn natürlich überhaupt nicht zur Maschenprobe der Vorlage passt, also alles schön umgerechnet werden muss, dann hat man schon mal umfangreichere Schwierigkeiten.  Und da in diesem Muster, das ansonsten gut und leicht nachvollzuiehbar erklärt ist, eine Zeichnung des Schnittes mit Maßen fehlte, musste ich noch viel mehr rechnen, weil ich mir aus der Anleitung und den entsprechenden Zu- und Abnahmen, unter Zurhilfenahme der Maschenprobe, erst einmal den Schnitt der Jacke erschließen musste. (Gut, dass  es im Zahlenraum bis 50 mit der Rechnerei noch ganz gut klappt :-))

Nun ist sie aber, passend zu den kühleren Temperaturen dank des Tiefs Ev aus Nordwesten, fertig, gewaschen und in Form gezupft – und passt.

Die Wolle, das sagenumworbene Garn der Yaks, ist beim Stricken schon schön weich um die Finger gesaust, aber nach dem Waschen noch viieeel weicher und kuscheliger geworden und tatsächlich ganz ohne auch nur im Ansatz zu kratzen.

Besonders gut gefällt mir das doppelte Bündchen – es gibt in der Anleitung auch noch eine längere Version, bei der dann besser zu erkennen ist, dass die Jacke Anleihen der Mode aus den 1920er Jahren nimmt – , das verzopfte Muster (ganz einfach, wenn man es einmal raus hat) und der schöne weite Ausschnitt: Von mir aus kann es also gerne noch einmal kühler werden, damit das Jäckle zum Trageinsatz kommen kann :-).

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Boris Cyrulnik: Rette dich, das Leben ruft!

CyrulnikVielleicht ist es ja tatsächlich so, dass Boris Cyrulnik kein Arzt geworden wäre, kein bekannter Psychiater, kein Resilienzforscher, wenn er nicht diese besonderen Erlebnisse in seiner Kindheit gehabt hätte, die auf viele andere sicherlich eher niederdrückend, lähmend, ängstigend gewirkt hätten. Offensichtlich konnte Boris Cyrulnik auf Ressourcen zurückgreifen, so dass er trotz seiner Erlebnisse nicht verzweifeln ist, sondern seinen Weg gefunden hat, so dass er beim Blick auf seine Geschichte nicht wie Lots Frau zur Salzsäule erstarrt ist.

Solche in Krisen stärkenden Faktoren zu erforschen, hat sich die Resilienzforschung zur Aufgabe gemacht. Seit der 1950er Jahren wird erforscht, welche Kräfte Menschen helfen können, Krisensituationen zu  überstehen und welche Lehren daraus gezogen werden können, um traumatisierten Menschen zu helfen. Und in seiner Biografie erkennt Boris Cyrulnik zahlreiche Faktoren, die ihm geholfen, ihn gestärkt haben.

Geboren ist Boris Cyrulnik 1938 in Bordeaux als Sohn von jüdischen Einwanderern aus der Ukraine. Wie viele andere Juden auch bewundern sie die französische Kultur, verbinden mit ihr die Umsetzung der Menschenrechte, die Chance auf ein gutes Leben. Über den latenten Antisemitismus in Frankreich wissen sie nichts. Sie fühlen sich schnell als Franzosen und so meldet Boris´ Vater sich bei Kriegsbeginn selbstverständlich zur Armee. Er wird nach einer Verletzung aus dem Lazarett heraus nach Auschwitz deportiert. Seine Mutter gibt ihren Sohn 1942, einen Tag bevor sie selbst deportiert wird, bei der staatlichen Fürsorge ab – und rettet ihn so. Er lebt gut aufgehoben bei einer Pflegefamilie, bis ihn im Januar 1944, er ist sechseinhalb Jahre alt, spätnachts bewaffnete Männer aus seinem Bett holen und ihn mitnehmen. Seine Pflegemutter versucht noch zu verhandeln – sie würden dem Jungen nicht erzählen, dass er Jude sei, wenn er bei ihnen bleiben und überleben könne. „Diese Kinder müssen verschwinden, sonst werden sie zu Feinden Hitlers“, ist die Antwort des Soldaten.

Als einziger kann Boris Cyrulnik der Verschleppung aus der Synagoge entgehen. Er meidet die große Decke, auf der eine Frau viele Kinder versammelt, indem sie ihnen Dosenmilch mit Zucker anbietet. Er läuft herum, schaut sich um, hört den Gesprächen zu. Als Unruhe aufkommt, weil der Abtransport bevorsteht, versteckt er sich auf der Toilette vor den Soldaten. Indem er, sich mit Rücken und Beinen abstützend, an der Wand hoch klettert, entgeht er der Kontrolle durch die Soldaten. Als er nach der Räumung die Synagoge verlässt, winkt ihn eine Krankenschwester zu einem Krankenwagen, er soll sich unter der Matratze einer schwer verwundeten Frau verstecken. Wieder kontrolliert ein Soldat den Wagen, sieht ihn nicht, gibt den Befehl zur Abfahrt. So gelingt der erste Teil einer fast unglaublichen Flucht.

Nach Kriegsende ist seine Leidensgeschichte aber noch nicht zu Ende. Sowohl seine Tante, die Schwester seiner Mutter, als auch die Pflegefamilie, bei der er vor der Razzia gewohnt hat, beanspruchen das Sorgerecht. So wohnt er mal bei seiner Tante in Paris, mal bei der Pflegefamilie in Bordeaux und zwischendurch immer wieder in Kinderheimen. Erst als klar wird, dass er in Paris bei Dora und ihrem Lebensgefährten Èmile leben wird, als klar wird, dass Boris sich einstellen kann auf eine Familie, ein Zuhause, wird es „in meiner inneren Welt plötzlich hell“. Fast über Nacht wird er, der als Schulversager galt, ein so guter Schüler, dass er immer „Klassenerster“ ist, eine Klasse überspringt, sich zur Prüfung für das Gymnasium anmelden kann. Noch heute, so schreibt er, versetze ihn das „Tempo dieser geistigen Metamorphose in Erstaunen“. Er führt, erster Hinweis darauf, wie Resilienz gefördert werden kann, diese Entwicklung zurück auf die Zuwendung, die er nun von Dora und Èmile bekam und die Förderung durch seine Lehrer, im Gegensatz zu dem Leben, das er bis zu diesem Zeitpunkt geführt hat:

Mein geistiges Leben kam zum Stillstand, als meine Mutter allein dastand, nachdem mein Vater in die französische Armee eingetreten war und sie eine unmittelbar bevorstehende Festnahme fürchten musste. Für mich folgten dann einige Jahre der Verfolgung, der Todesnähe und der sensorischen Isolierung. Die fortwährenden seelischen Verletzungen, das Verbot, die Wohnung zu verlassen und zur Schule zu gehen, das Gefühl, ein Monstrum zu sein – all das machte jede Entwicklung unmöglich. Ich habe nicht darunter gelitten, weil ich mich in einem seelischen Erstarrungszustand befand. Man empfindet nichts, wenn man sich in „psychischer Agonie“ befindet, man atmet ein wenig, das ist alles. (S. 135/136)

Und trotz dieser neuen, liebevollen Umgebung, trotz der „langen Folge glücklicher Tage“ liegt immer noch ein Schatten auf seinem Leben. Denn nun, nach dem Krieg, in dieser positiven Umgebung kann Cyrulnik immer noch nicht erzählen, was ihm passiert ist, denn nun, in der Aufbruchstimmung der Nachkriegszeit, will niemand mehr die grauenvollen Geschichten hören. So kann er auch nun immer noch nicht sprechen, seine Geschichte immer noch nicht verarbeiten. Auch mit Dora kann er sich austauschen, er erzählt nichts über seinen Krieg, sie nichts über ihren, nicht einmal über ihre Kindheit und Jugend spricht sie, um Boris ein wenig seiner Geschichte zu vermitteln, Auch Èmile und andere Männer schweigen. Boris Cyrulnik beschließt einen Weg zu finden, wie er dieses Schweigen später einmal wird brechen können, als Arzt als Psychiater, auch wenn niemand in seiner Umgebung ihn darin unterstützt, wenn im Gegenteil die mitleidigen Stimmen laut werden, die ihm bescheinigen, bei seiner Geschichte doch unmöglich Arzt oder Journalist werden zu können.

Boris Cyrulnik entdeckt bei seinen Forschungen, dass es anderen Menschen in anderen traumatisierenden Situationen so geht wie ihm. Schweigen ist für sie zunächst ein wichtiger Schutz, dann lernen sie zu schweigen, weil ihre Umgebung nichts hören möchte von ihren grauenvollen Erlebnissen. So beginnt Boris Cyrulnik alle Menschen zu bewundern, die schweigen. Das Schweigen aber, so erkennt er erst spät, verändere die sozialen Beziehungen: auf der einen Seite lerne der Traumatisierte, dass er sich am besten auf sich selbst verlässt, dass er selbst es sei, der sich am Schopf aus dem Sumpf ziehen kann. Und auf der anderen Seite verhalte er sich in sozialen Beziehungen so zurückhaltend, er muss und will ja Wichtiges verschweigen, dass der Gesprächspartner ihn als fremd, unbeteiligt, unerreichbar empfindet.

Cyrulniks Schweigen konnte erst durchbrochen werden, als nach Filmen (z.B. „Nacht und Nebel des erst kürzlich verstorbenen Regisseurs Alain Resnais) und nach Literatur, die sich schon in der 50er Jahren des Themas annehmen, endlich in den 80er Jahren durch den Papon-Prozess eine gesamtgesellschaftliche Bereitschaft entsteht, sich mit dem Holocaust auseinanderzusetzen und zu erkennen, wie auch in Frankreich in vielen Teilen der Gesellschaft, in vielen Teilen der Verwaltung mitgearbeitet wurde am Holocaust. Erst dann, so Cyrulnik, „tauten die Worte auf“, erst dann konnten die Verletzten sprechen, erst so wurde es möglich, die erstarrten, sich ständig wiederholenden Bilder durch das Sprechen lebendig werden zu lassen: über das Trauma sprechen also schafft eine Ressource, um es zu überwinden.

Und Cyrulnik selbst hat fünfzig Jahre gebraucht, um an die Orte seiner Kindheit zurückzukehren. Manchmal ist er überrascht, wie viele Dinge, die er doch so deutlich in seiner Erinnerung sieht, falsch sind, während er andere ganz korrekt erinnert:

Die narrative Wahrheit ist nicht die historische Wahrheit; sie ist die Bearbeitung, die das Leben erträglich macht. Wenn die Wirklichkeit wahnsinnig ist, verleihen wir ihr Schlüssigkeit, indem wir eine Vereinbarung mit dem Gedächtnis treffen. (…) Es passte mir gut, dass mein Umfeld mich zum Schweigen brachte. Das erleichterte meine Verweigerung, das half mir, die Lebensstrategie umzusetzen, die Frau Loth angeraten wurde: „Vorwärts … vorwärts … blick nicht zurück auf die Vergangenheit. (S. 143)

Wichtige weitere Resilienzfaktoren sind auch das Träumen und das Verstehen. Er habe viel in Tagträumen gelebt, die ihm eine Ersatzidentifikation geben konnten. Nicht zuletzt hat auch sein Traum, Arzt werden zu wollen, ihm geholfen, seinen Weg zu gehen. Und auch das Verstehen-Wollen, die Intellektualisierung, kann einem Kind, einem Erwachsenen helfen, Lebensmut zu bekommen, indem es lernt nachzuvollziehen, warum es in diese schwierigen Situationen geraten ist.

Boris Cyrulnik hat, und davon zeugt der letzte Teil seines Buches, versucht zu verstehen, warum so viele Menschen, Deutsche und Franzosen, den Holocaust möglich gemacht haben. Für ihn ist das Verstehen viel wichtiger als das Vergeben. Und indem er zum einen verstanden hat, indem  ihm zum anderen die Sprache zurückgegeben worden ist, kann er sich umwenden und kann auf seine Biografie schauen, ohne zur Salzsäule zu erstarren.

Boris Cyrulniks hat ein sehr lesenswertes Buch geschrieben über seine Geschichte und seine Traumatisierung. Und er erklärt am Beispiel seiner Geschichte, welche Faktoren ihm geholfen haben, doch noch ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Auch wenn das Verständnis beim Lesen manchmal schwer ist, denn die Verquickung von biografischen Aspekten und wissenschaftlichen Reflexionen ist nicht immer gleich zu erkennen, auch wenn der Leser sich an der ein oder anderen Stelle weniger Wiederholungen, dafür mehr Klarheit des Gliederungsprinzipes gewünscht hätte, ist Cyrulniks Biografie ein sehr beeindruckendes Buch über sein Leben, seine Forschung und die Überwindung seines Traumas.

Boris Cyrulnik (2013): Rette dich, das Leben ruft!, Berlin, Ullstein Buchverlage GmbH

Die Sonntagsleserin: KW # 10 2014

Sonntagsleserin_2Die Bücherphilosophin hat die Idee gehabt, mittlerweile berichten immer mehr Blogger in ihren allwöchentlich-sonntäglichen Rückschauen über die besonderen Blogleseerlebnisse der vergangenen Woche. Bei der Bücherphilosophin findet ihr auch eine Liste der anderen Sonntagsleser, bei denen es immer vieles zu entdecken gibt.

Meine Bücherlese stand in dieser Woche unter dem Zeichen der Interviews und der zweifach besprochenen Romane – zum Teil mit erfreulich unterschiedlichen Wertungen.

Interviews

EinInterviewdokumentiert Vera auf ihrem Blog glasperlenspiel 13 mit Mario Früh, dem Geschäftsführer der Büchergilde Gutenberg. Sie sprechen über die Besonderheiten seiner Arbeit bei der Büchergilde und die besonderen Rahmenbedingungen an die sich die Büchergilde mit Blick auf die erstpublizierenden Verlage halten muss, über die Entstehungsidee der Büchergilde und den Anspruch einer jeweils besonderen Gestaltung der Bücher. Und auf einen weiteren Interviewteil können wir uns auch schon freuen.

Caterina berichtet seit zwei Wochen über die verschiedenen Veranstaltungen des Mannheimer Literatur-Festivals hören.lesen. In dieser Woche hat sie mit den beiden Organisatoren Sören Gerhold und Katharina Tremmel über die Entstehung und die jetzt nun schon zum achten Mal durchgeführten Literaturtage gesprochen, über den Erfolg, Neuerungen und Ausblicke für das kommende Literaturfest im nächsten Jahr.

Doppelte Lektüren

Wie ein Roman aus zwei Blickwinkeln besprochen wurde, das konnten wir in dieser Woche gleich dreimal erlesen – und nur einmal sind sich die Rezensenten einig gewesen.

Bei deepread und leseschatz ist Fabian Hirschmanns Roman „Am Ende schmeißen wir mit Gold“, nominiert für den Leipziger Buchpreis, gelesen worden. Karo ist nicht so ganz überzeugt, dass sie schon wieder einen Coming-of-Age-Roman lesen soll und fragt sich auch nach ihrer Lektüre, was die Jury des Leipziger Buchpreises wohl bewogen haben mag, diesen Roman zu nominieren, der doch nach Goethe, Kracht und Herrndorf kaum etwas enthalte, was nicht schon in einem Entwicklungsroman, noch dazu einem „on the road“, zu lesen war. Bei leseschatz ist man da ganz anderer Auffassung. Hier hat der Roman offensichtlich nicht nur „zum Schmunzeln gebracht“, sondern auch der immer nachdenklicher werdende Erzählton überzeugt.

Auch Feridan Zaimoglus Roman „Isabel“ fand in den letzten Tagen, wohl auch wegen ders großen Anerkennung in der FAS, gleich zwei Leser. Tilmann zeigt sich nach der Lektüre sehr enttäuscht, sowohl von der Geschichte – auch das Thema des sozial benachteiligten Menschen in den Randbezirken von Berlin sei ja nun nicht so wirklich neu – als auch von der sprachlichen Gestaltung. Zu einer ähnlich negativen Beurteilung kommt auch Norman, bei dem sich „überhaupt kein Lesegenuß“ eingestellt habe: „Unangenehm, unbequem, aber mehr auch nicht“.

Zwei, diesmal wieder sehr disparate Besprechungen, gab es zu Ulrike Draesners nun im März erscheinenden Roman „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“.  Sophie lobt, dass sich der Roman „empathisch und behutsam (…) auf Spurensuche“ begebe, um die Traumata und ihre Wirkung der durch Krieg Vertriebenen am Beispiel einer Familie und mehrerer Generationen aufzuspüren, und kennzeichnet Draesners Sprache als „fein und poetisch“. Dieser Meinung kann sich Tilmann überhaupt nicht anschließen. Ihn ärgert gerade die Sprache so sehr, dass er weder dem Thema noch den Protagonisten auch nur ansatzweise nahekomme und das Buch nach einigen Seiten zur Seite legen musste.

Einzelne Lektüre

Und zwei Einzelbesprechungen haben mich auch noch besonders erfreut:

Weil ich selbst den Roman noch auf dem ungelesenen Stapel liegen habe, hat es mir besonders  Tobias´ Besprechung von Rafael Chirbes Roman „Am Ufer“  angetan. Tobias erzählt über den in Spanien spielenden Roman zur Finanzkrise, der die Auswirkungen der Geldspielereien in ganz großem Stil auf die Existenz der Menschen in Olba auslote, aber auch über ihre Schwächen, Fehler, ihre Schuld erzähle. Er ist begeistert über diesen „höchst sinnlichen Text, der uns ungeschönt erfahren lässt, was das Leben in diesen Zeiten bedeutet und dass eine Krise wie die Eurokrise zwar nicht von Menschen gewollt, aber dennoch von Menschen gemacht ist.“ Wie schön, dass ich das Lesevergnügen noch vor mir habe, wie schön, dass es endlich einen Roman zur Finanzkrise gibt, einmal nicht aus der Sicht der Banker.

Und wer nicht nur nachvollziehen möchte, warum Navid Kermanis Roman „Große Liebe“ auf der SWR-Bestenliste auf dem ersten Platz gelandet ist, sondern auch noch erfahren möchte, welche subversive Kraft Literatur im besten Fall entfalten kann, dem sei der Beitrag von Birgit über ihre Lektüre empfohlen: „Navid Kermani (…) ist ein Springteufel. Der hat mich kalt erwischt.“

In diesem Sinne wünsche ich Euch eine wunderbare Lesewoche!

Das formwandelnde zweite Blogstöcken

Felix_2BälleIm Moment gilt es aufzupassen, hält man sich in der Welt der Blogs auf, denn es sausen so viele Blogstöckchen umher, dass man schnell mal unsanft getroffen werden kann. Zum Glück hörte ich dieses Stöckchen schon heransausen und so war es nicht schwer, es zu fangen. Es kommt von Anna, die ihrerseits von Birgit nach ihrer England-Vorliebe befragt wurde. Anna hat, als aufmerksame Leserin dieses Blogs, gleich mal die Fragen so angepasst, dass das Stöckchen wirklich zielgenau auf mich zugeflogen kam.

Seit wann und warum Hunde?

Felix kam zu uns an einem Sonntag im November 2005. Außer mit Katzen kannten weder mein Mann noch ich uns mit Hunden aus und die Entscheidung zum Hund war vielleicht nicht gerade kurz entschlossen, aber auch nicht wirklich lange und ausführlich und alle Wenns und Abers abklopfend entstanden. Beim Thema Hund war uns nur klar, dass wir keinen Jagdhund haben wollten, sondern einen Hütehund, und so kam uns Felix als Hütehund-Mix (wahrscheinlich Altdeutscher Hütehund/Schafpudel) gerade recht.

Felix_Sofa

Wir haben vor dem Einzug des Hundes Felix lediglich ein paar Erziehungsgrundsätze vereinbart, so zum Beispiel, dass der Hund nicht auf dem Sofa liegt. So kam dann also dieses winzige Hundebündel bei uns an und stand einige Minuten Auge in Auge dem Kater gegenüber, der sich dann aber zum Rückzug entschloss – es war auch fast das letzte Mal des Auge-in-Auge-Gegenüberstehens, denn das Hundebündel wuchs recht rasch, zuerst immer die Beine, so dass es morgens noch ungelenker aufstand, als es sich abends hingelegt hatte, dann wuchs der Rest nach, so das sich doch Proportionen ergaben. Alle waren beim Hundeeinzug natürlich ordentlich aufgeregt, Besuch stellte sich ein, der erste Spaziergang in der neuen Umgebung wurde unternommen und irgendwann, Stunden später, übermannte den Hund dann doch der Schlaf – zielsicher hatte er sich dazu einen Platz auf dem Sofa ausgesucht. Na, da kann man den kleinen Kerl ja nun doch nicht verscheuchen, so übermüdet wie er ist – das zu den Erziehungsgrundsätzen…

Wir haben uns dann aber doch ganz gut aneinander gewöhnt, er hat sich das ein oder andere zum Thema Erziehung gefallen lassen, dafür hat er uns beigebracht, was Hund so alles kann, zum Beispiel kann durchaus auch ein kleiner Kerl schon den Satz verstehen: „Wo ist denn dein Stock?“ Er schaut kurz, ob ich es ehrlich meine, rennt los und bringt genau den Stock, den er vor mehreren Hundert Metern hat liegen gelassen, wieder. Aha, der Hund ist schlau.

Blog-Stöckchen

Und irgendwann kam dann der Kumpel Linus, ein Bordercollie-Mix aus Irland, hinzu und nun sind sie manchmal ein ziemlich verschworener Haufen mit schnellen Absprachen untereinander, einer genauen Ordnung beim Spielen – es müssen immer erst BEIDE Spielzeuge wieder gefunden werden, also ist es sinnvoll, sich gegenseitig zu helfen und anzuzeigen, wo das vermisste Spielzeug liegt – manchmal aber auch ein ziemlich zerstrittener Haufen, vor allem, wenn sie müde sind.

Jedenfalls haben wir alle viel Spaß miteinander – die Entscheidung für den Hund war also richtig.

Beide_2

Gibt es Lieblingsbücher? Oder: Wie entscheidet sich, welches Buch du als nächstes liest?

Ja, die Lieblingsbücher müssten ja mal wieder gelesen werden: Uwe Johnsons „Jahrestage“ vor allem und die anderen Johnson Romane. Und Thomas Manns „Joseph und seine Brüder“, weil mir die dabei die Blumenbergsche  „Arbeit am Mythos“ so gut gefällt.

Und dann bin ich furchtbar neugierig auf die neue, die aktuelle Literatur. Mich treibt dabei die Suche nach den Büchern um, die unser momentanes Lebensgefühl beschreiben, eher nicht mehr Geschichten vom Erwachsenwerden, sondern eher die, die die Auswirkungen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ausloten. Um zu finden, was ich wohl lesen möchte, durchforste ich die Kataloge der Verlage und notiere mir Autor, Titel und Erscheinungsdatum, damit ich pünktlich auf die Pirsch gehen kann. Was mich dabei besonders anspricht, kann ich gar nicht sagen. Ich  stöbere natürlich  auch sehr gerne in (großen) Buchläden und lasse mich dort von den Büchern inspirieren. Da wird es dann neben dem Namen des Autors vor allem die Gestaltung des Covers und der Klappentext sein (hier werden schrill bunte und sehr verschnörkelte Cover eher links liegen gelassen).

Bücher

Und dann schaue ich natürlich in die Feuilletons und lese, was dort besprochen wird. Das ist aber eindeutig nicht mehr meine wichtigste Quelle. Wesentlich wichtiger bei der Auswahl der Bücher, die ich nicht selbst finde, sind die Blogs. Das liegt auch daran, dass die Blogbesprechungen mehr auf den Inhalt eingehen und nicht in irgendwelchen feuilletonistisch-essayistischen Abgründen herumstochern, so dass ich mir ein klareres Bild von den Büchern machen kann. Die Blogs empfehlen mir so mehr die Autoren, die ich nicht kenne, meistens tatsächlich die jüngeren Autoren, und die Bücher, an deren Cover ich erst einmal vorbeigelaufen wäre. Und es gibt einige Blogs, deren Geschmack ich ganz gut vertrauen kann.

Und: da wir die Hunde immer fleißig in Wälder und zu Seen führen, kommen sie auch mit in Buchläden! Linus legt sich irgendwo hin und beschaut in aller Ruhe mit übereinandergeschlagenen Pfoten das Treiben um sich herum. Felix dagegen hat es darauf abgesehen, mit möglichst vielen anderen Buchliebhabern zu flirten: erst Blickkontakt, dann heftiges Schwanzwedeln, dann auf die Füße setzen, mit dem Rücken anlehnen und sich puscheln lassen.  So haben wir alle unterschiedliche Ziele im Buchladen, aber eine ziemlich gute Zeit.

Der ideale Fernwehort für ein eigenes Ferienhäuschen?

Der Ort müsste auf jeden Fall in einer tollen Landschaft sein, also eher abseits von (Groß-)Städten. Ich kann mich konkret aber nicht festlegen, dazu möchte ich noch ein wenig herumgucken können, bis ich einen genauen Ort benenne.

Landschaft

Das Blogstöckchen würde ich ja gerne mit den gleichen (Hunde-)Fragen an Mara und Kai, der hoffentlich wieder an die Internetzivilisation angeschlossen ist :-), weiterreichen, aber Mara sagte schon an anderer Stelle, dass sie im Moment gar keine Stöckchen fängt. Ich lege jetzt also das Stöckchen mal hierhin und vielleicht kommt ja doch ein interessierter Mensch oder Hund vorbei, schnüffelt kurz daran und nimmt es dann mit. Wenn nicht, bleibt es  einfach liegen.

Die Sonntagsleserin: KW # 09 2014

Sonntagsleserin_2Die Bücherphilosophin hat die Idee gehabt, mittlerweile berichten immer mehr Blogger in ihren allwöchentlich-sonntäglichen Rückschauen über die besonderen Blogleseerlebnisse der vergangenen Woche. Bei der Bücherphilosophin findet ihr auch eine Liste der anderen Sonntagsleser, bei denen es immer vieles zu entdecken gibt.

Beginnen möchte ich dieses Mal mit der Veranstaltung lesen.hören, von uns der Caterina von Schöne Seiten als unsere Bloggerin in Mannheim berichtet. Mit der alten Feuerwache hat die Veranstaltung wohl einen beeindruckenden Platz gefunden, jedenfalls zeigen uns das Caterinas Bilder. Und auch ihre wunderbaren Berichte, so vom Eröffnungsabend, bei dem Roger Willemsen als Schirmherr noch einmal Dieter Hildebrandts gedenkt oder vom Abend, an dem vier Autoren, die nach Deutschland eingewandert sind, über die Heimat sprechen, geben anschauliche Einblicke und vermitteln das traurige Gefühl, dass man doch gerne auch dabei gewesen wäre.

Kef führt ihr langes Interview mit Daniel Beskos vom Verlag mairisch nunmehr in einem vierten Teil weiter fort und fragt nun nach, wie die Manuskripte in den Verlag kommen

Sophie nimmt in ihrem Beitrag die Diskussion der Feuilletons zum Stand der Deutschen Gegenwartsliteratur auf und beweist in wohltuend ruhiger Weise, dass es doch neue Autoren mit neuen Themen und neuen Stilen gebe. Sie fügt auch eine Liste mit Titeln zum Nachlesen an, sodass zu hoffen ist, dass diese merkwürdige Diskussion nun endlich beendet ist.– Ist sie aber nicht, so möchte ich noch hinzufügen, denn die Süddeutsche Zeitung nahm dann in dieser Woche den Staffelstab auf und debattierte das Thema weiter. Und die ZEIT wartete gleich mal mit dem Kunstwerk auf, in der letzten Woche Maxim Biller noch viel Platz einzuräumen, der den dann nutzt, um  u.a. zu beklagen, dass die „Enkel der Nazi-Generation“ (da werden dann gleich mal ganze Geburtsjahrgänge recht pauschal mit dem Suffix „Nazi“ diskreditiert, egal wes Geistes Kind sie sind) nun unseren Literaturgeschmack bestimmen, und eine Woche später wiederum viel Platz einzuräumen, damit auch nur ja die kruden Ideen des Herrn Sarrazin, wenn auch kritisch, lang- und breitgetreten werden können. Warum den Platz nicht einfach mal für junge und vielversprechende Literatur nutzen? Immerhin nimmt sich Ijoma Mangold durchaus mit ironischem Bezug zu Biller eines Debütromans an  – es ist aber auch wieder eine alte Familiengeschichte :-).

Nun aber zu den Büchern:

Radiergummi berichtet von Linda Benedikts Buch „Eine kurze Geschichte vom Sterben“ als einer „brutalen Konstellation“. Da liege eine Mutter im Bett, zerfressen vom Krebs, sterbend,  und die jüngere Tochter verbringt die letzten siebe Tage bei ihr, schläft im Bett gegenüber, traut sich kaum noch, das Zimmer zu verlassen, fühlt sich alleine, völlig überfordert, ohne Hilfe. „Eine kurze Geschichte vom Sterben“, so das Urteil, sei ein „fulminantes Stück“, zeige die Situation des Sterbens und Loslassens mit den divergierenden Gefühlen schonungslos offen.

Mara legt uns den Roman Aleksander Hemons „Das Buch meiner Leben“  ans Herz. In diesem autobiografisch geprägten Roman zeige er nicht nur seine Leben vor und nach der Flucht aus Bosnien auf, sondern auch seine Leben vor und nach der Diagnose eines Hirntumors bei seiner kleinen Tochter. Und da der Autor Schriftsteller ist, sei es natürlich auch ein Buch „über die Kraft des Erzählens, des Scheibens und die Macht der Worte“.

Atalante stellt uns das „Selbstporträt“ Helene und Wolfgang Beltracchis vor, einem Ehepaar, das wegen ganz besonderer Kunstfälschungen 2010 verhaftet und verurteilt worden ist. Wolfgang Beltracchi nämlich habe Kunstwerke bekannter Maler nicht einfach kopiert, sondern sich so in ihre Leben, ihre Art des Malens hineingearbeitet, dass er neue Bilder in ihrem Stil gemalt und diese dann unter ihrem Namen vorlegt habe. Dabei habe er sogar die Kunstkenner so an der Nase herum geführt, dass sie den alten Werkverzeichnissen das neu aufgetauchte Bild hinzufügten.

Und buchwolf berichtet nicht nur über den Krimi „Auf der Strecke. Ein Fall für Berlin und Wien“ , sondern auch über das Autorenduo, das in Wien eine Buchhandlung führt, auf die er durch Gesines Blog Steglitzmind überhaupt erst aufmerksam wurde. Alleine schon die Geschichte rund ums Buch ist doch toll.

Nun allen eine schöne und ereignisreiche Blogwoche!

Martin Kordiċ: Wie ich mir das Glück vorstelle

KordicEines bleibt zunächst festzuhalten: Wer meint, vom Buchcover des Romans, auf den Inhalt der Geschichte Martins Kordiċs schließen zu können, der irrt, denn die lustig purzelnden Buchstaben und der mit schief gelegtem Kopf freundliche blickende Vogel lassen nicht darauf schließen, dass der Leser dem kleinen Jungen Viktor in die Auswirkungen des Bosnienkrieges folgt. Indem er Viktor begleitet, der bei einer Umsiedlung in der  ethnisch geteilten Stadt seine Familie verliert,  lernt der Leser hautnah, was es heißt, zumal für ein Kind, in einer vom Bürgerkrieg zerstörten Stadt zu leben.

Schon bei Viktors Geburt läuft es überhaupt nicht glatt. Allein der beherzte Eingriff der Großmutter rettet das Leben des Neugeborenen, ein krummer Rücken aber bleibt. So muss Viktor ein Korsett tragen, Rückenspinne genannt, das ständig scheuert und zu lästigen nässenden Wunden führt. Durch seine körperlichen Beschädigungen wird Viktor zum Außenseiter, zum Gespött der Kinder und Erwachsenen, die ihn gerne mal Kretin nennen.  In den Kindergarten geht er nur zwei Wochen, lieber sitzt er bei der Mutter in der Küche. Sie gibt ihm Papier und Stifte, so fängt er an zu malen.

Und wenn sie längere Besorgungen erledigt, dann wartet Viktor in der Bibliothek auf sie, liest seine ersten Comics, lässt sich von den Bibliothekarinnen die Geschichte vom Jungen vorlesen, der sich so in ein Buch vertieft, dass er darin verschwindet, und schreibt dann auch sein erstes eigenes Buch, indem er sechs Bilder malt, seiner Mutter dazu eine Geschichte diktiert und sein Werk dann in der Bibliothek zum Ausleihen einstellt. An dem Tag, an dem Viktor in die Schule kommt und der Direktor die Kinder begrüßt „Ihr seid die Zukunft, ihr seit das Land der Völker.“ verkündet abends im Fernseher der Nachrichtensprecher: „Das Land der Völker gibt es nicht mehr.“ Es beginnen die Vorbereitungen zum Großen Krieg.

Martin Kordiċ erzählt in seinem Roman ein Stück Familiengeschichte. Sein Vater stammt aus Bosnien. Gerade wollte die Familie dorthin ziehen, als der Krieg ausbricht und statt den eigenen Umzug in die Wege zu leiten, kommen die Verwandten nach Deutschland und finden hier erst einmal Unterschlupf auf ihrer Flucht vor dem Krieg. So gehörte das Erzählen über den Krieg zum unmittelbaren Erleben Martin Kordiċs: „Seit ich denken kann, ist das Thema. Es war immer da, weil meine Verwandten da waren.“ [1] Und so war ihm auch schnell klar, dass er darüber in einem Roman, ja,  seinem ersten sogar, schreiben muss: „Hätte ich zuerst über etwas anderes geschrieben, hätte ich gedacht: Sterben kann ich jetzt immer noch nicht, weil: Das muss ich noch machen.“ [1]

Und mit der Figur des Viktor findet Kordiċ einen ganz besonderen, einen ganz eigenen Blick auf den Krieg. Viktor läuft allein mit nichts mehr als ein paar geretteten Gegenständen aus seinem alten Leben durch die zerstörte Stadt.  Er erzählt nur, was er gerade macht und sieht und das in einer Sprache, die einem Grundschulkind angemessen ist. Viktor ist nicht altklug, viele Dinge begreift er nicht, und so umschreibt er einfach nur, was er sieht. Er reflektiert nie, er bewertet nicht, er drückt überhaupt keine Gefühle aus. Alles, was er erzählt, erzählt er in der Gegenwartsform, egal, ob es tatsächlich gerade passiert, gestern passiert ist oder eine Geschichte ist, die schon vor ein paar Jahre geschehen ist.

Diese Art des Erzählens ist kein bisschen maniriert, merkwürdig oder artifiziell, sondern stimmig und passend zur Situation Viktors. Und sie entfaltet eine Wirkung, der sich der Leser nicht entziehen kann. Von Anfang an liegt eine ganz eigene Atmosphäre über Viktors Erzählung, eine Mischung aus Melancholie und auch Magie. Und da der Leser nur die Handlung in der Sprache Viktors erfährt steht er ständig auf schwankendem Boden: Nie weiß er, ob Viktor in Gefahr ist, ob alles gut geht, wie er sich fühlt, was er zu tun plant, ob er es schafft zu überleben, er weiß nicht einmal, ob das, was Viktor ihm erzählt, wahr und richtig ist, denn er erzählt ja nicht nur von seinem Leben, in vielen Situationen vielleicht auch von seiner Schuld, sondern immer wieder von Momenten, die eigentlich nicht sein können, die fantastisch wirken, ja magisch:

Um uns herum sind nur Felsen und Himmel. Wir fahren viele Kurven. Wir kommen durch ein paar Dörfer. Da sind überall noch zwei oder drei Häuser. Manche haben keine Dächer mehr. In einem haus kann ich einen Storch erkennen. Dahinter bei den abgebrannten Ställen sehe ich drei Elefanten, die einen Garten umgraben. Das glaubst Du mir nicht? Aber das ist die Wahrheit. Da stehen drei Elefanten und graben den Garten um und die kümmern sich überhaupt nicht um den Storch, der sie beobachtet. (S. 29)

Viktor geht zwar auf die richtige Schule und muss dafür immer über die Brücke auf die andere Seite des Flusses gehen, aber seine Familie wohnt auf der falschen Seite. Acht christliche Familien, zu denen auch die Familie Viktors gehört, wohnen in einem Wohnblock zusammen mit zweiundzwanzig muslimischen Familien. Freundschaften zwischen den Kindern, zwischen den Müttern, können im Laufe des Krieges nur noch heimlich gepflegt werden oder zerbrechen gar und gehen in mehr oder weniger offene Feindschaften über. Viktor erzählt in seiner Art, wie Ausgrenzung und Gewalt immer mehr den Alltag beherrschen.  Einmal macht Viktors Klasse einen Ausflug auf die andere Seite des Flusses, auf die muslimische Seite. Ein Junge, ein Moslem, wird auf perfide Art gezwungen, auf die Scheibe der Boutique zu spucken, in der seine Mutter arbeitet:

Wir bleiben alle stehen. Der Lehrer flüstert dem Kind, das zwei Reihen vor mir steht, etwas zu und ich wünsche mir, dass der Lehrer mir das auch zuflüstert. Das Kind geht zu dem Kind, das vor der Boutique stehenbleibt.

Das Kind sagt: Wir gehen erst weiter, wenn du auf das Schaufenster spuckst. Spuckst du nicht auf das Schaufenster, bekommen wir alle ein Strafarbeit. (S. 90)

Und dann kommt der Tag, an dem Viktors Familie, die sich vorher geweigert hat, die Wohnung und den Stadtteil zu verlassen, durch das Militär aus der Wohnung vertrieben wird. Weil Viktor unbedingt eine Nachricht für seinen Vater hinterlassen will, wird er von seiner Familie getrennt. Nonnen nehmen ihn später mit, bei ihnen kommt er unter, muss ihre Gebete lernen und wird dann in ihre Gemeinschaft aufgenommen. Weil er nicht körperlich arbeiten kann, darf er eine Art Tagebuch führen, in das er aber auch eintragen soll, welches der Kinder seinen Aufgaben nicht nachkommt. Später soll Viktor am nahegelegenen Wallfahrtsort, hoch oben auf dem Berg, Wasser an die Pilger verteilen und dafür Spenden sammeln. Statt dessen verbringt  er die Zeit bei Bubka, dem Busfahrer, der auch einen Kiosk betreibt und ihm abends Geld zusteckt.

Als dann auch das Kloster der Nonnen angegriffen wird, er vermeintlich unter den Toten ist, zieht er mit seiner wenigen Habe zurück in die Stadt. Auf dem Weg schließt sich ihm ein Hund an, den er Tango nennt, und er wohnt beim einbeinigen Dschib, der ihm zunächst beim Hütchenspielen seine Habseligkeiten abluchst. Der einbeinige Dschib schenkt ihm ein Heft und einen Bleistift und so beginnt Viktor seine – oder eine – Geschichte aufzuschreiben. Die darf nur so lange werden, wie er Seiten im Heft hat. Jeden Abend schreibt er und für jede vollgeschrieben Seite malt er einen Elefanten an die Wand.

Das Schreiben, das Erzählen also ist wichtig für Viktor, die Elefanten begleiten ihn, seit er sie bei einem anderen Klassenausflug in den Zoo gesehen und Freundschaft mit ihnen geschlossen hat. Zum mittlerweile natürlich auch zerstörten Zoo zieht es ihn immer wieder, hier setzt er das tote Mädchen ab, das ein paar Tage bei ihm und dem einbeinigen Dschib gelebt hat, hier trifft er die blinde Alte, die seine Rückenwunden versorgt, ihm Medikamente für den einbeinigen Dschib mitgibt, der immer stärker hustet – und einen Brief seiner Oma.

Viktor also schafft es zu überleben in der vom Krieg zerstörten Stadt, indem er sich ans Erzählen hält, an die Literatur also, und an seine schönen Erinnerungen aus der Kindheit. Am Ende seiner Geschichte erzählt er uns dann auch, wie er sich das Glück vorstellt und das ist dann das Kapitel, zu dem auch das Buchcover passt.

Martin Kordiċ hat mit seinem Debütroman eine eigenwillige, verstörende, sehr komplexe und wunderbare Geschichte über einen Jungen im Krieg erzählt, so wie sie sicher gelten kann für die vielen Kinder in den Kriegs- und Bürgerkriegsregionen, die wir tagtäglich im Fernsehen sehen können.

Martin Kordiċ (2014): Wie ich mir das Glück vorstelle, München, Carl Hanser Verlag

Eine weitere Besprechung dieses Romans findet ihr bei Sophie

[1] http://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article124479857/Seit-ich-denken-kann-war-dieser-Stoff-da.html

Die Sonntagsleserin: KW # 08 2014

Sonntagsleserin_2Die Bücherphilosophin hat die zu Beginn des Jahres die Idee gehabt und mittlerweile berichten immer mehr Blogger in ihrer allwöchentlich-sonntäglichen Rückschau über die besonderen Blogleseerlebnisse der vergangenen Woche. Eine Liste der mitmachenden Blogs findet Ihr auf der Seite der Bücherphilophin.

Ich habe die vergangene Blog-Lese-Woche als viele Sinne anregend empfunden: es gab etwas zu rätseln und aufzuklären, es gab Neues zu erfahren, etwas Interessantes zu hören, mehreres zu sehen und nicht zuletzt etwas zum Nachdenken und Diskutieren:

Rätseln und Aufklären

Einen Schwerpunkt in dieser Woche bildeten – eher ungewöhnlich – die Krimis:

Masuko macht uns neugierig auf den ungewöhnlichen Krimi „Teufelsgrinsen“, der im viktorianischen London spielt. Der Protagonist Dr. Anton Kronberg ist Bakteriologe und Epidemiologe – und eigentlich eine Frau, nämlich Anna, die im 19. Jahrhundert aber nur in Männerverkleidung wissenschaftlich arbeiten kann. Ihr Helfer (!) ist Sherlock Holmes, der ihre Maskerade sehr schnell durchschaut. So spannend wie der Krimi ist auch seine Entstehungsgeschichte, die Masuko uns auch erzählt.

Auch Muromez ist begeistert von einem Krimi, nämlich der alten Geschichte von Jack the Ripper, die nun aber als Graphic Novel „bildgewaltig und farbenfroh“ und mit „detaillierten Zeichnungen“ daher kommt und außerdem noch bis zum letzten Bild eine spannende Geschichte aufweist.

Die Klappentexterin hat in der letzten Woche schon Jan Costin Wagners Roman bzw. Krimi „Tage des letzten Schnees“  vorgestellt und damit viel Lust aufs Lesen gemacht. In dieser Woche hat sie ein Interview mit dem Autor geführt, in dem Ihr u.a. etwas erfahrt über sein Verhältnis zur Stille, seine Beziehung zu Finnland und die Planung weiterer Kimmo Joentaa-Romane.

 

Erfahren

Birgit bringt uns ja immer mal wieder Gedichte nahe. Auch ihrem Beitrag über Ruth Klüger fügt sie Gedichte der Autorin bei und  schafft es so auf wunderbare Weise, den Bericht über Klügers Leben und ihre Auseinandersetzung mit dem im KZ Erlebten durch die Gedichte noch einmal eine andere, eine persönlich-emotionale Ebene hinzuzufügen.

Und mit Lili Grün stellt sie uns in dieser Woche gleich noch eine jüdische Lyrikerin mit ihrere Lebensgeschichte und einigen Gedichten vor.

 

Hören

Bei libroskop gibt es ein interessantess Interview zu hören mit Claudia Steinitz, einer Übersetzerin von französischen Romanen. Sie gibt Einblicke in ihre Arbeit und berichtet so nicht nur darüber, dass sie vor allem solche Romane übersetze, die ihr selbst gut gefallen, sondern erzählt auch über die Verlockung, die Übersetzung sprachlich besser zu machen als das Original. In den englischen und französischen Verlagen, so berichtet sie, werde längst nicht so viel lektoriert, wie dies bei den deutschen Verlagen üblich sei und so bestehe bei der Übersetzung eben die Möglichkeit des Lektorats – die sie auch gerne nutze.

 

Sehen

Auch wer sich nicht unbedingt für gruselige Zombie-Romane interessiert, sollte bei deep read vorbeisurfen. Sie stellt „Das infernalische Zombie-Spinnen-Massaker“ von David Wong vor, in dem eine Stadt von Spinnen heimgesucht wird, die sich gleich mal in den Gehirnen der Menschen ansiedeln (grrr). Und neben Karos rasanter Buchvorstellung besticht der Beitrag einfach durch die wunderbar passende  Bebilderung.

Auich hier gibt es immer mal wieder etwas Tolles zu sehen: Silvia Springorum zeigt auf ihrem Blog „Farbraum“ ihre Bilder, die sie in sehr ausdrucksstarken, kräftigen Farben, meistens gibt es auch etwas Rotes zu entdecken, malt. Auf diesem steht sie, wahrscheinlich mit ihrer Staffelei, einem Fotografen gegenüber, der sie wiederum beim Malen ablichtet.

 

Zum Informieren, Nachdenken und Diskutieren

Und zuletzt möchte ich für die, die das Interview noch nicht gelesen haben sollten, noch einmal auf Maras Interview mit Sigrid Löffler hinweisen. Hier berichtet die Literaturkritikerin über ihre Arbeitsbiografie, erläutert ihre Auffassung von Literaturkritik und äußert sich recht negativ zur Literaturkritik im Internet, wobei sie zwischen  manchmal ja tatsächlich ziemlich unqualifiziertem Lob und Tadel auf amazon und der durchaus fundierten und Kriterien deutlich machenden Kritik auf unseren Blogs wenig differenziert.

Max Frisch: Aus dem Berliner Journal

Max Frisch_2

Es hat einen blauen Einband, das „Berliner Journal“, so wie seine älteren Brüder, die Tagebücher von 1946  – 1949 und von 1966 – 1971. Wer es aufschlägt und die ersten Einträge liest aus dem Februar 1973, der wird sofort hineingesogen in die unnachahmliche Sprache Max Frischs. Kaum einem Schriftsteller gelingt es so überzeugend, mit ein paar Sätzen, ausformuliert die einen, unvollständig, manchmal bis auf ein Wort verknappt, die anderen, wie ein Zeichner mit ein paar Bleistiftlinien in seinem Skizzenbuch, vor den Augen der Leser eine vollständige Szene entstehen zu lassen, eine Geschichte zu erzählen, die darin mitschwingenden Gefühle gleich mit. Unvergessen aus den ersten Tagebüchern sind seine Beschreibungen der Situation im Nachkriegsdeutschland, die zerstörten Städte, die er aus dem Zug sieht, die Flüchtlingsströme auf den Bahnhöfen; seine literarischen Skizzen und Ideen, das Nachdenken über „sein“ Thema – wer der Mensch denn wirklich sei, sich selbst und anderen gegenüber -, Begegnungen mit anderen Schriftstellern, die Reisen in die USA, Skizzen des Alltags.

Ein ähnliches Themenspektrum findet sich auch im Berliner Journal. Zum Ende des Jahres 1972 haben Max Frisch und seine Frau Marianne eine Wohnung in Berlin gekauft, ganz in der Nähe von Grass und Johnson. Diesen Umzug nimmt Frisch zum Anlass, wieder an einem Tagebuch zu schreiben, sich quasi schreibend die neue Umgebung, das politische System jenseits der Mauer, die neuen Freunde, seinen neuen Alltag zu erschließen. Wieder, wie in den Vorläufern, ist er dieser ganz genaue Beobachter seiner Umgebung, manchmal auch scharfzüngiger Kommentator, wieder schaut er den Dingen auf den Grund, findet kleine Begebenheiten, aus denen sich das große Ganze erkennen lässt, hat auch einen sehr genauen Blick auf sich und seine Ehe. Und ganz offensichtlich ist es wiederum ein literarisches Werk, geschrieben für eine breite Öffentlichkeit:

Seit ich die Notizen, die anfallen, in ein Ringheft einlege, merke ich schon meine Scham; ein Zeichen, dass ich beim Schreiben schon an den öffentlichen Leser denke, gleichviel wann es dazu kommen könnte. Und mit der Scham gleichzeitig auch die Rücksicht auf andere, die auch tückisch sein kann, verhohlen, vorallem doch wieder ein Selbstschutz; ich schreibe nicht: Paul ist ein Arschloch. Punkt. Damit wäre ich ja ungerecht. (S. 38)

Frisch beginnt das neue Tagebuch mit der Beschreibung der Situation des Umzugs, der Wohnung, in der noch das Notwendigste fehlt, der Hilfe der Freunde, des Ärgers über die Handwerker, des Erkundens der neuen Umgebung, des Einlebens und ersten Arbeitens.

7.2.

Anna Grass leiht uns zwei Betten, wir wohnen noch nicht. Ein Arbeitstisch, von Uwe Johnson vorbestellt, ist da, dazu die erste Lampe. Die technischen Einrichtungen (Kühlschrank, Spiegel und Licht im Bad, Türschlösser usw.) sind im Anzug. Kein Telefon. M. findet einen schönen Tisch antik, ferner Gläser und etwas Geschirr. Noch kein Warmwasser. Der erste Stuhl. Jeder Schritt, jede Stimme hallt in den leeren weissen Räumen. Was braucht man. Kein Mangel an Geld, im Gegenteil.

(…) 17.3.

Wir haben angefangen zu wohnen, wir sind schon gewohnt.“

Interessiert schaut er sich Berlin als geteilte Stadt an, West-Berlin mit den breiten, aber ruhigen  Straßen, die in kein Zentrum zu führen scheinen. Er schaut Sendungen des DDR-Fernsehens und wundert sich über die dort vorherrschende Sprache. Literarisch versucht er die Teilung einer Stadt am Beispiels Zürichs nachzuvollziehen. Als Reiseleiter führt ein Erzähler einen Ausländer durch die Stadt, erklärt die Beschädigungen durch die Teilung, erklärt, während sie gemeinsam die Mauer abschreiten, was es bedeutet, dass der eine Teil ohne den anderen funktionieren muss, dass es keine Kontakte mehr gibt, nur noch Gerüchte. Und schnell kommt auch der reale Kontakt nach Ost-Berlin zustande, zunächst über seinen Verleger dort bei Volk und Welt, dann über eine Einladung zur Leipziger Buchmesse, mehr und mehr trifft er sich mit Schriftstellern, mit Christa Wolf, Jurek Becker, Günter Kunert, Wolf Biermann, besucht sie zu Hause. Diese Kontakte finden ihren Niederschlag im Tagebuch, durch Beschreibungen des Ablaufs, wenn er noch einmal in die besprochenen Themen referiert und immer wieder hinweist auf den so vorsichtigen, aber herzlichen Umgang miteinander. Immer wieder denkt er, der westliche Besucher, über die östlichen Lebensbedingungen nach, zunächst sehr zurückhaltend – er hat sich noch kein Bild gemacht – dannmit immer deutlicheren Worten:

Berlin 1974

Freunde in der DDR: Ihr habt es gut, Ihr könnt vom kapitalistischen Ausland reden. Wir können nicht vom sozialistischen Ausland reden. Denn das gibt es nicht. Was in den Ländern, die sich die sozialistischen nennen, zur Zeit zu sehen ist: Bürokratismus mit sozialistischer Phraseologie, Staatskapitalismus ohne die mindeste Mitbestimmung von der Basis her – (S. 157)

Immer wieder skizziert er seine Schriftstellerkollegen, manchmal in wenigen Worten, manchmal in längeren Reflexionen: Uwe Johnson, seinen neuen Nachbarn und Freund in Berlin, Alfred Andersch und ihr schwieriges Verhältnis als Nachbarn in Berzona, immer wieder Günter Grass, den er für öffentlichkeitssüchtig hält: „Anruf von einer Redaktion genügt, und er verlautbart. Als könne er Aktualität ohne Grass nicht ertragen. Wie heilt man ihn?“ (S. 159)

Und immer wieder gibt es auch ein Nachdenken über sich, ehrlich und schonungslos, wenn er sich klar macht, Alkoholiker zu sein, wenn er den deutlichen Altersunterschied zu seiner Frau Marianne betrachtet, den Zustand der Ehe („Ehe-Ruine“),  wenn er die mit 62 nachlassenden Kräfte, das Nachlassen der Erfindungskraft vor allem, beschreibt. Immer wieder notiert er, er sei ohne Arbeitsplan, immer wieder, er habe wieder nichts gearbeitet, es bedrücke ihn aber auch nicht, immer wieder verweist er auf die Arbeit für den Verlag, die mehr darin bestehe, sein Werk zu verwalten, weniger darin, etwas Neues hinzuzufügen. Vielleicht sieht es sich gar wie den Wärter in dieser kurzen Notiz:

Der Wärter in einem Leuchtturm, der nicht mehr in Betrieb ist; er notiert sich die durchfahrenden Schiffe, da er nicht weiss, was er sonst tun soll. (S. 121)

Dabei arbeitet er durchaus weiter, neben den Reden, die er für unterschiedliche Situationen schreibt, veröffentlicht er das „Dienstbüchlein“ und erarbeitet eine Erzählung, deren Arbeitstitel „Regen“ ist und die er später als „Der Mensch erscheint im Holozän“ veröffentlicht. Auch über die Schwieirgikeiten beim Schreiben der Erzählung berichtet er hier und da.

Im März 1974 bereitet Frisch wieder eine New York Reise vor: „Keine Ahnung, wie weit weg diese Reise mich führt; wahrscheinlich ist es die letzte NY-Reise.“  Und so bricht das Tagebuch kurz vor der New York Reise ab. Von New York nämlich reist er im Mai 1974 für ein Wochenende nach Montauk, an den östlichsten Zipfel von Long Island, zusammen mit Alice Locke-Carey. Und dort hat er die Idee zu „Montauk“, mit deren Ausarbeitung er sich in den nächsten Monaten beschäftigt, sodass er sein Journal nicht weiter fortführt, immer wieder aber auf Notate daraus zirückgreift, wie es Thomas Strässle in seinem umfangreichen Nachwort erläutert.

Das Berliner Journal also führt inhaltlich und poetologisch fort, was Frisch in den früheren Tagebüchern begonnen hat. Auch wenn es – leider – viel knapper ist, als die anderen Werke, so ist es doch ein eindrucksvolles Zeitdokument aus dem Berlin der 1970er Jahre und auch ein eindrucksvolles Dokument des Menschen Max Frisch, der mit seinen Blessuren, mit seinem Alter ringt.

Biographische Hinweise zum Leben Max Frischs finden sich hier und ein Gespräch mit der Margit Unser, der Leiterin des Max Frisch-Archivs, über die Veröffentlichung des „Berliner Journals“ könnt ihr hier lesen.

Max Frisch: Aus dem Berliner Journal, Berlin 2014, Suhrkamp Verlag

Zadie Smith: London NW

Zadie SmithIm letzten Winter hat John Lanchester uns in seinem Roman „Kapital“ nach London gebracht, in die Pepys Road. Er hat uns erzählt von den Menschen, die nun dort leben in den mehrstöckigen Backsteinhäusern, erbaut zum Ende des 19. Jahrhunderts von den leitenden Angestellten in Steuerberaterbüros oder Anwaltskanzleien: dem jungen afrikanischen Fußballspieler zum Beispiel, der mit seinem Vater  in der Pepys Road wohnt; dem Banker, der nur darüber nachdenkt, wie hoch seine Jahresprämie sein muss, damit er sein Leben weiter finanzieren kann und wie hoch es idealerweise sein könnte; der alten Dame, die in der Pepys Road ihr gesamtes Leben verbracht hat und die nun dort stirbt; der pakistanischen Familie, die an der Ecke einen Kiosk betriebt; dem polnischen Handwerker, der in den Häusern Reparaturen durchführt; dem ungarischen Kindermädchen.

Auch Zadie Smith entführt uns nach London, aber nach Kilburn, im Nordwesten der Hauptstadt gelegen, nicht gerade ein Viertel, in dem die Reichen wohnen, eher eines, in dem sich Arbeiter, „kleine“ Angestellte, viele Einwanderer vor allem ansiedeln. Aber Smith´ Romanpersonal ist überschaubarer als das John Lanchesters Geschichte und so können wir den einzelnen Figuren viel näher kommen, sie viel besser kennenlernen, ihre Motive, ihre Konflikte viel lebendiger erleben als dies in „Kapital“ möglich war: Leah und Natalie, Felix und Nathan, Schulkameraden vor über zehn Jahren an der Brayton High School, sind die Protagonisten.

Nun ist Leah Hanwell, Tochter einer irischen Mutter und eines englischen Vaters, verheiratet mit Michel, einem Franzosen, und verteilt bei der Stadtverwaltung die Einnahmen aus Lotterien an soziale Einrichtungen. Michel möchte gerne Kinder haben, Leah will lieber mit Michel alleine bleiben, so nimmt sie heimlich die Pille oder treibt ab, wenn sie doch schwanger ist.

Felix wäre so gerne Filmschauspieler geworden, aber er hat es nur zu einem Laufburschen bei einer Filmproduktion gebracht. Aus dem Drogensumpf hat er sich gerade herausgezogen, mit Grace möchte er eine Familie haben, endlich, wie in einem Computerspiel, das nächste Level in seinem Leben erreichen – und auf keinen Fall will er so ein Leben wie seine Eltern oder sein Halbbruder, mit Drogen, Wahnsinn, Kriminalität.

Nathan war Mädchenschwarm in der Schule, ein hoch talentierter Fußballspieler, doch für die ganz tolle Karriere als Profifußballer hat es dann doch nicht gereicht. Nun fühlt er sich vom Schicksal schlecht behandelt, schließlich ist er schwarz und da gehe die Geschichte ja immer so, dass die Menschen, die ihn mit zehn Jahren als kleinen, netten brother gesehen haben, begannen, die Straßenseite zu wechseln, als er vierzehn wurde. In so einer Gesellschaft habe einer wie er keine Chance. Nun lebt er selbst von der Straße, als Zuhälter, Dealer, Krimineller.

Natalie, die eigentlich Keisha heißt, sich dann aber einen anderen Namen gesucht hat, studiert nach einem guten Schulabschluss Jura, macht sehr erfolgreich die teure Barrister-Ausbildung, die ihre jamaikanische Familie sich eigentlich nicht leisten kann. Nach einem Umweg, und weil sie meint, sie würde sowieso nicht als Partnerin aufgenommen, beginnt sie doch in einer der renommierten Anwaltskanzleien zu arbeiten und vertritt Unternehmen vor Gericht. Ihren Mann Francesco De Angelis, BWL-Student aus reicher Familie mit mittelmäßigen Studienerfolgen aber sicherer Karriere in der Welt der Finanzen, lernt sie schon im Studium kennen.

Zadie Smith gibt ihren vier Protagonisten ganz eigene Stimmen und ganz eigene Erzählkonzepte. Natalie, der der größte Raum im Roman eingeräumt wird,  erzählt uns in vielen kleinen Kapiteln gleich ihr ganzes Leben, Leah können wir ein paar Monate begleiten, Felix erleben wir an einem einzigen Tag und Nathan lernen wir bei einem langen Gespräch kennen. Alle Charaktere sind komplex, haben Ziele, Träume, Vorstellungen, aber auch mehr oder weniger viele Ecken und Kanten. So kommt ein sehr vielschichtiges Bild der so unterschiedlichen Menschen eines Viertels zustande, der Einfluss ihrer ethnischen, sozialen und geografischen Herkunft, ihre Chancen und Möglichkeiten in der Jugend, ihre Entwicklung zu Erwachsenen.

Dabei ziehen alle vier Protagonisten nun über zehn Jahre nach Ende der Schule, als Erwachsene, die sich für ihre Leben entschieden, sich in diesen Leben eingerichtet haben, Bilanz. Ist dieses Leben wirklich das, was sie haben wollen? Sind die Entscheidungen für Ausbildung, Beruf, die Wahl ihrer Partner richtig gewesen? Wie ist die Frage nach der Familie zu beantworten, wie die Kinderfrage? Sind sie zufrieden mit dem Erreichten, vielleicht sogar glücklich?

Nein, zufrieden sind sie nicht, glücklich auch nicht. Vielmehr tragen sie ihre äußeren und auch inneren Konflikte nach wie vor mit sich herum. Und eine Stärke dieses Romans ist es sicherlich, diese latente Unzufriedenheit der Figuren quer durch die üblichen Zuschreibungen von ethnischen, gesellschaftlichen und individuellen Motiven zu verorten. Es sind die heillosen Verknüpfungen der Ansprüche – oder auch gerade die Nicht-Ansprüche, nämlich die Verwahrlosung – der Eltern, die eigenen Ansprüche, der Wunsch, sich aus einem Milieu herauszuarbeiten, wirtschaftlich aufzusteigen, sorgenfrei, anerkannt, ja bürgerlich zu leben, es sind Herkunft, Viertel, Schule, es sind die Partner und ihre Wünsche, die Freunde, die auf einmal Abendessen organisieren, bei denen man sich merkwürdig fremd vorkommt. In diesem Geflecht kann der Einzelne sich selbst schon einmal sehr verloren gehen:

Tochter Rolle. Schwester-Rolle. Mutter-Rolle. Ehefrauen-Rolle. Anwältinnen-Rolle. Reichen-Rolle. Armen-Rolle. Briten-Rolle. Jamaika-Rolle. Jede Rolle verlangte eine andere Kostümierung. Aber wenn sie die diversen Haltungen nebeneinanderstellte, hatte sie Mühe, sich klar zu werden, welche am authentischsten war und vielleicht auch nur am wenigsten unauthentisch. (S. 359)

Es passiert eigentlich nicht viel in diesem Roman, die vier Protagonisten sind mit ihren Betrachtungen und Reflexionen beschäftigt, mit ihrem Alltag. Indem aber über jeder Geschichte latent die Frage von Bedrohung und Gewalt liegt – auch hier ein ähnlicher Ansatz wie bei Lanchesters „Kapital“ -, ergibt sich nicht nur ein weiterer Blick auf gegenwärtige Biografien, zumal in einer Großstadt, sondern wird in diesem Fall auch die Geschichte selbst vorangetrieben. Bei Leah ist es Shar, die ihr unter Vorgabe einer rührseligen Geschichte an der Haustür vierzig Pfund für die Taxifahrt abluchst und erstaunlich viel über Leah weiß. Leah und Michel treffen Shar immer wieder auf der Straße, stellen sie zur Rede, wollen das Geld zurück und bekommen es mehr und mehr mit Männern in Shars Umgebung zu tun, die absolut nicht zimperlich sind. Felix dagegen bittet nur zwei Männer in der U-Bahn, doch für eine schwangere Frau zusammenzurücken, um ihr einen Sitzplatz frei zu machen, und gerät in ein merkwürdig-abgründiges Streitgespräch mit ihnen. Und Natalie, nach außen in allen Bereichen so erfolgreich, wendet die Gewalt gegen sich und setzt Ehe und Ansehen aufs Spiel.

Zadie Smith lässt die vier Geschichten geschickt und ohne dass es konstruiert wirkt am Karnevals-Wochende im August zusammenfließen. Indem sie zusammenfließen, fließen auch die Lebenswege der Schulkameraden zusammen und es ergibt sich durch die Vielschichtigkeit der vier Erzählungen nicht nur eine Lösung, sondern für den Leser auch noch einmal eine neue Perspektive.

Ganz am Ende der Geschichte, nach diesem denkwürdigen Wochenende, als soviel in Scherben liegt, sitzen Leah, Michel und Natalie zusammen im Garten und denken nach über das, was passiert ist:

„Ich verstehe einfach nicht, warum ich so ein Leben habe“, sagt [Leah] leise. (…) „Du, ich wir alle. Warum dieses Mädchen und nicht wir,. Warum der arme Kerl aus der Albert Road. Das ergibt für mich alles keinen Sinn.“ (…)

„Weil wir härter gearbeitet haben!“, sagte [Natalie] und legte den Kopf auf die Rückenlehne der Bank, um den weit offenen Himmel zu betrachten. „Wir waren klüger, und wir wussten, dass wir nicht irgendwann bei anderen Leuten an der Tür betteln wollten. Wir wollten raus. (…) Tut mir leid, Lee, wenn du das als eine hässliche Antwort findest, aber es ist die Wahrheit. Das gehört zu den Dingen, die man im Gerichtssaal lernt: Die Leute kriegen in der Regel das, was sie verdienen.“ (S. 426)

Ob das nun das Resümee des Romans ist, das auch der Leser nach der Lektüre der Geschichten aus London NW akzeptiert, sei dahingestellt.

Zadie Smith (2014): London NW, Köln, Kiepenheuer & Witsch

Die Sonntagsleserin: KW # 06 2014

Sonntagsleserin_2Die Bücherphilosophin hat die Idee gehabt und mittlerweile folgen ihr einige Blogger bei der allwöchentlichen Rückschau über die besonderen Blogleseerlebnisse (weitere Links findet Ihr bei ihr). Da ich in dieser Woche ziemlich wenig Zeit hatte zum Lesen von Büchern, zum Lesen von Blogs und Schreiben darüber, gibt es heute nur eine kurze Wochenrückschau. Dabei möchte ich vor allem auf drei Beiträge verweisen, die gleich auch noch dazu anstiften können, auf weiteren Blogs zu stöbern.

Laura von writeaboutsomething beschäftigt sich in dieser Woche mit dem „Ich“. Wer sind wir eigentlich, was macht unsere Identität aus, wie entsteht sie in Verbindung mit den anderen, wie wird sie geprägt durch das Internet. Grundlage dieser Auseinandersetzung um die Ich-Frage ist die Lektüre dreier Romane, die um diese Thematik kreisen.  Als Ergänzung sei auch verwiesen auf das Interview das Katja schon vor einiger zeit auf gleichem Blog mit Aléa Torik, einer der drei Autorinnen der oben genannten Bücher geführt hat. Alea Torik  verwebt in ihrem Roman ihren Literaturblog mit dem Romangeschehen und gewinnt so einen ganz neuen Blick auf Aspekte der Identität in Zeiten der neuen Medien. Das scheint doch vor allem für uns Literaturblogger ein ganz spannendes, aktuelles Thema zu sein.

Auf weitere sopannende Interviews weist Caterina von Schöne Seiten hin, die von Melanie Raabe ausführlich befragt wurde.   Das Interview könnt ihr auf der Seite von Interviewerin nachlesen, die den Blog Biographilia betreibt. Und so habe ich einen neuen spannenden Blog gefunden, in dem Melanie in tollen Interviews die Menschen von nebenan vorstellt, ihre Interessen, ihr Leben, ihre Motivationen. Schöne Fotos bebildern die Beiträge.

Die alte und vielleicht mittlerweile ein wenig angestaubte Idee des Poesiealbums, ja ich habe natürlich auch eines gehabt in der 70er Jahren!, hat Birgit von Hauptsache Bücher  wiederbelebt. Bei ihr können alle Albumschreiber an einem elektronischen Poesiealbum mitwirken und drei Einträge haben sich schon angesammelt. Ich habe bei Petra, die den dritten Beitrag verfasst hat,  von dieser schönen Idee gelesen.  Sie hat den bebilderten Bogen zum Poesiealbum ihrer Großmutter geschlagen und so das Alte neben das Neue gestellt. Mal schauen, ob sich noch mehr Mitschreibende finden.

Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur

HerrndorfAn dem Wochenende, als Wolfgang Herrndorfs Buch veröffentlicht wurde, musste man im Zeitschriftenladen eines Vorortbahnhofs, der üblicherweise über ein recht schmales Buchsortiment nicht allerhöchsten Niveaus verfügt, geradezu über Herrndorfs Tagebuch klettern, denn es lag dort gleich in mehreren großen Stapeln bereit. Offensichtlich erwartete man auch im Vorort einen reißenden Absatz. Und in den Feuilletons überschlugen sich die Rezensenten vor Begeisterung. In der ZEIT verstieg sich die Kritikerin gar zu diesen schier unglaublichen Aussagen:

Arbeit und Struktur trifft Deutschland zur Adventszeit. Nicht nur zur kalendarischen, sondern zu einer gefühlt schon viel zu lange andauernden emotionalen Festzeit, in einem Zustand kollektiver Weihnachtsmarktverfettung, in dem das Land es sich gemütlich gemacht hat, ohne sich dabei selbst ganz geheuer zu sein. Wie ein Weckruf schrillt die Ich-Geschichte durch die „Deutschland geht es gut“-Melodie, diese ewig frohe Lähmungsbotschaft der Kanzlerin. Gibt es hierzulande vielleicht doch mehr Menschen, als man denkt, die das Einbetoniertsein im Positiven als Stillstandshorror empfinden?

Schade. So viel Hype, soviel merkwürdige Begeisterung, so viel Spiel mit Voyeurismus und Sensation, die Instrumentalisierung des Autors gar zum Erwecker einer vermeintlich eingelullten Bevölkerung, haben mir den Eindruck vermittelt, dass ich dieses Buch nicht lesen wollte. Erst die wohlformulierten, ruhigen und wertschätzenden Besprechungen auf den Blogs haben mich – völlig zu recht – überzeugt, Herrndorfs Weblog zu lesen Und tatsächlich schreibt hier jemand vor allem über sich und seine ganz individuelle Geschichte, über sein Leben mit einer tödlichen Krankheit, über seinen Umgang mit dem Gedanken an den Tod, und, ganz wichtig, über die Frage der Würde und der Selbstbestimmung in dieser Ausnahmesituation. Dies sind im übrigen Themen, denen sich unheilbare Kranke oft stellen, meistens jedoch nicht so öffentlich, dass es bis zur ZEIT vordringt. Der ZEIT-Kritikerin seien Besuche in einem Hospiz empfohlen.

Wolfgang Herrndorf beschreibt in seinem Tagebuch, wie er sein Leben anpacken möchte – und auch anpackt – nach der Diagnose Glioblastom, nicht heilbarer Hirntumor, der ab Diagnose, je nach Quelle, 17,1 Monate Überlebenszeit gewährt oder auch fast zwei Jahre und mit fortschreitender Entwicklung nicht nur den Körper mehr und mehr schwächt, sondern auch im Gehirn für ungewisse Ausfälle sorgen kann, bei Herrndorf kommt es im Laufe der Zeit zu Sprachverfall. Wie kann man nur weiter leben mit dieser Aussicht, wie mit den Ängsten und Panikattacken umgehen, wie die knappe verbleibende Zeit füllen?

Schreiben, so überlegt er noch im Krankenhaus, die Diagnose ist kaum gestellt, will er, mindestens einen der beiden Romane endlich fertigstellen, an denen er schon so lange gearbeitet hat. Gestützt wird sein Entschluss zum Schreiben, zu seiner Art von Arbeit, durch das Telefonat mit einem ebenfalls Erkrankten, der seine Diagnose nun schon dreizehn Jahre überlebt hat:

„Er fing sofort wieder an zu arbeiten. Informierte alle Leute, dass ihm jetzt die Haare ausgingen, sich sonst aber nichts ändere und alles so weiterlaufe wie bisher, keine Rücksicht, bitte. Er ist Richter.

Und wenn mein Entschluss, was ich machen wollte, nicht schon festgestanden hätte, dann hätte er nach diesem Telefonat festgestanden: Arbeit. Arbeit und Struktur. Sonderbares Gefühl, mit einem gänzlich Fremden zu telefonieren und sich darüber zu unterhalten, wie man heimlich unter der Bettdecke weint. Rufen Sie mich nächstes Jahr wieder an. Ja, mach ich.“ (S. 114)

So ist Herrndorfs Tagebuch zu einen Teil ein Werkstattbericht. Mit unglaublicher Disziplin, mit einer festen (Tages-)Struktur, stellt er erst den Jugendroman „Tschick“ fertig, stürzt sich dann in die Überarbeitung des Krimis bzw. Thrillers „Sand“, notiert vieles auf seinem Blog, erst um die Freunde zu informieren, dann eine immer größer werdende Öffentlichkeit, und beginnt noch einen neuen Roman, den er aber nicht fertigstellen kann. Er schreibt zwei Tage nach der OP, während der Chemotherapien, er schreibt vor wichtigen Untersuchungen – „ Morgens Arbeit, mittags MRT, dann geschlafen.“-, er schreibt während seiner Krankenhausaufenthalte, er schreibt im Urlaub am Meer, die Freunde helfen beim Lektorieren am Küchentisch, im Krankenhaus. Und es stellt sich ein unglaublicher Erfolg ein. „Tschick“ stürmt die Bestsellerlisten, wird zur Schullektüre selbst im Ausland, für „Sand“ bekommt Herrndorf den Leipziger Buchpreis. Geld spielt plötzlich keine Rolle mehr, „und es gibt nichts, was mir egaler wäre“.

Herrndorfs Tagebuch ist aber natürlich auch die Dokumentation seines Krankheitsverlaufes, der Rückschlüsse auf den Menschen ermöglicht, der hier der all die Therapien fast dankbar annimmt, die erforscht sind und wissenschaftlichen Standards entsprechen, dagegen aber eine völlige Abneigung gegen jede Form quacksalberischer Tipps entwickelt, die ihm immer wieder angedient. Statt dessen berichtet er, oft unglaublich distanziert, über Untersuchungsergebnisse und Diagnosen – alle paar Monate steht das nächste MRT an, dessen Ergebnis die verbleibende Lebenszeit streckt oder kürzt -, über Therapien und Medikamente, immer wieder dokumentiert er die eigene Leistungsfähigkeit, die sichtlich abnimmt:

Zum ersten Mal war ich hier vor genau zweieinhalb Jahren, als ich mit dem Fahrrad zum Kienberg fuhr, um die Straßen in der Umgebung des Hauses von Maik Klingenberg abzufahren. Ich erinnere mich an den herrlichen Tag, den Sonnenschein und an das Mädchen, das  in der gegenüberliegenden Ecke über ihrem Tablett saß. Unglaublich, wie ich seitdem abgebaut habe, körperlich und geistig. (S. 366)

Neben diesen Einträgen finden sich aber auch die wunderbar scharfzüngig-bösartigen Beobachtungen zum Literaturbetrieb, zur Gegenwartsliteratur und ihren Autoren, zu Medien und ihren Vertretern, zum Papstbesuch in Berlin, der dazu führt, dass eine Großstadt lahm gelegt wird „durch den Besuch eines Mannes, der eine dem Glauben an den Osterhasen vergleichbare Ideenkonstruktion als für erwachsene Menschen angemessene Weltanschauung betrachtet“.  Und es gibt auch die Berichte über Tage der Lebensfreude, über das Fußballspielen, das er so lange wie möglich betreibt, das Schwimmen im Plötzensee, das Fahrradfahren, auch wenn er sich mehr und mehr verfährt, das Schlittschuhfahren. Er geht ins Kino, trifft sich mit Freunden, liest Bücher wieder, die ihm wichtig sind. Er fährt in Urlaub, weil er das Meer so liebt, besucht im Sommer seine Eltern an der Ostsee, schwimmt, spielt Volleyball.

Diesen Themen gegenüber aber steht ein weiteres, ganz wichtiges, das Thema nämlich, mit dem Wolfgang Herrndorf sich seit der Diagnose beschäftigt, das ihm so wichtig ist, wie die Entscheidung, wie er sein Leben gestalten will: Die Frage nämlich nach dem selbst gewählten Tod zu einem Zeitpunkt, den er selbst bestimmt, weil für ihn an einer Stelle eine Grenze überschritten wird, die er sehr klar bezeichnet:

Dieser Scherbenhaufen im Inneren bei gleichzeitiger Unfähigkeit zu sprechen, das ist nicht meine Welt. Auch wenn man da möglicherweise noch zwei Gemüsestufen über dem Apalliker rangiert, das geht nicht. Menschliches Leben endet, wo die Kommunikation endet, und das darf nie passieren. Das darf nie ein Zustand sein. Das ist meine größte Angst. (S. 224)

Er klärt die Frage des Sterbens für sich, erklärt sie der Familie, den Freunden, und er setzt seinen Entschluss auch um, indem er sich erschießt an dem Platz, den er sich dafür ausgeguckt hat. Damit hat er selbst bestimmt wie und letztendlich auch wann er stirbt und so für sich bis zuletzt eine Selbstständigkeit bewahrt, die auch Würde genannt werden kann [1]. Auch wenn seine immer wieder formulierten Vorschläge, wie Sterbehilfe in Deutschland aussehen sollte, für großen Diskussionsbedarf sorgt, so hat er für sich doch eine Entscheidung getroffen, die Respekt verdient. Und leichtfertig hat er sie nicht getroffen, denn gerade Verlust der Kommunikation und sozialen Interaktion, die er als Kriterium definiert hat, ziehen sich deutlich durch die letzten Monate. Und je schwächer er selbst wird, umso mehr schärft sich sein Blick für die anderen, auch kleinen Lebewesen um ihn herum, für eine Maus auf seiner Terrasse im Dachgeschoss, einen Vogel, eine Libelle, die stirbt, obwohl er ihr den Weg aus der Wohnung gezeigt hat und die er in einer Streichholzschachtel beerdigt.

[1] Peter Bieri (2013): Eine Art zu leben. Über die Vielfalt der menschlichen Würde, München, S. 346 ff.

Wolfgang Herrndorf (2013): Struktur und Arbeit, Berlin, Rowohlt Verlag

Die Sonntagsleserin: KW # 05 2014

Sonntagsleserin_2Die Bücherphilosophin hat die Idee gehabt, mittlerweile folgen ihr einige Blogger bei der allwöchentlichen Rückschau über die besonderen Blogleseerlebnisse.

Für mich steht diese Bloglesewoche unter dem Thema „Lesen“, denn es gab eine Reihe von Artikeln zu lesen, die sich nicht nur mit der der Frage, was denn bitte schön lesenswert ist, auseinandersetzten, sondern gleich auch über Chancen und Gefahren dieses Hobbys unterrichteten:

Sophie von Literaturen hat das Thema gleich zweimal aufgegriffen: Zum einen stellt sie in ihrem Beitrag „Die Erziehung des Lesers“  drei renommierte Vielleser vor, die Empfehlungen aussprechen, welche Bücher denn überhaupt lesenswert seien, und so versuchen, dem angesichts der Vielzahl an Büchern unglückseligen und schlicht unentschlossenen Leser eine Hilfestellung zu bieten.

In ihrem zweiten Beitrag zum Thema stellt sie die Werbespot-Kampagne de Stiftung Lesen vor, die versucht mit Hilfe von bekannten Persönlichkeiten die Zahl der bekennenden Nicht-Leser zu reduzieren

Auch Danares beschäftigt sich in ihrem sehr scharfzüngigen Beitrag mit dieser neue Kampagne, stellt jedoch gleich auch noch einen Bezug zum neuen Buch von Thilo Sarrazin sowie den geschliffene Formulierungen, die ihr im Dschungel-Camp zugeflogen seien, her. Nachdem nun gestern in der Süddeutschen Zeitung auch Roger Willemsen dem Dschungel-Camp das Prädikat „Lebendiges Fernsehen“ verliehen hat, bekommt Danares Beitrag noch einmal eine zusätzliche Bedeutung.

Kef erhebt in ihrem Artikel mahnend den Zeigefinger und weist auf die oft unterschätzten Gefahren des Lesens hin, denn  offensichtlich kann Lesen auch tödlich enden. Vorsicht also!

Mit dem Thema „Lesen“ hat auch ein Phänomen namens „Blogstöckchen“ zu tun.  Einige Blogger konnten beim Fangen auf die Mithilfe ihrer bibliophilen Vierbeiner vertrauen, andere mussten selber ran. Viele interessante Beiträge über aktuelle Lektüren und frühkindliche Prägungen sind jedenfalls entstanden und wunderbare Diskussionen über „schöne Zitate“. Bei Annas Buchpost  könnt ihr neben ihren Antworten auch die Geschichte dieses Blogstöckchens nachlesen, und bei der bücherphilosophin gibt es einen kurzen Abriss über die Entwicklungen des Blogstöckchens im Laufe der Woche.

Neben dem thematischen Schwerpunkt möchte ich aber noch auf zwei weitere lesenswerte Beiträge hinweisen:

Tilman, selbst Jurist, beschreibt einen wunderbar skurrilen Rechtsstreit zwischen den Mitarbeiterin einer Spielhalle und ihrem Chef und zitiert das Arbeitsgericht. Lest selbst die Zusammenfassung des Sachverhaltes sowie die Begründung der Zurückweisung – in gereimter Form . Viel Vergnügen!

Und Jarg stellt das Buch des Philosophen Matthias C. Müller mit dem assoziativen Titel „Alle im Wunderland“ vor. Müller habe sich gegen den aktuellen Zeitgeist des Immer-Mehr und Immer-Schneller, des Selbst-Optimierens und des Glück-Findens gewendet und diesem Streben eine Position entgegengestellt, die sich dem bewussteren Umgang mit sich selbst zuwendet, in der „Humor und Liebe, Freundschaft und Mitgefühle“ einen hohen Stellenwert genießen.

Viel Spaß beim Stöbern und Nach-Lesen und eine schöne neue Lesewoche!

Brigitte Kronauer: Gewäsch und Gewimmel

KronauerIn fernen Zeiten, als das Wäschewaschen in einem Dorf noch gemeinschaftlich am Fluss, am Brunnen oder am Waschtrog stattfand, trafen sich die Frauen. Und während sie ihre Wäsche gemeinschaftlich einweichten, einseiften, schrubbten und bürsteten, kneteten, ausspülten, bleichten und trockneten, vertrieben sie sich die Zeit mit Gesprächen. Sie schwätzten und tratschen und schnatterten und klatschten und tauschten sich aus über die Fehler der anderen: sie wuschen also schmutzige Wäsche in verschiedener Hinsicht. Nun wird schon ewig nicht mehr am Dorfplatz gemeinsam gewaschen, geblieben ist das Gewäsch aber trotzdem: der Flurfunk belebt und würzt den Büroalltag, das Schwätzchen am Zaun verschafft die Teilhabe am Leben der vielen näher und entfernt wohnenden Nachbarn, im Supermarkt wird zwischen Kartoffeln und Möhren die Krankengeschichte der unglücklichen Tante zum Besten gegeben und bei der Geburtstagsfeier erhalten die Gäste einen mehr oder weniger ausführlichen Überblick über den Verlauf der Geschichte des schwarzen (Familen-)Schafes seit dem letzten Jahr. Es wird ja auch so gerne gesprochen über die, die gerade nicht da sind, geklatsch und getrascht, „gehaspelt, gesponnen, geschnurrt“, vor allem: verraten. Ob das alles wahr ist, was erzählt wird, ob nicht Lücken in der Geschichte des nicht Anwesenden selbst fantasievoll gefüllt werden, ob nicht die Geschichte schon auf ganz falschen Beobachtungen und noch falscheren Deutungen beruht, ob nicht gar auch ein bisschen abgegrenzt und ausgegrenzt werden soll – all das bleibt beim Gewäsch völlig offen.

Der Volksmund verdächtigt heute den (Hunde-)Friseur als Ort des Klatschens und Tratschens, des Raunens und Wisperns, des Schwafelns und Plapperns. Brigitte Kronauer hat in ihrem Roman einen weiteren Ort ausgemacht, einen modernen, wie geschaffen für die Enthüllung des ein oder anderen Geheimnisses: die Praxis der Krankentherapeutin Elsa Gundlach, in der die Patienten unter ihren Entspannung und Entlastung verschaffenden Händen alle Vorsicht und Rücksicht fahren lassen und zu plaudern beginnen. Wer hier was erzählt, ob die Geschichten selbst erlebt sind oder ob Gehörtes erzählt wird, bleibt in den  kurzen Erzählfragmenten offen: Wem kann der Leser vertrauen,  welchen Geschichten  geht er besser nicht auf den Leim? Wie es sich für richtigen Klatsch gehört, bleiben Quellen und Wahrheitsgehalt unklar, es gilt der Geschichte zu lauschen und dem Erzähler beizupflichten. Das ist der soziale Kitt dieser Art der Kommunikation.

Manchmal wird von Menschen erzählt, die wohl in Elsas Umgebung wohnen, manchmal aber auch von Menschen, die weit weg wohnen, in Berlin in Frankfurt, in Leipzig. So erfahren wir Leser von Pastor Dillenburgs Besuchen bei der alten und einsamen, nur mit ihrer Katze zusammenlebenden Frau Fendel, von seinen mühsamen Wegen auf schmerzenden Füßen von Hausbesuch zu Hausbesuch, von seiner Schwester, die erst zu ihm zieht, dann den um seinen treuen Hund Rex trauernden Timo Brück kennenlernt, den sie schließlich heiratet; vom mehrfach preisgekrönten Schiftsteller Pratz, der sich auf einer seiner ersten Lesereisen in das Allgäuer Städtchen Immenstadt verliebt und jetzt daran arbeitet, der Nachwelt versteckte Informationen zum Enträtseln zu hinterlassen; von Hubert Wind, der so gerne durch die Schweizer Alpen wandert; von Alex, der sich von einem prekärem Arbeitsverhältnis zum nächsten hangelt mit dem hehren Ziel, bloß nicht Hartz IV-Empfänger zu werden, bis er schließlich in der Gaststätte seiner Schwester mithilft und dort zwei ältere Damen bedient, die sich einmal über die Jungfräulichkeit Marias streiten. Die Menschen in den Geschichten, die Elsa in ihrer Praxis erzählt werden, beschäftigen sie noch bis in die Nacht und so weckt sie ihren Freund Henry, wenn sie mal wieder nicht schlafen kann, und erzählt sie ihm.

Elsa.“Schläfst Du?“

Freund: „Wenn man mich nur ließe!“

Elsa: „Ich weiß es von sabine, jetzt Sabine Scheffel oder Scheffer, der Tochter von Frau Wäns. Der hat es die Galeristin Iris erzählt, diese Iris Steinert mit dem Silberblick, du erinnerst dich, die Steinert, diese Katze, die sofort alles körperlich ausdrücken, aber sich andererseits immer verstellen muss: Die geschiedene, von ihrem Schwarzen aber auch wieder getrennte, jetzt unversehens mollige Frau Herzer spielt neuerdings Blitzschach!“ (S. 548)

In die Lebensgeschichten von mindestens einem Dutzend Menschen gewährt Brigitte Kronauer uns so Einblicke. Dabei verändert sich von Geschichte zu Geschichte die Form der Erzählung. Manchmal scheint es sich um einen Zeitungsbericht zu handeln, manchmal wird ein Dialog erzählt oder ein Briefwechsel wiedergegeben, es finden sich viele Rätsel – die wohl auf den Leser abzielen und überprüfen, ob er auch aufmerksam bei der Sache bleibt -, manchmal sind es Märchen oder Geistergeschichten, oft  Anekdoten, immer unnachahmlich formuliert in Satzgirlanden, mit üppig ausgestreuten Attributen und einem manchmal gehörig bösen Humor.

Im Mittelteil des Romans, als Bindeglied zwischen dem vorderen und dem hinteren Episodenteil, findet sich eine zusammenhängende Geschichte. Hier erzählt die ältere Luise Wäns auf ihren Wanderungen durch das Schutzgebiet manchmal Elsa, wenn sie sie begleitet, manchmal auch ihrer Winterjacke oder ihrem Strohhütchen ihre Erlebnisse mit Hans Scheffer. Herr Hans, wie sie ihn gerne nennt, Naturschützer, der an der Renaturierung des Schutzgebietes arbeitet, ist der aus für den Leser völlig unerfindlichem Grund hochverehrte und von allen, egal ob Mann oder Frau, heftig verehrte Fixstern einer Gruppe mittelalter Menschen, die sich immer wieder im Haus von Luise und ihrer Tochter Sabine zu geselligen Abenden treffen. „König Hans“ bestimmt dabei ganz klar die Spielregeln: er kommt entweder als erster oder als letzter Gast, zu seinen Ehren wird ein köstliches Essen bereitet, am Tisch wird nicht über Berufe und Arbeit gesprochen, es gibt keinen Klatsch, dafür Gesellschaftsspiele, die er immer wieder vorschlägt.

In der Gruppe zeigen sich erste feine Risse, als Hans eines Tages für längere Zeit verschwindet ohne seinen Jüngern mit einem Wort zu verraten, was er zu tun  gedenkt. Bei den weiter beibehaltenen Treffen beginnen Hans Anhänger über seine Motive des Verschwindens zu spekulieren, sie zeigen erste Eifersüchteleien ganz offen, kleine Giftpfeile beginnen zu fliegen – Klatsch und Tratsch setzt sich mehr und mehr durch. Luise Wäns erzählt das aus der Perspektive der Beobachtenden, aber es bleibt höchst fragwürdig, wie glaubwürdig sie, die heillos in diesen merkwürdigen Hans Verliebten, die bei den Wanderungen im Schutzgebiet oft in einem Rucksack den ererbten Schmuck mit sich führt und die schon wähnt, der Nachbar habe sich in sie verliebt und stelle ihr nach, tatsächlich ist:

Am Ende, in meiner Lieblingskurve, wo im Mai eine Wildrose stürmisch im alten Weißdorndickicht klettert, nahm Herr Hans mein Gesicht zwischen seine Hände. Ich fing an zu beben und dachte, nun würde er mich noch einmal küssen. Das aber tat er nicht. Er sah mich nur an, eine Weile, Auge in Auge, lange Zeit, mitten auf dem Feldweg, und mahnte mich, nicht auszuweichen, als ich es nicht mehr ertrug; „Sie sollen mich ansehen, Frau Wäns“. (S. 584)

Die Autorin bereitet vor dem Leser ein Figuren- Panorama, wie wir es von Bildern kennen. Hier ist es zwar nicht der Markplatz, auf dem die vielen Figuren herumwimmeln und gleichzeitig ihren unterschiedlichen Tätigkeiten und Wegen nachgehen. Hier ist es eher das ewige Geraune und Gewisper der Patienten, allen voran von Luise, das nicht nur Elsa, sondern auch den bis in den Schlaf verfolgt. Oft verbergen sich ja die ganz existenziellen Themen des Lebens, Liebe und Tod, der Wunsch nach Anerkennung, Einsamkeit, Krankheit, Glück, in den ausgeplauderten Geschichten.

Weiter und weiter gräbt sich der Leser durch das unendliche Geplapper, vor allem auch neugierig darauf, zu welchem Ende die Autorin die Geschichten ihrer Figuren bringen wird, ob und wenn ja, wie sie die Lebenswege der Figuren, so die Vermutung, miteinander verschlingen wird. Das Ende ist überraschend und völlig anders als erwartet. Das alles ist das kunstfertig arrangierte Phänomen des Gewäschs – aber, es macht die Lektüre, noch dazu bei über 600 Seiten, auch schwierig, macht sie manchmal zur sehr anstrengenden Arbeit. Denn, so wie uns beim Getratsche am Gartenzaun die Person, deren schmutzige Wäsche  da voller Eifer vor uns ausgebreitet wird, als Mensch nicht nahekommt, so wie wir uns nicht identifizieren, so wie wir nicht mitleiden können, so bleiben dem Leser des Romans auch alle Personen, die ihm hier vorgestellt werden, fremd.

Trotzdem: Brigitte Kronauer geht in ihrem Roman dem Phänomen des Gewäschs ganz ordentlich auf den Grund und der Leser wird nach der Lektüre ganz vorsichtig werden auf dem Büroflur und im Supermarkt.  Er wird ganz genau hören, ob er den Verrat sofort erkennt und er wird sich vorsehen, welche Geschichte er selbst zum Besten gibt.

Brigitte Kronauer (2013): Gewäsch und Gewimmel, Stuttgart, Klett Cotta

Kam ein Blogstöckchen geflogen…

Blog-StöckchenErst in den letzten Tage habe ich auf irgendeinem Blog mit ganz anderem als literarischem Inhalt gelesen, dass es Blogstöckchen gibt. Aha, wieder etwas Neues gelernt. Und ehe ich es mich versehe, hat Birgit von Sätze und Schätze  ihr Stöckchen schon in meine Richtung geworfen, elegant aufgeschnappt von meinem gewandten Assistenten Linus (der Schnee täuscht, den gibt es hier „Tief im Westen“ bisher zumindest nicht). Nun geht es aber los:

 

Welches Buch liest Du momentan?

Im Moment lese ich auch mal wieder mehrere Büchern mehr oder weniger gleichzeitig:

Zadie SmithIm Roman folge ich Zadie Smith nach „London NW“ und lerne dort vier ehemalige Schulkameraden kennen, die nun als Anfang 30-Jährige ihre ganz unterschiedlichen Lebenswege zeigen, aber auch darüber nachdenken, ob es gute Wege gewesen sind, ob sie zufrieden sind.

MartynkewiczZusätzlich lese ich schon seit ein paar Wochen an Wolfgang Martynkewicz „Das Zeitalter der Erschöpfung“, in dem er der „Überforderung des Menschen durch die Moderne“, also dem Wechsel vom 19. ins 20. Jahrhundert, nachgeht und dabei interessante und erschreckende Parallelen zu unserer aktuellen Diskussion um Überforderung und Burn-out aufdeckt.

CyrulnikUnd dann bin ich noch auf Boris Cyrulniks Biografie „Rette dich, das Leben ruft“ aufmerksam geworden. Cyrulnik ist französischer Neurologe und Psychiater und ein angesehener Resilienzforscher. Sein eigenes Leben hat keineswegs von Beginn an unter einem glücklichen Stern gestanden, denn er  hat sich als sechsjähriger Junge in Bordeaux in der Synagoge der Deportation entziehen können und so mit Glück den Holocaust überlebt.

Warum liest du das Buch? Was magst du daran?

Zadie Smiths Romanthema hat mich einfach sehr interessiert: Wie lebt es sich als Einwanderer im armen Stadtrand von London?  Was bewegt die Menschen, welche Ziele haben sie, was erwarten sie von ihrem Leben? So ganz im Reinen bin ich mit dem Roman nach der Hälfte noch nicht, mal schauen, was ich nach der zweiten Hälfte sage.

Wolfgang Martynkewicz schreibt eine Kulturgeschichte der Erschöpfung, indem er das Phänomen in verschiedenen Bereichen, also in literarischen Zeugnissen, in Werken der Malerei, in Biografien bekannter Personen der Zeit und in der Medizin, aufzeigt und untersucht. Dabei gibt es viele interessante Einblicke in Diskussionen, die wir heute auch führen, die aber offensichtlich schon hundert Jahre alt sind. Es finden sich Diät- und Sportpläne, die merkwürdig aktuell sind, die Bedeutung der Arbeit als die Gesundheit förderndes Instrument wird dargestellt, aber auch Diskussionen zur Eugenik, die wir eher der Zeit des Dritten Reichs zuschreiben – und die heute auch wieder, wenn auch zögerlich, geführt werden. Das ist nicht nur gut geschrieben, sondern auch sehr interessant und spannend.

Bei Cyrulnik bin ich nach den ersten Seiten gespannt, wie er aus diesem Trauma heraus seinen Lebensweg gefunden hat und hoffe, dass er dabei auch etwas über die Resilienzforschung berichtet, also erklärt, über welche  Fähigkeiten Menschen verfügen, die sich auch in ungünstigsten Belastungen irgendwie zurechtfinden und psychisch gesund bleiben. Vielleicht findet sich hier sogar ein Anknüpfungspunkt zu Zadie Smiths Roman, denn die Protagonisten stammen ja aus armen Familien, die zum großen teil eingewandert sind und starten so unter erschwerten Bedingungen in ihre Leben.

Wurde dir als Kind vorgelesen? Kannst du dich an die Geschichten erinnern?

Ja, abends vor dem Einschlafen (fast?) immer eines von Grimms Märchen. Einige mochte ich sehr (Hänsel und Gretel, Aschenputtel, Dornröschen), einige mochte ich überhaupt nicht, weil sie mich sehr ängstigten.

Gibt es einen Protagonisten oder eine Protagonistin, in den/ die du mal regelrecht verliebt warst?

Nein, kann ich mich nicht erinnern.

In welchem Buch würdest du gerne leben?

Heute kann mich da keines mehr reizen, aber als Jugendliche hätte ich mir vielleicht eine Reise in ein Buch vorstellen können: erst zu den Kindern aus Astrid Lindgrens Büchern, später dann in Karl Mays Romane aus dem Wilden Westen, vielleicht sogar in die Welt aus den Südstaatenromane, die auch (neben Angélique) verschlungen habe. Was für einen verkitschten Mist ich so als Jugendliche gelesen habe!

Ein Lieblingssatz aus einem Buch?

„Ich probiere Geschichten an wie Kleider.“ (Max Frisch: Mein Name sei Gantenbein)

Lange Wellen treiben schräg gegen den Strand, wölben Buckel mit Muskelsträngen, heben zitternde Kämme, die im grünsten Stand kippen.“ (Uwe Johnson: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, erster Satz aus Band 1)

 

So, nun zerre ich ein wenig mit Linus am Stöckchen, damit es auch weiterfliegen kann. Gemeinsam werfen wir es weiter zu Mara (Bandit wird es schon fangen 🙂  ) von buzzaldrins  und zu Annas buchpost.

Ich freue mich schon auf Eure Stöckchenbeiträge!

Die Sonntagsleserin: KW # 04 2014

Die SonntagsleserinDie Idee der Bücherphilosophin, jeden Sonntag eine Blogrückschau zu betreiben, gefällt mir – schon seit ihrem ersten Beitrag Anfang Januar – sehr gut. Und nachdem sie ihre Idee zum  Mitmachen freigegeben hat, überlege ich von Woche zu Woche daran teilzunehmen.

Zum einen finde ich gut, über die Wochenrückblicke nicht nur die Leseeindrücke der mitmachenden Blogger anschauen zu können, sondern auch den ein oder anderen Blog zu entdecken, die ich vorher noch gar nicht wahrgenommen habe. Zum anderen kann ich mir vorstellen, dass die eigenen Beiträge als Sonntagsleserin das eigene Leseerlebnis im Netz archivieren und so erinnerbar machen.

Seitdem lese ich die Blogbeiträge anders, intensiver, so wie es mit auch mit meinen Romanen geht, seit ich darüber schreibe. Und beim genaueren Lesen ist mir aufgefallen, dass es in den einzelnen Wochen Themen gibt, zu denen sich die Beiträge zusammenfassen lassen. In manchen Wochen beherrscht ein bestimmter Roman das Interesse, in einer anderen lassen sich unterschiedliche Buchbesprechungen und Artikel zu einem Thema zusammenfügen. Um diese Themen „rund“ zu machen, muss ich wohl auch auf den ein oder anderen Beitrag zurückgreifen, der in den Wochen vorher erschienen ist, sich aber nun gut einfügt. Ich hoffe, das ist erlaubt. Und ich bin gespannt, obdieser thematische Blick auch in den kommenden Wochen immer etwas findet.

In dieser Woche haben sich viele interessante Beiträge gefunden, die sich dem Erinnern ganz besonders traumatischer Ereignisse und Erlebnisse beschäftigen:

Birgit von Sätze und Schätze stellte zu Beginn der Woche das nicht nur interessante, sondern auch wichtige Buch „Was hat der Holocaust mit mir zu tun?“ vor. In ihrem Beitrag zeigt sie auch merkwürdige Entwicklungen zur Relativierung der Holocaust-Debatte vor. Schon ein paar Tage vorher hat sie mit der Vorstellung des Jugendbuches „Nebel im August“ die Geschichte Ernst Lossas vorgestellt, dem Sohn einer Landfahrerfamilie, der im Dritten Reich erst in einem Waisenhaus landet, dann in einem NS-Erziehungsheim, dort die Diagnose „angeborene Stehlsucht“ erhält, und somit als „asozialer Psychopath“ unter das Euthanasiegesetz fällt.

Gleich zwei Besprechungen, von Mara und von buechermanic, haben sich mit Melitta Brezniks Roman „Der Sommer hat lange auf sich warten lassen“ beschäftigt. Die Protagonisten Max und Margarethe tragen beide ihre furchtbaren Erinnerungen aus dem Krieg mit sich herum, ein ganz normales Familienleben ist damit nicht möglich. So zeige dieser „aufwühlende und ohnmächtig machende“ Roman, wie ein Krieg „ganze Familie entzweien und zerreißen“ kann.

Und wie weit die Familiengeschichten aus dem Krieg, die Fragen von Täterschaft und Verantwortung, bis in die Gegenwart reichen, das zeigen und diskutieren Dina und Klausbernd mit Hilfe von Familienfotografien auf ihrem Blog.

Vielleicht ist mein Blick auf rund um diese Ereignisse sehr geschärft gewesen, da ich am Sonntag den tief beeindruckenden Film „Das weiße Band“ gesehen habe. Der Regisseur Michael Hanecke erklärt in einem Interview, dass er in seinem Film die autoritär-patriarchale Zeit des Jahrhundertwechsels zeigen wollte, um Erklärungen zu geben, wie es zu Faschismus und Gewalt überhaupt kommen konnte, denn die Kinder des Films, die durch ihre bigotten Eltern mit ihrer ausgeprägten Doppelmoral mit einer menschenverachtenden Erziehung konfrontiert waren, sind diejenigen gewesen, die dann in der 1930er und 1940er Jahren das politische System getragen haben.

Wie schwer es ist, den Tod der eigenen Kinder zu begreifen und zu akzeptieren, wie wichtig die Erinnerung an sie ist, damit  beschäftigen sich die Bücher, die muromez und buchpost gelesen haben. Muomez schreibt über seine Leseeindrücke des Buches „Tonio“, dem Sohn des niederländischen Schrifstellers van der Heijden , und Anne von Buchpost hat Michael Köhlmeiers „Idylle mit ertrinkendem Hund“ gelesen.

Etwas zum Gucken

Und zum guten  Schluss und für einen dann doch fröhlichen Sonntagabend gibt es bei Petra, die auf ihrem Blog dazu einlädt, Bilder der eigenen Buchregale zu veröffentlichen, ganz viel zum Schauen, Schmunzeln und Staunen Mittlerweile hat sie schon neun shelfies vorgestellt, die alle ein bisschen auch unserer kleinen voyeuristischen Neigung Vorschub leisten, zu schauen, was andere Leser denn so im Regal stehen haben.

Und hier sind die anderen Seiten der Sonntagsleser

Bücherphilosophin

Literaturen

widerstandistzweckmässig

Sätze und Schätze

Buchpost

Auður Ava Ólafsdóttir: Ein Schmetterling im November

Olafsdottir_1Vierzig Tage lang drehen sich gleich mehrere Tiefausläufer über Island und vierzig Tage regnet es so viel, dass es zu Erdrutschen und Überschwemmungen in einem Ausmaß kommt, an das sich kaum ein Isländer erinnern kann. Durch die Überschwemmungen wird sogar ein Wal mitten im Dorf, direkt vor die Sparkasse, gespült. Dabei ist es mit 10 Grad so warm wie zur selben Zeit in Lissabon, ungewöhnlich, denn immerhin ist es November.

Aber nicht nur die Natur ist aus dem Lot geraten, auch das Leben der Erzählerin gerät gerät ordentlich durcheinander. Es ist der denkwürdige Tag Anfang November, an dem der Regen beginnt und das Eis taut und die Ereignisse sich förmlich überschlagen: Beim Ausliefern ihrer Lektoratsarbeiten an ihre Kunden überfährt die Erzählerin eine Gans und beschließt, die günstige Gelegenheit zu nutzen und ihren Ehemann am Abend mit einem vorgezogenen Weihnachtsessen zu überraschen. Vorher aber will sie das Verhältnis zu ihrem Liebhaber beenden, der ihr aber zuvorkommt, da er es nicht ertragen kann, dass sie sich nicht von ihrem Mann trennen möchte. Und dann ruft auch noch ihre Freundin Auður an und bittet sie, statt ihrer zur Wahrsagerin zu gehen. Die Wahrsagerin schaut in ihre Karten und berichtet ihr kurz Dinge aus ihrer Vergangenheit – die stimmen – und dann die Ereignisse der Zukunft, die reichlich merkwürdig erscheinen:

Alles, was ich hier sehe, sehe ich gleich drei Mal“, sagt sie, „drei Männer in deinem Leben auf drei Abschnitten von je 100 Kilometern, drei tote Tiere, drei kleinere Unfälle oder Zusammenstöße, die allerdings nicht unbedingt dich selbst betreffen, Tiere werden verstümmelt, Männer und Frauen überleben. Aber eines ist klar: Drei Tiere werden sterben, bevor du den Mann deines Lebens triffst. (…) Da wird noch das ein oder andere geschehen, es wird viel Nässe geben, Kurzsichtigkeit, Gier, Eingesperrtsein, mehr Nässe. (…) Wenn wir das jetzt einmal zusammenfassen“, sagt sie wie ein geschickter Redner, „dann haben wir hier eine Reise, einen Lotteriegewinn, Reichtum und Liebe, auch wenn es dabei wohl nicht mit rechten Dingen zugehen wird.  (S. 25 – 26)

Als die Erzählerin nach Hause kommt, natürlich hat sie vergessen, die Zutaten zu ihrem Gänsebraten zu kaufen, ist ihr Mann schon da. „So kann es nicht weitergehen“, beginnt er das Gespräch, „mit dir zusammenzuleben ist, als ob man ständig in einem nebeligen Moor umherirrt. Man tastet sich voran, ohne zu wissen, was als nächstes kommt“. Zum Ende des ausschweifenden Gespräches kommt er endlich zum Punkt und erklärt, dass er sich scheiden lassen werde, er sei seiner Kollegin Nina Lind bei der letzten Weihnachtsfeier näher gekommen, in ein paar Wochen bekämen sie ihr Kind. Während ihr Mann spricht, entdeckt die Erzählerin einen Schmetterling in ihrer Küche – auch ungewöhnlich für November.

Sie ist eine merkwürdige Person, die Ich-Erzählerin, aber eine sehr sympathische. Dreiunddreißig Jahre ist sie alt, seit über vier Jahren verheiratet, ein Kind wollte sie nie, sie findet, sie sei nicht zur Mutter geboren, schließlich müsse man ein Kind ständig suchen und so wird man gestört, wenn man gerade einen Blick in ein Synonymwörterbuch werfen möchte. Sie hat sich schon immer für Sprachen interessiert, schon zu Schulzeiten beherrschte sie mehr Sprachen, als am Gymnasium gelehrt wurden, und für das Rasenmäher beim Nachbarn wollte sie keine Süßigkeiten, sondern zwei Stunden Deutschunterricht. Nun arbeitet sie sehr erfolgreich als Lektorin und Übersetzerin. Aber mit den unverfrorenen Forderungen und Vorstellungen der Männer in ihrem Leben kommt sie gar nicht zurecht:

Und wenn Männer mit gegenüber wohlmeinend auftreten, sich männlich, sensibel und überzeugend zeigen, fällt es mir schwer, ihnen etwas entgegenzusetzen. (…) Auch wenn ich vielleicht zu viele Sprachen beherrsche, ist es mir schon immer schwergefallen, die richtigen Worte zu finden, von Angesicht zu Angesicht, als Frau gegenüber einem Mann. (S. 72-73)

So zieht ihr Mann aus, nimmt Bett und Gesundheitsmatrazen mit, die Schlafsäcke vom Sommerurlaub, die noch nicht gelüftet und per Reißverschluss zu einem einzigen verbunden sind, das Wohnzimmersofa und den dazugehörenden Tisch, die Hälfte der Bücher, aber auch einige Bücher, die ihr gehören, an denen sie hängt, beispielsweise, weil sie sie von ihrem Vater geschenkt bekommen hat. Und immer wenn er kommt, um etwas abzuholen, überredet er sie, mit ihm zu schlafen, und sie lässt es jedes Mal geschehen und sinniert darüber, wie sie nun zur Geliebten ihres Ex-Mannes wird. Als ihr Mann die Wohnung verkaufen möchte, verschenkt sie den Rest ihrer Habe und zieht mit ein paar Kartons in ihre Arbeitsappartment. Und sie beschließt, ihre Reise zu machen, einmal auf der Staatsstraße, einem Ring, um ganz Island herumzufahren, zuerst nach Osten zu den Ostfjorden, dahin, wo sie als Kind ihre Ferien bei der Großmutter verbracht hat. Sie fährt nicht alleine, denn ihre Freundin Auður, schwanger mit Zwillingen, wird den Rest der Schwangerschaft im Krankenhaus verbringen müssen, und bittet sie, den vierjährigen Tumi mitzunehmen, ihren Sohn, der gehörlos ist und schlecht sieht. Die Erzählerin füllt mit ihm einen Lottozettel ausfüllt – und  sie gewinnen.

Auf der verregneten Fahrt durch die graue Lavalandschaft treten durchaus die meisten der Vorhersagen der Wahrsagerin ein, meistens aber ganz anders als gedacht. Einige bleiben auch offen und verweisen so in die Zukunft. In den vierzig Tagen, die die Erzählerin den Leser mitnimmt, verändert sie sich tatsächlich Schritt für Schritt, einmal möchte man sie geradezu beglückwünschen zu ihrer endlich einmal konsequenten Haltung. Und natürlich trägt auch Tumi, der kleine Junge, der schon lesen und schreiben kann, außerdem sticken und stricken lernt und Fahrrad fahren, gehörig dazu bei, dass sie sich verändert – so wie Auður es vorausgesagt hat.

Obwohl mit Ausnahme des ungewöhnlichen Wetters nichts Aufregendes passiert, fesselt der Roman immer wieder mit überraschenden, oft kuriosen Wendungen. Die Erzählerin beobachtet ihre Umgebung mit genauem Blick auch für die ungewöhnlichen, die kleinen Details und sie erzählt ohne jemals zu bewerten. Ganz leichtfüßig macht sie das, mal nachdenklich, mal ironisch, mal das kleine Glück beschreibend oder das Gefühl von Freiheit. Und fast nebenbei nähert sie sich bei ihrem Aufbrauch und ihrer Reise doch mehr und mehr ihrer traumatischen, tief verschütteten Geschichte.

Manche Dinge, die zunächst merkwürdig, geheimnisvoll, gar unwirklich erscheinen, entpuppen sich als ganz normale Alltagsphänomene und die Menschen, denen die Erzählerin und Tumi auf ihrer Reise begegnen, sind gleichzeitig hart, manchmal brutal, aber auch sehr freundlich und fürsorglich; sie denken modern, tolerant und sozial und äußern dann Vorbehalte, die dazu in völligem Widerspruch stehen. Viele sehr junge Mütter gibt es, eine sehr offene Sexualität  und ausgesprochen viele siebzehnjährige Teenager, deren Hautunreinheiten gerade abzuklingen beginnen und die ihr dunkles Haar mit Gel zu bändigen versuchen.

Auður Ava Ólafsdóttirs Art des Erzählens aus dem Alltag heraus erinnert sehr an die Erzählhaltung Jón Kalman Stefánssons in seinem Roman „Sommerlicht, und dann kommt die Nacht“. Auch hier werden vermeintlich leichtfüßig und beschwingt die (Alltags-)Geschichten der Menschen eines Dorfes erzählt – und dann bleibt dem Leser doch das Lachen im Hals stecken. Das ist eine sehr angenhme, eine unaufgeregte Art des Erzählens, in der die Protagonisten nicht – des Plots wegen – in eine große Katastrophe geschickt werden, der dann weitere folgen, sondern die mit nichts mehr und nichts weniger als dem Wahnsinn des „ganz normalen“ Lebens konfrontiert werden und sich dabei zurechtfinden müssen. Diese Art dieses Erzählens ist mündlichen Berichten nachempfunden, es ist, als würde man abends um einen Tisch sitzen und erzählen, was man über die Nachbarn erfahren hat oder glaubt, erfahren zu haben.

Biblische vierzig Tage dauert der Regen auf Island. Als sich die Erzählerin am 23.12., zur Wintersonnwende, aufmacht, in die Stadt zurückzukehren, klart es zum ersten Mal auf und die Sonne fällt waagerecht in die Fensterscheiben ihres Ferienhauses. Inn ihren Strahlen sonmnt sich der Schmetterling. Und so hat Auður Ava Ólafsdóttir gleich mehrere Leitmotive gewählt, die auf einen Neuanfang für die Erzählerin verweisen. Und da sind ja auch noch die ausstehenden Weissagungen der Wahrsagerin..

Auður Ava Ólafsdóttir (2013): Ein Schmetterling im November, Berlin, Insel-Verlag

Wolfgang Schiffer hat mit seinem Blogbeitrag meine Neugier auf das Buch entfacht.

Claire Beyer: Refugium

Beyer_1Ein Fuchs kündigt das Unglück an, ein einäugiger Hund ist behilflich, es aufzuklären. Zwischen beiden Ereignissen liegt ein Jahr, ein Jahr der Ungewissheit, ein Jahr zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Schuldgefühlen und Wut, ein Jahr in der Schwebe, in der nichts abgeschlossen werden kann, in dem es keine Trauer gibt.

An dem Morgen, an dem Claudia den Anruf aus Lappland bekommt, ist der Fuchs nicht gekommen, der gewöhnlich nachts den Mülleimer untersucht und dabei den Deckel verschiebt. Robert, der in den Wintermonaten in Lappland auf den zugefrorenen Seen die neuen Autos testet, werde vermisst, sagt die Kollegin am Telefon, spät am Abend sei er losgefahren mit einem der Testautos zu einer nicht geplanten Fahrt und er sei nicht wieder zurückgekehrt. Ob sie etwas von ihrem Mann gehört habe. Schnell wird klar, dass den Kollegen nicht nur das unerklärliche Verschwinden Roberts Sorgen bereitet, sondern auch der Umstand, dass er mit einem der neuen Autos, einem Erlkönig, losgefahren ist, das nun ebenso verschwunden ist.

Leider, sagte ihr Gesprächspartner, könne er ihr nicht weiterhelfen. Er sei nur darüber informiert worden, dass Ingenieur Feldwehr gestern und heute nicht im Büro erschienen war. Das wäre fast in einem Desaster geendet, da die Versuchsreihen der Wintererprobung ohne die von ihm erhobenen Daten nicht hätten fortgesetzt werden können! Im Moment habe sich das Problem erledigt. Ein Kollege habe den Laptop mit den Daten in der Wohnung ihres Mannes gefunden. (S. 17)

Bei den Testautos geht es um handfeste wirtschaftliche Interessen, denn es werden die technischen Entwicklungen des Jahres nun in der Realität erprobt. Natürlich soll die Konkurrenz „aus Korea, aus Italien, Spanien, Bayern und (!) Deutschland“,  die ja ebenso vor Ort ist, um ihre Tests durchzuführen, keine Einblicke bekommen – und schon gar nicht Fotografen, die den Autos auflauern und Bilder machen, um sie an Zeitungen zu verkaufen. Und nun sei auch noch die Leiche eines dieser Fotografen gefunden worden und es stelle sich die Frage, ob nicht Robert etwas damit zu tun habe. Claudia möge doch umgehend nach Lappland kommen, man möchte dringend mit ihr sprechen.

Die geschäftsmäßig harsche Art ihrer Telefonpartner in Schweden stößt Claudia vor den Kopf, für sie geht es um ihren Mann – und die latent vorhandene Unterstellung, er habe etwas mit dem Mord zu tun, bringt auch das Bild, das sie von ihm hat, ins Wanken. Und natürlich beginnt sie nachzudenken über ihre Ehe und fragt sich, was von der Liebe nach den vielen Jahren noch vorhanden ist. Als Bibliothekarin hat sie gearbeitet und ist, noch bevor sie ihre Liebe für das Zeichnen in eine Ausbildung umsetzen konnte, in das Haus ihrer Schwiegereltern gezogen  und hat zwei Söhne erzogen. Im Haus hat sich seit dem Tod der Schwiegereltern nichts geändert: Robert wollte alles so erhalten, wie seine Eltern es eingerichtet hatten. Selbst ihr Bild hängt an gleicher Stelle an der Wand und „vorwurfsvoll“ schauen die beiden auf Claudia herab. Aber auch Claudia hat sich etwas vorzuwerfen:

Wie Robert in Schweden lebte, entzog sich ihrer Kenntnis, sie war nie dort gewesen. Gemeinsam hatten sie es auf die Flugangst und den mühsamen Landweg geschoben. Aber es war mehr als eine Ausrede, sie beide wussten es. Claudia kannte nur Fotos der kleinen Wohnung, die Robert während des Winters bezogen hatte. Ob er sie in all den Jahren hintergangen hatte?  Nicht wieder der Gedanke! Wie oft hatte sie sich in den vielen Jahren seiner Auslandstätigkeit mit ihrer Eifersucht herumgeplagt. Und so lange, bis aus der Angst Gleichgültigkeit geworden war. Und jetzt? (S. 19)

Claudia fliegt nun also nach Nordschweden – ihrer Flugangst zum Trotz – und stellt sich den Befragungen der Kollegen und der Polizei. Sie wohnt bei Birgitta, einer Nordschwedin, die schon weit herumgekommen ist in der Welt, nun aber wieder in ihrem Elternhaus wohnt, dem gelben Haus, in dem immer ein Kamin für Wärme sorgt und viele Kerzen für eine angenehme Atmosphäre, und ab und zu im Winter Zimmer vermietet. Hier fühlt Claudia sich gut aufgenommen, in Birgittas Gegenwart fühlt sie sich wohl, hier findet sie ihr „Refugium“.

Und nun begleitet der Leser Claudia auf ihrer Reise in den Norden, aber auch auf ihrer Reise zu sich selbst während diesen einen Jahres, in dem alles in der Schwebe ist. Es könnte eine interessante Reise, es könnte eine interessante Suche sein – noch dazu vor dem Hintergrund der Landschaft Nordschwedens im Winter mit langer Dunkelheit  und einer schwachen Sonne, mit Eis und Schnee. Einige wenige Passagen gibt es, die Landschaft und Wetter beschreiben. Licht in verschiedenen Formen, die Farbe Weiß, Fensterscheiben, die weite Blicke ermöglichen, sind hier immer wiederkehrende und sehr passende Symbole:

Der Sturm hatte sich gänzlich gelegt, und der Himmel hatte fast aufgeklart. Claudia griff nach ihrem Glas und stellte sich ans Fenster. Zum ersten Mal nahm sie das Nordlicht bewusst wahr. Wie aus einem riesigen Schlund kommend, hüllten die Lichtbögen den Himmel in violette, grüne und weiße Bahnen. Der dunkle Hintergrund war die perfekte Bühne dafür. (S. 83)

Trotzdem bleibt die Lektüre unbefriedigend:  manche Handlungsstränge sind unsinnig und unmotiviert – warum sollen Claudia und Birgitta unbedingt mitfahren nach Bodǿ in Norwegen, wenn sie dort doch nur ein paar Stunden bleiben und, auch wegen der Kälte, lediglich ein Schiff der Hurtigrutten besichtigen bevor sie wieder stundenlang zurückfahren? Warum reist Claudia zur Nobelpreisverleihung nach Stockholm, wenn sie ihren Sohn Torben dort doch nur ein paar Stunden sieht, ansonsten, weil sie zur Preisverleihung nicht mitgehen kann, aber alleine durch die Stadt läuft? Einige der Figuren sind überaus klischeehaft gezeichnet, so der ältere Sohn Magnus, der in Frankfurt in der Finanzbranche massiven Schiffbruch erlitten hat – darüber erfährt man nichts – und nun in eine Alkoholsucht abgleitet, die ihn so aggressiv macht, dass er gleich das ganze Mobiliar seiner Eltern bzw. seiner Großeltern im Garten verbrennt. Oder Birgitta, die nach vier Ehen wieder zurückgekehrt ist nach Nordschweden, ihr Interesse für die Herstellung von Silberschmuck entdeckt, den sie auf Märkten verkaufen kann und nun in der Sauna (!) Claudia zarte Avancen macht.

Und es fällt auch schwer, der Protagonistin Claudia wirklich näher zu kommen. Durch ihre Erzählweise wirkt sie äußerst betulich und bieder, schier endlos drehen und winden sich ihre Gedanken, wirkliche Gefühle bleiben hinter einer scheinbaren Fassade von Rationalität versteckt:

Dennoch rückten die Stadt [Stockholm] und das prachtvolle Ambiente der einzelnen Gebäude in den den Hintergrund, je mehr sie an ihr geheimes Vorhaben dachte, sich mit dem heutigen Tag von Robert zu verabschieden. (…) alles, was sie in den vergangenen Monaten betrachtet hatte, verlor unter seinem Schatten an Farbe und Zauber. Es gab keine andere Möglichkeit mehr, und das warf sie ihm [Robert] im Stillen vor. Er hatte ihr die Freiheit genommen und nicht einmal die Chance gelassen, um ihn trauern zu können. Schon allein deshalb würde sie die Gelegenheit nutzen und sich aus diesem Gefängnis zu befreien versuchen. (224)

Auch wenn der Roman zum Ende doch noch mit einer überraschenden Wendung aufwartet und so die Zeit der Schwebe endlich vorbei ist, so bleibt er hinter seinem viel versprechenden Anfang weit zurück.

Claire Beyer (2013): Refugium, Frankfurt am Main, Frankfurter Verlagsanstalt

Eine weitere Besprechung findet sich hier , ebenso ein Interview mit der Autorin.

 

Ulrich Tukur: Die Spieluhr

Tukur_1In seiner Novelle entführt Ulrich Tukur den Leser Schicht für Schicht in ein immer unübersichtlicher werdendes Dickicht, in dem die Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion immer schwerer fällt. Indem Tukur seiner Novelle den Untertitel „nach einer wahren Begebenheit“ zufügt und ihr gleichzeitig ein Zitat des – fiktiven – Majors Friedrich von Rotha voranstellt, spannt er geschickt den Bogen zwischen Wahrheit und Imagination:

Die Wirklichkeit ist der Schatten der Kunst. Es geht also nicht um die Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern um die Beschwörung des Mysteriösen, die Anrufung der verborgenen Seele der Menschen und der Dinge. (S. 7)

In Tukurs Novelle werden Ereignisse aus verschiedenen Zeiten erzählt. Aber: jedes dieser Ereignisse entwickelt sich mehr oder weniger schnell zu einer rätselhaften, unerklärlichen, geheimnisvollen, ja, mehr und mehr auch schauerlich-gruseligen Begebenheit. Ausgangspunkt dieser Entwicklungen ist immer wieder die Kunst, es sind Filmaufnahmen, die Bilder Séraphines, Musik eines Spinetts, die kunstvoll bestickten Vorhänge in einem Schloss, eine Tänzerin auf einer Spieluhr, die sich zur Musik bewegt. Was ist schließlich „wahr“, wenn Kunst entsteht, wie „realistisch“ fängt der Künstler die Wirklichkeit ein, was sieht er hinter den Dingen, die er künstlerisch gestaltet? Und wie ist dann wieder der Vorgang des Sehens, Hörens, Erlesens beim Rezipienten? Welche „Wahrheit“ sieht und hört er, welche Imaginationen tauchen in ihm auf, welche „inneren Welten“ fügt er dem Kunstwerk hinzu?

Eines der wahren Ereignisse der Novelle hat sich jedenfalls 1912 zugetragen. Der deutsche Kunstsammler Wilhelm Uhde, der in Paris lebt, „um in der französischen Republik die Freiheit und Geistesweite zu finden, die er in seinem wilhelminischen Vaterlande so sehr vermißte“, reist im Sommer nach Senlis, einem kleinen Ort in der Picardie, wohin es schon die Impressionisten verschlagen hat, der Natur und des Lichtes wegen.

Er, der die Männer den Frauen vorzog (in jenen Jahren nichts weniger als ein Verbrechen) , war entflammt für die moderne Kunst seiner Zeit, für all diejenigen, die die neuen, überraschenden Wege gingen, die Naiven, denen er den hübschen Namen „Maler des Heiligen Herzens gab; er kaufte Bilder, eröffnete eine Galerie, entdeckte, sammelte, förderte und setzte durch, was in den wichtigen, offiziellen Kreisen oft verlacht und gerne niedergemacht wurde. (S. 16)

Bei seiner Zimmerwirtin entdeckt er nun zufällig ein kleines Bild, kaum größer als ein Blatt Papier, auf dem ein paar Blumen zu sehen sind. Das Bild zeige kein großes Talent, keine technische Versiertheit, es ist überhaupt eher eine kindliche Darstellung, aber es rührt und elektrisiert Uhde:

Das kleine Bild zeigte, was es nicht zeigte.

Und genau das schien ihm das Wesen jeden wahren Kunstwerkes, daß sich nicht alles, der Tiefe entbehrend, an der Oberfläche zusammendrängte, daß die innere Welt, die diesen Augenblick hervorgebracht hatte, im Unsichtbaren vorhanden blieb, ja ihren weitaus größeren Teil ausmachte. (S. 14)

Er erkundigt sich bei seiner Vermieterin, von wem das Bild stamme, und erfährt, dass Séraphine es gemalt habe, die Putzfrau der Zimmerwirtin, die aus dem bäuerlichen Umland, wo sie schon eine Außenseiterin war und verspottet wurde, nach Senlis gekommen ist. Ein Engel sei ihr erschienen, so berichtet die Novelle und habe ihr befohlen zu malen und das tue sie nun auch mit großer religiöser Hingabe. Wenn sie in ihrer Kammer malt, durchaus mit Farben, die heute als toxisch gelten, spricht sie mit Gott und betet und dann stiegt die Heilige Jungfrau aus ihrem Bild über dem Bett hinab und zeigt ihr, wie sie die Natur auf das Bild bannen könne. Uhde unterstützt Séraphines Malerei, er bringt ihre Bilder nach Paris, macht sie bekannt, verkauft sie, bis der erste Weltkrieg die Beziehung zwischen den beiden vorerst beendet.

Ein zweites wahres Ereignis, das für diese Novelle eine Rolle spielt, ist im Jahr 2008 zu verorten. Der Franzose Martin Provost  dreht einen Film über Séraphines Leben und das Entstehen ihrer Kunst und Ulrich Tukur spielt die Rolle Wilhelm Uhdes. Und ein Schauspieler ist es nun auch, der uns die Geschichte rund um die Dreharbeiten zu dem Film über Séraphine in der hier vorliegenden Novelle erzählt.

Während nämlich bereits Szenen des Films gedreht werden, ist das Filmteam auch auf der Suche nach einer geeigneten Kulisse für Séraphines Kammer. Im gesamten Umfeld wird aber nichts Passendes gefunden und die Zeit rennt mehr und mehr davon. Und dann berichtet eines Montagsmorgens der Assistent, der eigentlich am Freitag Filmkopien nach Paris bringen sollte, dort aber nie angekommen ist und über das ganze Wochenende verschollen war, dass er an diesem Wochenende die Kammer Séraphines gefunden habe. Sie befinde sich im Schloss Montrague, ganz in der Nähe.

Was ist wahr, was ist Imagination? Der Assistent Jean-Luc hat den Blick eines Regisseurs, der weiß, wie eine Kameraperspektive sein muss, um ein Gesicht, um eine Landschaft ins Bild zu setzen sind, untermalt von Musik. Dieser filmische Blick leitet Jean-Lucs Erzählung von seinen Erlebnissen in diesem Schloss. Er erzählt sein Erlebnis mit dem Schlossherrn, als würde eine Kamera in das Auge des Marquis zoomen und dort taucht plötzlich ein weiteres Auge auf. Beim Zurückblenden der Kamera wird nun zunächst das Gesicht einer wunderschönen Frau sichtbar. Sie trägt Rokoko-Kleidung und sitzt an einem Spinett. Beim weiteren Öffnen der Perspektive erkennt Jean-Luc, dass hinter ich ein Schlosspark liegt und erkennt, dass er auf ein Bild schaut. Im Auge des Marquis sieht er dann auch eine zweite Szene, er sieht, wie Menschen in abgerissener Kleidung einen Saal stürmen, wie die hohen Türen auffliegen und zu Bruch gehen, er sieht, wie der Kristalllüster zerbrochen wird, wie Fenster beschädigt und Möbel umgeworfen werden, Porzellan zu Bruch geht. Der Marquis erklärt ihm, was er gesehen hat – als die Kameraperspektive wieder aus dem Inneren des Auges des Marquis zurückgeblendet hat.

Und Jean-Luc erzählt noch weitere Merkwürdigkeiten, die ihm im Schloss passiert sind: Er berichtet von Instrumenten und Musik, die eher in andere Jahrhunderte gehören, von Ahnenporträts, die im Schein der Kerzen, Elektrizität gibt es im ganzen Schloss nicht, zwinkern und sich bewegen, von der Warnung des Hausherrn, das Zimmer bloß die Nacht über nicht zu verlassen, egal, was passiere, vom Schlossherrn, der sich auch schnell in einen Irrenarzt verwandeln kann. Die Filmcrew scheint nicht so sehr über die Erzählung, sondern mehr über Jean-Lucs erschütterten und verwirrten Zustand besorgt und so machen sie sich am Abend nach Drehschluss auf die Suche nach dem merkwürdig-schauerlichen Schloss, das aber nicht mehr auffindbar ist. Und Jean-Luc verschwindet, nun völlig verzweifelt, in den Wald. Er wird noch einmal den Schauspieler besuchen, wird ihm noch mehr Details erzählen, wird dann verschwinden und sich in einem Baum erhängen. Und der Schauspieler wird nach dem Ende der Dreharbeiten noch einmal nach Jean-Lucs Schloss suchen, wird im Ort abbiegen und der schmalen Straße folgen.

Ulrich Tukur erzählt hier eine fantastisch-mysteriöse Geschichte so spannend und so glaubhaft, dass der Leser gebannt der Handlung folgt. Dabei steht beim ersten Lesen tatsächlich die spannende Handlung im Vordergrund und das Ende wirkt dann ernüchternd, enttäuschend. Aber beim Reflektieren der Geschichte wird immer deutlicher, wie kunstvoll Tukur hier wahre und belegbare Erlebnisse mit solchen verwebt, die mysteriös, unglaubwürdig, fantastisch sind, wie er immer wieder mit der Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion spielt, wie er diese Grenze für den Leser, der ihm völlig gut-gläubig folgt, immer weiter verschiebt. Und so kommt es dazu, dass der Leser die Menschen und Dinge um sich herum plötzlich mit völlig neuen Augen betrachtet  und „deren verborgene Seele“ zu ergründen versucht.

Ulrich Tukur (2013): Die Spieluhr. Eine Novelle nach einer wahren Begebenheit, Berlin, Ullstein-Verlag

Ein Interview mit Ulrich Tukur könnt ihr hier lesen. Und eine weitere Rezension zur „Spieluhr“ hat Mara heute auf ihrem Blog veröffentlicht.

Ein Frohes Neues Jahr 2014

2014Wenn auch verspätet, so wünsche ich Euch doch allen einen ganz besonders schönen Start ins Neue Jahr, beste Gesundheit und ganz viele tolle Bücher!

Ich habe ja im letzten Jahr erst das Bloggen entdeckt. Es hat mir einen großen Spaß gemacht, hier so viele Gleichgesinnte (Viel-)Leser mit meterhohen SUBs und nicht endenwollender Lust auf neue Bücher kennenzulernen und mit Euch zusammen die vielen, vielen Bücher zu entdecken.

Und das eigene Schreiben macht natürlich auch nur so richtig Spaß, wenn es auch Leser gibt. So kann ich mich noch erinnern, wie toll es war,  Eure ersten Kommentare zu meinen Beiträgen zu lesen, die ersten „Follower“ zu haben, auf den ersten Blogs verlinkt zu werden (vielen Dank an Euch alle!)  – und dann noch beim „5 lesen 20“ Projekt (Danke an Mara!) mitmachen zu können.

Und so wünsche ich mir, dass es in diesem Jahr mit genauso viel Freude, Motivation und Engagement weitergeht. Die Verlagskataloge verheißen ja auf jeden Fall spannende Lektüre – und vielleicht bleibt ja auch noch Zeit für die alten Werke (also die ungelesenen aus dem Herbst oder vielleicht sogar die noch viel älteren 🙂 ).

Ich habe über Weihnachten das graue Sofa gegen ein terracotta farbenes in Südtriol eingetauscht. Und wenn ich vom Sofa aufgstanden bin, gab es das zu sehen – manchmal war das sehr ermüdend:

Im Nebel

bei Sonne

magisch

Brücke

Panorama

müder Felix

müder_Linus

 

 

Blogparade von buchsaiten.de

header_5Schon zum fünften Mal veranstaltet Katrin von BuchSaiten eine Blogparade. Mit ihren Fragen regt sie an, die Lektüreerlebnisse eines Jahres zu überdenken. Das finde ich eine sehr gute Idee einer Rückschau und eines kleinen Blickes in die Zukunft. Weil mir der leicht erweiterte Fragebogen von Anna von buchpost.de so gefällt, habe ich ihre Ergänzungen gleich mal ganz frech hier mit eingefügt.

1.      Welches war das Buch in diesem Jahr, von dem ich mir wenig versprochen habe, das mich dann aber positiv überrascht hat? (und Begründung)

Im Prinzip landen ja nur solche Bücher auf meinem Stapel, von denen ich mir schon etwas verspreche, also eine interessante Handlung, ein tolles Thema oder eine ganz besondere Form. Aber es gibt natürlich Bücher, die mich beim Lesen dann trotzdem noch sehr positiv überraschen. Das sind oft Bücher, von denen ich vor ihrer Lektüre nicht viel gelesen habe, sei es im Feuilleton oder bei den Besprechungen auf den Blogs, so dass mich das lesen dann doch sehr positiv überraschen kann. Das sind in diesem Jahr u.a. folgende Bücher gewesen:

2.      Welches war das Buch in diesem Jahr, von dem ich mir viel versprochen habe, das mich dann aber negativ überrascht hat? (und Begründung)

Da gibt es eine ganze Reihe von Romanen, die mich beim Lesen mehr oder weniger stark enttäuscht haben, weil meine Erwartungshaltung durch Besprechungen, die ich an anderer Stelle gelesen habe, wohl zu hoch geschraubt worden ist oder in eine andere Richtung gelenkt wurde. Dazu zählt  Eva Menasse: Quasikristalle. Bei dem Roman, der sehr schön erzählt ist, hadere ich aber trotzdem mit der Konstruktion, da die Hauptfigur, mit einer Ausnahme, durchgehend nur von anderen Personen erzählt wird.

3.      Welches war eure persönliche Autoren-Neuentdeckung in diesem Jahr und warum?

Auch da gibt es gleich mehrere, von denen ich mich auf zwei beschränken möchte:

  • Angelika Overaths „Alle Farben des Schnees“ haben mich eine Autorin entdecken lassen, die einen sehr genauen, einen sehr ruhigen Blick hat auf die Dinge und von der ich auch ihre Romane noch lesen möchte.
  • Jonas Lüschers Novelle „Der Frühling der Barbaren“ zeigt auf unglaublich komprimierte Weise, welche Art von Barbarei in unserer kapitalistische geprägten Gesellschaft üblich ist und wie sich dies noch steigern kann, wenn es zum Zusammenbruch dieses Systems kommt. So freue ich mich auch auf weitere Bücher Lüschers.

4.      Welches war euer Lieblings-Cover in diesem Jahr und warum?

Mein Lieblings-Cover ist ganz klar der wunderbare Einband des Erzählbandes „Einen schweren Schuh hatte er gewählt“, in dem sich Texte über das Wandern und Lesen in Leukerbad versammeln. Dem Thema folgend ist der Einband als Wanderkarte konzipiert, sodass der Leser alle Touren auf den abgebildeten Karten mit verfolgen kann. So bekommt ein Buch-Cover noch einmal eine ganz besondere Funktion.

5.      Welches Buch wollt ihr unbedingt in 2014 lesen und warum?

Tja, das auf eines zu beschränken, ist ja für Lesesüchtige kaum möglich. Zunächst geht es ans weitere Lesen meines Stapels, in dem sich u.a. der gewichtige Band von Brigitte Kronauer „Gewäsch und Gewimmel“ befindet, aber auch das Buch von Wolfgang Martynekewicz „Das Zeitalter der Erschöpfung“. Und dann gibt es ja schon die Verlagsvorschauen für das kommende Jahr und die wunderbare Funktion bei dem Buchdealer meiner Wahl, noch nicht erschienene Bücher vorbestellen zu könen…

Und nun Annas Ergänzungen:

6.      Welches Buch oder welche Bücher hast du dieses Jahr wiedergelesen?

Da muss ich leider gestehen: Keines! Denn meistens türmen sich die neuen, vermeintlich noch tolleren, spannenderen, innovativen, super aktuellen, mega-modernen Titel auf meinem SUB, die die älteren Titel alle spielend ausstechen. Immerhin habe ich in diesem Jahr ein paar Bücher gelesen, die schon vor längerer Zeit erschienen sind, aber das hat ja nichts mit dem „Wieder Lesen“ zu tun.

7.      Und wenn wir schon dabei sind: Welches Sachbuch war dir in den letzten zwölf Monaten wichtig?

Da gab es einige, die mir sehr gut gefallen haben, allen voran John Lanchesters „Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt“. Unter diesem etwas sperrigen Titel rollt Lanchester die Geschichte der Finanzkrise auf gut verständliche und sehr gut lesbare Art und Weise auf. Dabei ist er parteiisch und bewertend, was die Lektüre immer wieder auch sehr witzig macht – obwohl dem Leser bei diesem Thema wirklich das Lachen im Hals stecken bleibt.

8.      Welche Bücher wären spurlos an dir vorbei gegangen, wenn nicht andere BloggerInnen dich darauf aufmerksam gemacht hätten?

Ich glaube, hier müsste ich nun fast die Hälfte der Titel notieren, die ich in diesem Jahr gelesen habe, denn die Blogs, denen ich folge,bestimmen mehr und mehr die Auswahl der Bücher, die ich lesen möchte. Ich merke ganz deutlich, dass mein Interesse sich verschiebt von den Feuilletonseiten der großen Zeitungen ins Internet. Aber ein paar Titel möchte ich doch nennen:

von buzzaldrins büchern:

von buchpost: Vea Kaiser: Blasmusikpop

von schöne seiten: Sascha Reh: Gibraltar

von literaturen durch den Bericht über die Lesung: Abbas Khider: Brief in die Auberginenrepublik

von libroskop durch ein Interview mit der Autorin: Jagoda Mariniċ: Restaurant Dalmatia

Angelika Overath: Alle Farben des Schnees. Senter Tagebuch

Overath_1Der kleine Ort Sent im Unterengadin scheint für Angelika Overath und ihren Mann seit vielen Jahren eine besondere Anziehungskraft zu haben. Nachdem sie viele Urlaube in Griechenland verbracht haben, beginnt die Bergwelt sie zu faszinieren, beim Skifahren zuerst, dann auch in den Sommerurlauben. Irgendwann kommt die Idee auf, hier eine Ferienwohnung zu kaufen, wenn erst genug Geld vorhanden ist. Und dann sehen sie, ein paar Jahre später, einen kleinen Zettel in einem Schaufenster, auf dem ein Bauernhaus in Sent angeboten wird, schon mit Plänen, wie hier zwei Wohnungen entstehen könnten. Sie verabreden einen Termin, sich das Haus vor Ort anzuschauen und wissen, „dass diese fremden Räume etwas mit uns zu tun hatten“. Und dabei ist der erste Eindruck nicht der beste: „Das Haus war häßlich. Rauher, auberginenfarbener Putz, blaue, abbröckelnde Fensterläden. Wie ein Balkon hing ein selbstgebauter Hasenstall auf mittlerer Höhe.“(S. 17)

Ein paar Jahre verbringt die Familie ihre Ferien in Sent, in ihrem umgebauten Haus, und schon kommt der nächste Gedanke: Wie wäre es, hier zu leben, das ganze Jahr über und nicht nur in den Ferien herzukommen? Das ist eine Frage, die bestimmt vielen Menschen durch den Kopf geht, meistens im Urlaub in einer besonderen Stadt oder am Meer, an einem See, in den Bergen, in einer ganz besonderen Umgebung eben, die man zu Hause vermisst. Vielleicht ist es auch das Lebensgefühl, das man bei den Ortsansässigen zu erkennen meint und bewundert, das quirlige Leben in den Bars, Restaurants und auf der Straße oder eine Freundlichkeit und Gelassenheit, die es zu Hause so doch nicht gibt. Vielleicht ist es schlicht das bessere Wetter, die Sonne und der blaue Himmel statt der ewigen grauen Wolken, die die Sehnsucht nach einer neuen Umgebung entfachen. Aber wie ist es, wenn der Urlaubsort auf einmal der Ort ist, an dem der Alltag stattfindet, wenn aus dem Sehnsuchtsort Heimat werden muss?

Angelika Overath zieht mit ihrem Mann und dem jüngsten Sohn, recht kurz entschlossen so scheint es, nach Sent und in ihrem „Senter Tagebuch“ erzählt sie dem Leser, wie es der Familie dort ergeht. Sie erzählt von dem vielen Schnee während des kompletten Jahres und sie erzählt, wie sie sich die neue Heimat und das Heimatgefühl erschließen. Und dabei schaut sie den Begriff der Heimat, der ihr Tagebuch wie ein roter Faden leitet, aus verschiedenen Perspektiven an, schaut in die Literatur, die Sprache, forscht, was Heimat für die Senter ist.

„Heimat richtig verstanden, hat zu tun mit Lebensqualität. Heimat ist ein Kürzel für Orientierungssicherheit, für konstante und verläßliche Beziehungen und Erfahrungen. In diesem Sinn, als Identitätsinstrument, ist Heimat ein wichtiger Gegenpol zu den diffusen globalen Tendenzen  (…) Wo ist die Heimat? In der Wohnung – im Haus – der Straße – dem Viertel – der Stadt – der Umgebung – dem Kreis – dem Bundesland – in der weiteren Gegend, die über die Grenze reicht – in  der ganzen Republik? Antwort: überall ein bißchen und je nach Situation. Heimatbezüge und auch Heimatgefühle profitieren von der Vielfalt des Heimatlichen.“ (Overath zitiert hier Hermann Bausinger, S. 180-181)

So erzählt sie in ihrem Tagebuch von ihrem Tagesablauf, vom Plausch mit den Nachbarinnen im Garten, im Ort, am Brunnen, vom Wegfahren aus Sent und von der Freude, nach Tagen, manchmal Wochen, zurückzukehren in die, ja, Heimat. Sie erzählt, wie sie teilnimmt an den Veranstaltungen im Dorf, wie sie im Chor mitsingt, beginnt, Klavier zu lernen, sich an den Festen beteiligt, eingeladen wird und einlädt, mit den anderen Kindern vor Weihnachten Plätzchen backt und so immer mehr und immer tiefere Kontakte knüpft zu ihren Nachbarn. Sie erzählt aber auch, welche Schwierigkeiten sie, die Schriftstellerin, deren Instrument die Sprache ist, beim Erlernen des Romanischen hat, der Sprache, die hier ganz selbstverständlich gesprochen wird und in der Schule als Unterrichtssprache gilt, bis die Schüler, erst in der vierten Klasse, Hochdeutsch lernen, als Fremdsprache. Sie möchte die Sprache richtig sprechen können, um dazu zu gehören – und es fällt ihr so schwer, sie zu lernen.

 21. Dezember

Wie singen. Am Dorfplatz, am Brunnen Curtin, am Brunnen bei der Plazetta, an unserem Brunnen Bügl Süt, am Brunnen Schigliana, am Brunnen Stron, dann vor der Kirche. Wir sind sicher 50 Sänger, Einheimische und Gäste. Gianna Bettina dirigiert. In dieser Nacht scheint sie nur aus vielen Armen zu bestehen. (…) Nach dem letzten Gloria sagt ein Baß hinter mir zu seinem Nebensänger: Quai d´eira fich bun. Das sei doch jetzt richtig gut gewesen. Hinterher gibt es Glühwein in der Grotta, aber ich gehe  nicht mit. Ich würde lieber mit ihnen gehen und nicht nach Hause. Aber ich möchte nicht deutsch sprechen und romanisch sprechen kann ich nicht. (S. 68-69)

Sie erzählt auch vom Aufwachsen ihres Sohnes, der den ganzen Tag mit seinen Freunden im Dorf herumtoben kann, der sich zum Fußballspielen im Sommer und zum Eishockeyspielen im Winter gar nicht erst verabreden muss, man trifft sich ja sowieso. Sie erzählt, wie er vom ersten Tag an mit viel mehr Freude in die Schule geht, auch wenn deren Inhalte doch sehr kritisch beäugt werden vom intellektuellen Besuch aus der ehemaligen Heimat, als in Tübingen, wie er im übrigen auch vom ersten Tag an kaum Schwierigkeiten mit der neuen Sprache hat. Wenn Angelika Overath von Schule und Schulleben erzählt, beschreibt sie damit auch ganz exemplarisch, wie das Zusammenleben im Dorf funktioniert: die Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs, meistens sind es ungefähr zehn, lernen nicht nur zusammen, sondern bereiten auch Feste vor, üben Schauspiele und Lieder ein, spielen Fußballturniere gegen Mannschaften anderer Schulen und knüpfen so in ihrer Kindheit ganz enge Kontakte untereinander. Und am Schuljahresende stellen alle Schüler ihre Lernergebnisse dieses Schuljahres vor – und erfahren so eine Wertschätzung der Besucher, der anderen Kinder, der Eltern, des Dorfes: „Das Dorf feiert seine Schüler.“ (S. 218)

Und neben diesen alltäglichen Dingen, die sie erzählt, reflektiert Angelika Overath auch immer wieder, was Heimat ist. Und auch hier liefert das Dorf viel Anschauungsmaterial. Sent, ein Dorf von 900 Bewohnern, mit 1450 m schon ziemlich hoch gelegen im Unterengadin, hat selbst eine bewegte Geschichte was Wegzug und Zuzug betrifft. Da gibt es zum einen die Feriengäste, die zum Teil schon in der vierten Generation  nach Sent kommen, manche von ihnen bleiben dann auch ganz. In jüngerer Zeit ziehen neuen Bewohner ins Dorf, meistens Menschen mit freien Berufen, die sich aussuchen können, wo sie wohnen und arbeiten, Journalisten, Dokumentarfilmer, Schriftsteller. Und es gibt die Senter, die vor über Hundert Jahren aus wirtschaftlichen Gründen nach Italien ausgewandert sind, dort Zuckerbäcker  geworden sind, Bars und Cafés eröffnet haben. Einige von ihnen sind so erfolgreich gewesen, dass sie sich Ferienhäuser im Dorf gebaut haben, ein Stück italienische Architektur im Unterengadin. Radulins werden sie genannt und ihre Häuser stehen viele Monate im Jahr leer. So finden sich alle Facetten von Migration auch in Sent. Aber natürlich gibt es auch die alteingesessenen Bauern, die nach wie vor Vieh haben und ihre Wiesen bewirtschaften.

Und immer wieder schildert die Autorin die gewaltige Landschaft, die hohen, immer weißen Berggipfel, auf die sie schaut, die fantastischen Farbspiele auf ihnen bei Sonnenauf- und –untergängen, der Schattenverlauf im Laufe des Jahres. Sie erzählt vom Skifahren bis in den April, von wunderbar, duftenden Sommerwiesen, durch die ihr Hund tollt, von warmen Sommerabenden, an denen es keinen Senter zu Hause hält, denn diese Abende sind tatsächlich selten. So wundert man sich gleich beim Lesen des ersten Eintrags vom 1. September über ihre Naturwahrnehmung, dass es warm sei und nach Schnee rieche. Und tatsächlich, am 3. September liegt der erste Schnee. Natürlich wird er schmelzen, aber Schnee wird es geben bis in den Juni des nächsten Jahres: „Sommeranfang, wir tragen Wollpullover und Anoraks. Es schneit fast bis hinunter ins Dorf.“ (S. 212) Und so begleitet der Schnee die Senter fast das ganze Jahr über.

Bei der Lektüre dieses wunderbar positiven und poetischen Buches über ein Jahr in Sent kann man verstehen, dass die Familie angekommen ist in der neuen Heimat, dass da wohl tatsächlich von Anfang an eine bestimmte Anziehung eine Rolle gespielt hat – die Anziehung als gemeinsames Werk von Wetter, Landschaft, Haus und Menschen, die einen festen Orientierungsrahmen und Erfahrungsraum schaffen. Und Angelika Overath erschließt sich auch mehr und mehr die romanische Sprache, nämlich nach Art und Weise von Schriftstellern: Sie schreibt Gedichte in der neuen Sprache.

Angelika Overath (2010): Alle Farben des Schnees. Senter Tagebuch, München, Luchterhand

Eine weitere Rezension findet sich hier

Abbas Khider: Brief in die Auberginenrepublik

Khider_AuberginenrepublikÜber Nacht aus einem Land zu fliehen, um die eigene Haut zu retten vor Willkür, Verhaftung und Folter, und in einem anderen Land bei Null anzufangen, das ist das eine. Das andere aber ist, dass Menschen zurückbleiben, Eltern, Geschwister, Freunde, die Freundin, und es keinen Weg gibt, mit ihnen in Kontakt zu kommen, nicht einmal um zu melden, dass man gut angekommen sei in der Sicherheit des benachbarten Landes, ohne dass die dienstbaren geister des Staates mithören und mitlesen und so die Zurückgebliebenen auch noch in Gefahr zu bringen. Vielleicht ist das heute leichter, aber 1999, in der Zeit, aus der uns Abbas Khider die Geschichte eines Briefes erzählt, galt das Schicken eines Briefes über die normalen Wege als sehr gefährlich.

So steht Salim seit zwei Jahren immer wieder ratlos vor der Post von Bengasi, in Libyen. Er ist zusammen mit anderen Studenten wegen Lesens „verbotener Bücher“ (S. 12) verhaftet worden. In der Folterkammer, die die Gefangenen als die „Schweiz“ bezeichnen, weil auf dem Elektroschockgerät der Aufkleber „Made in Switzerland“ prangt, hat er nichts verraten, keine Namen genannt. So meinte er vor allem Samia zu schützen, seine Freundin. Und während er im Gefängnis in einem Loch von einem Quadratmeter in absoluter Stille die Tage verbrachte, schaffte es sein Onkel, die Verhörpolizisten zu bestechen, so dass Salim entlassen wurde, bevor seine Akte bis in die Sicherheitszentrale gelangte. Salim musste nun die kurze Zeit bis zur Ankunft der Akte an ihrem Bestimmungsort nutzen, um zu fliehen. Über Syrien, wo er auch nicht bleiben konnte, weil ihm niemand die Geschichte mit dem Onkel glaubte, gelangte er dann nach Libyen. Alles wegen der subversiven Kräfte der Literatur!

Zwei Jahre sind mittlerweile vergangen und immer noch denkt sich Salim mehrmals am Tag einen Brief aus an Samia aber er kann ihn nicht losschicken, will er sie nicht gefährden. So weiß Samia nicht, dass er die Flucht geschafft hat, sie weiß nicht, dass er kein Verräter ist, auch wenn er schon nach einer Woche aus der Haft entlassen wurde, sie weiß nicht, dass er über mehrere Stationen nun im libyschen Bengasi gelandet ist und dort auf dem Bau arbeitet, sie weiß nicht, wie oft er an sie denkt, wie ihn nur seine Liebe und seine Erinnerung an sie alles ertragen lässt. Nun hat Salim in einem Café, das ein Iraker führt, von der Möglichkeit gehört, den Brief auf anderen Wegen nach Bagdad schicken zu können, nämlich über Reisebüros, die Kontakte haben zu Taxifahrern, Lkw-Fahrern, die bei ihren Fahrten immer wieder Briefe in den Irak schmuggeln. Salim entschließt sich, endlich seinen Brief an Samia zu schreiben, auch wenn er durchaus skeptisch ist, ob der Brief seine Empfängerin überhaupt erreicht:

Und diesen Brief habe ich für mich und das Nichts verfasst, weil er höchstwahrscheinlich seine Empfängerin nicht erreichen wird. Aber warum mache ich mir dann so viele Gedanken darüber? Ich habe doch, seit ich in Bengasi bin, aufgehört, alles begreifen zu wollen. Das sind unschätzbare Vorteile des Exils. Man erreicht eine Stufe völliger Gleichgültigkeit und nimmt die Dinge, wie man sie vorfindet. (S. 18)

Tatsächlich aber beginnt die Fahrt des Briefes aus Bengasi Richtung Irak erst einmal viel versprechend. Der ägyptische Taxifahrer Haytham Mursi nimmt ihn von seinem Chef aus dem Reisebüro  entgegen und wird ihn mitnehmen nach Kairo, wohin er drei Reisende bringt. Zwei der Reisenden sind auch Ägypter, Gastarbeiter in Libyen, die nur einmal im Jahr nach Hause kommen, der dritte ist Syrer. Er wird an der Grenze nach Ägypten nicht mit den anderen überschreiten können.

Für uns Leser bedeutet diese Reise des Briefes rückwärts in das Land, aus dem Salim fliehen musste, die vielen Menschen kennenzulernen, die daran beteiligt sind, den Brief zu transportieren. Und so lernen wir verschiedene Menschen aus den arabischen Ländern kennen und indem sie Ausschnitte ihres Lebens erzählen, Details ihres Tagesablaufs, ihrer Arbeit, von ihren Familien erzählen, berichten, welche Geschenke sie für Kinder und Enkel mitbringen, welche Schwierigkeiten  es immer wieder zu überwinden gilt, lernen wir vieles über den Alltag dieser ganz normalen Menschen. Das wirkt manchmal durchaus komisch, wenn der irakische Lastwagenfahrer in Amman zum Beispiel im Taxi fährt und ein Gespräch in Gang kommt über die jeweils merkwürdigen politischen Verhältnisse in ihren Ländern. So amüsiert sich der Taxifahrer ganz köstlich darüber, dass die Iraker, die durch das Handelsembargo kaum mehr Auswahl an Lebensmitteln haben, sich nun hauptsächlich von Auberginen ernähren:

„Wir essen nur noch Auberginen. Die Jungen im Irak haben unserem Land den neuen Zusatznamen gegeben ´Auberginenrepublik`. Das ganze Jahr ernähren wir uns von dieser Eierpflanze. Meine Frau versucht ständig etwas Neues aus den Auberginen zu kreieren: Auberginen-Bällchen, Auberginen-Suppe, Auberginen gekocht, gegrillt, gebraten. Sogar aus der Schale der Auberginen produziert sie Chips. Sie nennt die Auberginen entweder ´Königin der Küche` oder ´Herrrin der Bratpfanne´.“ – „Ihr Iraker! Ihr seid ein lustiges Völkchen und könnt über euch selbst lachen. Davon habe ich schon gehört. Es soll bei euch wirklich nicht einfach sein.“ (S. 79)

Manchmal aber ist sind die Geschichten, die hier zum Teil so ganz nebenbei erzählt werden, aber auch sehr bedrückend, wenn nämlich eben dieser Lastwagenfahrer darüber nachdenkt, den Tod seines Sohnes mitverursacht zu haben, weil er ihm immer wieder deutlich gemacht hat, wie wichtig es sei, die Wehrpflicht  auch während des irakisch-iranischen Krieges zu erfüllen, sonst könnte er nicht weiter Medizin studieren – und dann schlug eine Bombe im Lazarett ein und tötete den Sohn.

So gelangt der Brief über einige Stationen nach Bagdad und dort sofort in die Hände der Polizei, die natürlich nicht nur weiß, dass es diese Routen für Briefe der Exiliraker gibt, sondern selbst daran beteiligt ist, diese Routen über die vielen Reisebüros aufzubauen und in Gang zu halten. Schließlich lässt sich damit nicht nur sehr viel Geld verdienen, mit dem Zufriedenheit und Loyalität der Mithelfer gekauft werden kann, sondern die Polizei sitzt dann auch gleich an der Quelle und kann die Briefe sofort bei ihrer Ankunft begutachten und auswerten.

Abbas Khider zeigt uns mit seinem Roman, wie das Leben war in einem arabischen Land vor dem arabischen Frühling – und vielleicht auch heute noch ist. Durch den Wechsel der Ich-Erzählperspektiven erschließt sich dem Leser ein Kaleidoskop verschiedener Leben. So werden Einblicke gewährt in verschiedene Schichten der arabischen Gesellschaften: vom Flüchtling über den Lkw- oder Taxifahrer, die schon wohlsituierten Besitzer von Reisebüros, über den Polizisten in Bagdad bis hin zum Kopf  dieses besonderen Briefbeförderungssystems. Durch diese Erzählhaltung gelingt es dem Autor auch, sehr vielschichjtige Figuren zu erschaffen, sodass der Leser selbst bei den unsympathischsten Zeitgenossen zumindest dessen Motivation erkennen kann. Das ist niocht nur spannend geschrieben,sondern auch interessant und informativ.

Und das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum der Roman nicht die ganz große Literatur ist. Weil die Handlung so nah ist an der Realität, erscheinen die Erzählstimmen manchmal ein wenig hölzern, mehr so, als ob reale Menschen einem Journalisten ein Interview gegeben hätten – und jeden Gedanken, den sie haben, und jede Begründung ihres Handelns müssen sie ihm haarklein erzählen. So liest der Roman sich an manchen Stellen mehr wie eine Reportage.

Abbas Khider stellt seiner Erzählung ein wunderbares Bild der Welt voran: die Erde nämlich, oval wie ein Ei (oder eine Aubergine?), sei aufgespießt auf dem Horn eines Ochsen, der mit einem Fuß im Paradies stehe, mit dem anderen im Wasser der Schöpfung, dem dritten in der Hölle, dem vierten im Feuer Satans. Wenn er sich bewege, dann rotiere die ovale Erde auf seinem Horn und so komme es, dass immer wieder eine Hälfte der Menschheit dem Paradies zugewandt sei und die andere der Hölle. Und wegen seiner großen Weisheit bewege er sich von Zeit zu Zeit, so dass es zu einer ausgleichenden Gerechtigkeit für die Menschen komme. Aus unerfindlichem Grund aber hätte der Ochse vor einiger Zeit aufgehört, sein Gewicht von dem einen auf den anderen Fuß zu verlagern und so müsse die eine Hälfte der Menschheit schon eine geraume Zeit auf der dunklen Seite des Eies leben. Und wer nun auf dieser dunklen Seite aus seiner Heimat fliehen muss, findet nicht einmal eine Möglichkeit, Kontakt zu halten zu seiner Familie, zu seinen Freunden…

Abbas Khider ist auf Facebook  zu finden und betreibt eine Homepage. Und hier ist ein Bericht zu lesen über eine Lesung des Autors in Lübeck

Abbas Khider (2013): Brief in die Auberginenrepublik, Hamburg, Nautilus Verlag

Werkstatt: Aus Yak wird Bloody Mary

bm_2Nach dem  bunten Winterschal muss ich mal wieder etwas Dunkles, Einfarbiges stricken. Und etwas mit Muster, nicht ganz so „mindless“ wie der Schal. So kann bei einem einfarbigen Stück ein Muster für Ablenkung sorgen, sowohl beim Stricken als auch später beim Betrachten.

Im Woll-Glas wartet die schöne Yak in anthrazit. Genau das richtige Garn für ein kuschelige Winterjacke. Yak wird immer wieder in Verbindung mit Cashmere gebracht, sie sei ebenso weich, aber viel billiger. Weich ist sie wirklich, das merke ich schon beim Stricken. Und das schöne Zopfmuster der Bloody Mary von Thea Coleman hat es mir ja schon länger angetan. Auch der Schnitt gefällt mir, vor allem bei der kürzeren Version, die auf dem Blog leider nicht zu sehen ist. So passt die Yak doch toll zur Bloody Mary, die wohl nun eine Darkgrey Mary wird.   bm_3

Das Muster ist recht einfach, nach zwei Wiederholungen braucht es kaum noch die Anleitung. Ein bisschen umrechnen musste ich natürlich, weil ich nie mit so dicken Garnen stricke, wie sie in den Anleitungen genutzt werden (viel zu warm!). Besonders gut bei Thea Colemans Anleitungen finde ich immer ihre Hinweise darauf,  an welchen Stellen man Entscheidungen treffen kann, um eine Teilstück größer, kleiner, länger, kürzer zu stricken. So muss man nicht sklavisch einer Anleitung folgen, sondern kann immer wieder eigene Anpassungen vornehmen.

bm_4Und weil ich die Yak mit 3,5er Nadeln stricke (ich finde die ja schon richtig dick), geht die Strickerei auch ganz munter voran und der Rücken ist, trotz richtig wenig Strickzeit  schon ganz gut gewachsen.

Hier gibt es Fotos der Designerin zur Jacke und wenn Ihr weiter nach unten scrollt auch noch eine Cockteil-Anleitung:

 

Michael Köhlmeier: Die Abenteuer des Joel Spazierer

Köhlmeier_SpaziererJoel Spazierer ist ein Lügner, ein Dieb und ein Mörder. Er ist ein Schutzengel, ein fürsorglicher Begleiter, ein liebevoller Vater. Er arbeitet als Automechaniker ebenso erfolgreich wie als Drogendealer und Professor für wissenschaftlichen Atheismus (!). Joel Spazierer bewegt sich problemlos in Städten des West- und des Ostblocks, wenn es sein muss, macht er sich unsichtbar und lebt wochenlang im Wald oder im Keller eines Luxushotels. Er kommt in der Unterwelt genauso klar wie in der Gesellschaft der Industriellen oder der Apparatschiks der DDR:  Joel Spazierer besitzt die Gabe der Anpassung an die unterschiedlichsten Lebensbedingungen.

Natürlich ist Joel Spazierer nicht sein richtiger Name. Geboren ist er, nach eigenen Auskünften jedenfalls, im März 1949 in Budapest als András Fülöp. Sein Großvater, Ernö Fülüp, ist Leiter der internen Abteilung an der Semmelweisklinik. Er gerät in die Hände der Staatssicherheit, deren Häscher ihn einsperren und foltern, weil sie ihm vorwerfen, er habe versucht, den Parteivorsitzenden Ungarns während einer Gallenblasenoperation auf Geheiß des jugoslawischen Politikers Tito zu ermorden. Seine Großmutter, Helena Fülöp-Ortmann, eine Ägyptologin, die mit einem Buch über Echnaton auf sich aufmerksam gemacht hat, wird in dem Zusammenhang auch inhaftiert. András, keine vier Jahre alt, bleibt einige Tage in der Wohnung zurück, bis seine Mutter ihn besuchen möchte und ganz alleine vorfindet. András erinnert sich genau, wie er in diesen Tagen eine eigene Welt erschaffen hat: die Tiere, die auf seiner Bettdecke zu sehen sind, wurden dabei lebendig, sie besuchten ihn und unterhielten sich mit ihm. Und András baute Straßen aus der Erde der Blumenkübel auf der Fensterbank, nachdem er sie herunter geworfen hatte. Der Arzt, der ihn nach diesen Tagen alleine in der Wohnung untersuchte, aber meinte, er habe die meiste Zeit geschlafen, vor Hunger und vor Kälte.

Es ist nicht nur eine merkwürdige Zeit, in die Joel hineingeboren ist, er hat sich auch eine merkwürdige Familie ausgesucht. Offensichtlich haben die meisten Familienmitglieder mit dem Tricksen und Betrügen schon alle ihre Erfahrungen gemacht: Die  Großmutter, die der sehr reichen Familie Ortmann mit Nummern-Konten in der Schweiz entstammt, hat ihre auch im Ausland so hoch angesehene Echnaton-Biografie gar nicht selbst verfasst, sie hat die Ausarbeitung ihres Professors lediglich in eine gut lesbare Sprache übertragen. Joels Eltern haben nach der – zweiten – Flucht nach Österreich plötzlich neue Namen, sind verheiratet und promoviert. Und Joel experimentiert mit der Lüge und ihren Wirkungen schon seit er sechs Jahre alt ist und noch einmal zu seinen einsamen Tagen in der Wohnung befragt wird. Zu diesem doch sehr frühen Zeitpunkt seines Lebens kann er auch schon seine erste Lebensmaxime in die Tat umsetzen, nämlich

dass es bei der Beantwortung einer Frage nicht darauf ankommt, die Wahrheit zu sagen, als viel mehr, den Frager in Erstaunen zu versetzen, indem man genau das sagt, was er hören will. (…) ich habe das (…)  erste Gebot meines Lügendekalogs inzwischen schon sehr oft zur Anwendung gebracht; ich bin zu einem Experten auf dem Gebiet der manipulativen nonverbalen Kommunikation geworden. Anders ausgedrückt: Ich durchschaue die Wünsche der Menschen, vor allem jene, die sie vor sich selbst nicht zugeben, und kann ihre Einstellung zu mir steuern, indem ich sie erfülle oder nicht erfülle, je nachdem, ob mir ihre Zuneigung günstig oder ungünstig erscheint. (S. 36-37)

Wie auch immer der Leser diese sehr anpassungsfähige Lebensmaxime beurteilt und ob er sie ihm überhaupt glaubt oder nicht, Joel Spazierer besteht mit diesem doch sehr positiven Blick so manches Abenteuer, in das der Leser sich wahrscheinlich eher nicht gestürzt hätte. So beschließt er zum Beispiel, in das Haus seines Freundes einzubrechen, als die Familie im Urlaub ist, um den Trsor auszuräumen. Als er von der Mutter des Freundes überrascht wird, erschießt er sie. Als er nach dieser Tat vor Gericht steht, führt der Staatsanwalt sich auf, als hätte der das leibhaftige Böse vor sich:

Die Frage lautet nicht: Womit haben wir es hier zu tun? Sondern: Mit wem haben wir es zu tun? (…) Frau Pongratz hat ein bedenkenswertes Bild gefunden. Ich zitiere aus ihrer Aussage: „Hans-Martin ist ein Zwischending zwischen einem Engel und einem Teufel.“ (…) Der Angeklagte aber ist nicht zu dem geworden, als der er sich Ihnen heute präsentiert – er war immer so. Er war so als zehnjähriger, als neunjähriger, als Siebenjähriger. Das Böse ist nicht in ihn eingedrungen – es wohnte von Anfang an in ihm. Er ist das Böse. (S. 295 – 300)

Das Wechseln zwischen Gut und Böse, zwischen sympathisch und unsympathisch, zwischen Freund und Mörder, zwischen Gott und Teufel wird Joel sein Leben lang fortführen. Und er wird auch immer die Nähe suchen zu Menschen, die sich mehr oder weniger professionell mit diesen Fragen beschäftigen: zu Eltern, zu der Justiz, zu Priestern und  Seminaristen, zu anderen Gefangenen, zur Partei, zu Studenten.

Aber Joel Spazierer reflektiert natürlich sein Leben lang nicht nur diese sehr ernsten Themen, sondern erzählt vor allem auch mit ganz viel Liebe zum Detail von seinen wunderbaren, geradezu unglaublichen Erlebnissen, von den vertrackten Geschichten, von dem Sumpf, in den er wieder und wieder gerät und aus dem er sich jedes Mal, wie Münchhausen in einer seiner Geschichten, mit Hilfe des eigenen Zopfes ziehen kann. Egal, ob er im Gefängnis von üblen Mitgefangenen malträtiert wird, egal, ob er im Ost-Berlin der frühen 1980er Jahre mit seiner sagenhaften Lügengeschichte, er sei nämlich der Enkel von Ernst Thälmanns, natürlich auffliegt, er bringt seine Schäfchen ins Trockene und schafft es immer wieder, ein gutes, ein sehr angenehmes Leben zu führen.

Der Leser folgt dieser Lebensgeschichte über 60 Jahre gespannt und mit großer Sympathie: Was wird noch alles passieren, welche Ereignisse werden über Joel Spazierer hereinbrechen, in welche wird er sich selbst hinein- und wieder hinausmanövrieren, wie schafft er es nur immer wieder, auf die Füße zu fallen? Dabei steht der Leser oft überrascht vor den merkwürdigen Volten, die  Joel Spazierers Leben schlägt. Das liegt vor allem daran, dass Joel Spazierer, der Ich-Erzähler, so gut wie nichts über sich berichtet, schon gar keinen Einblick gibt in seine Gefühlswelt. So entsteht beim Leser ein merkwürdiges, ein verschwommenes Bild über ihn, denn als Figur mit einem Charakter ist er kaum fassbar. Er muss ja auch permanent unecht wirken, denn seine Lügen bestimmen sein ganzes Leben und jede Beziehung zu einem anderen Menschen basiert auf diesem Lügengebäude. Dabei wirken die ständigen Überraschungen, die über den Leser hereinbrechen natürlich auch spannend – wenn auch nicht immer atemlos spannend – witzig,

Und dass die Geschichte spannend, witzig und auch interessant ist, erreicht Köhlmeier auch dadurch, dass er die seinem Roman vorausgehenden literarischen Abenteuer- und Lügengeschichten, und genauso Märchen und andere Geschichten, immer wieder in überraschender Weise zitiert: auf Münchhausens Geschichten bezieht er sich, auch das Münchhausen-Syndrom ist dem abenteuerlichen Erzähler nicht fremd, im Wald erlebt er mit dem amerikanischen Sergeant eine Huckleberry Finn Geschichte, am Ende sitzt er im tiefsten Russland in einem Käfig und wird nach dem Vorbild von Hänsel und Gretel gemästet und die Geschichte vom „schlauen Hans“, einem Pferd, das rechnen konnte, wird sowieso zur Inspirationsquelle für Joels psychologische Tricks.

Und so stellt sich dem Leser natürlich die Frage danach, was überhaupt wahr ist an den Geschichten, die ihm Joel Spazierers da auftischt. Verdächtig ist ja schon, dass ihm ein Freund treu bleibt und ihm beratend zur Seite steht, als er beschließt, sein Leben aufzuschreiben: Sebastian Lukasser, der Schriftsteller.

Ich habe mich inzwischen erkundigt, was ein Schelmenroman ist. Darin wird von einem Helden erzählt, der Schreckliches tut und Schreckliches erleidet, für ersteres nicht zur Verantwortung gezogen wird und am letzten nicht zugrunde geht, weil eigentlich nicht sein Schicksal interessiert, sondern das seiner Zeit, womit alle Menschen gemeint sind – außer ihm. (S. 283)

So möchte Joel Spazierer, aus verständlichen Gründen, sein Buch natürlich nicht verstanden wissen. Und wenn es doch so ist? Wenn tatsächlich gar nicht Joel Spazierer, der Lügner, der Dieb, der Mörder im Mittelpunkt der Geschichten steht, sondern, der Position Sebastian Lukassers folgend, viel mehr die Zeit, die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem, über die er berichtet und in der Lüge, Betrug und Mord in bestimmten – politischen, wirtschaftlichen – Formen durchaus salonfähig sind?

Michael Köhlmeier (2013): Die Abenteuer des Joel Spazierer, München, Hanser Verlag

FO: Ein Schal aus Schoppels Zauberball „Oktoberfest“

Oktoberfest_3Nun ist er fertig der einfach zu strickende, weil locker von der Hand gehende Winterschal aus wunderbaren Orange- bis Rottönen. Passend zum kalten Wind aus dem Norden (ob wohl heute schon Schnee kommt?) kann ich also mit warmem Hals in den sonnigen Nachmittag starten. Und bei dem Farbspiel des Schals kann ich mich durchaus zu  dem immer noch reichlich an den Bäumen hängenden und so schön leuchtenden Herbstlaub gesellen.Oktoberfest_1

Man braucht ja wirklich nicht -zig Schals mit dem gleichen Muster, aber den Farbverlauf von „frische Fische“ finde ich ja auch noch ganz toll…

Elke Heidenreich: Nurejews Hund

Heidenreich_1Ein Gastbeitrag von Felix, dem Hund

Weil sich hier die Arbeit auf dem Schreibtisch türmt, bin ich gebeten worden, noch einmal einen Gastbeitrag zu schreiben. In Erinnerung an mein letztes Werk stürzte ich mich voller Freude auf das ausgewählte Buch , wahrscheinlich auch, weil ich erwartete, es handele sich um einen sachlichen Beitrag zu den wichtigen Facetten meines Hundelebens, also dem Zusammenleben mit den Menschen, Tipps und Tricks dazu, wie man Menschen zum Spielen animiert, welche Spiele es gibt, die man Menschen anbieten kann, damit sie körperlich und geistig gefordert werden usw.  Dann entpuppte sich das Buch aber als Literatur. Und eine Literatur-Experte bin ich ja eigentlich nicht. Immerhin ist ein Hund auf dem Buchdeckel abgebildet.

Ich bleibe noch einen Moment bei dem Buchcover. Es stammt von Michael Sowa, einem Illustrator, der, so habe ich in recherchiert, auch schon Axel Hackes Bücher vom „Weißen Neger Wumbaba“ bebildert hat. Und auch für Elke Heidenreichs Geschichte von „Nurejews Hund“ hat er einige herausragende Szenen mit viel Liebe für Einzelheiten als Bild dargestellt. So hat der Leser dann auch gleich eine Idee, wie Oblomow, das ist der Held dieser Geschichte, aussehen könnte , obwohl er auch in Elke Heindereichs Text schon so deutlich beschrieben wird, dss ich ein geradezu vernichtendes Bild im Kopf habe – obwohl ich so eine arme Hundegestalt überhaupt noch nie gesehen habe:

Es war, wie der literarisch Gebildete unter den Lesern unschwer errät, ein besonders träger Hund. Auf relativ kurzen Beinen und sehr breiten Pfoten trug er einen schweren leib in den Farben schmutzig-weiß, beige und verwaschen schwarz, seine Augen tränten, seine kraftvollen Krallen waren zu lang und kratzten auf Parkettboden, seine Ohren hingen trostlos neben dem melancholischen Gesicht. (S. 5)

Dieser unbeweglich-übergewichtige Hund also tritt irgendwann in das Leben des schlanken, eleganten und überaus beweglichen Tänzers Rudolf Nurejew. Die beiden lernen sich bei einer Party des amerikanischen Schriftstellers Truman Capote kennen und offensichtlich entscheidet Oblomow sich dort dafür, dass er nun bein Nurejew leben möchte – frei nach dem Motto: Gegensätze ziehen sich an. Nurejew denkt natürlich, Oblomow sei Capotes Hund, immerhin hat er die beiden am Abend vorher dabei beobachtet, wie sie beide aus einer Silberschale Champagner getrunken haben, aber Capote behauptet steif und fest, den Hund noch nie gesehen zu haben, Nurejew habe ihn wohl mitgebracht. Die beiden streiten ein wenig, aber schnell wird Nurejew klar, dass er den merkwürdigen Hund so schnell nicht mehr los wird, zumal der wohl ein besonderes Faible für das Russische hat:

Er sprach mit ihm, zunächst Englisch, aber der Hund rührte sich nicht. Er sprach französisch – nicht einmal ein Schwanzwedeln. Dann sprach er leise ein paar russische Wörter. Da sprang der Hund vom Bett, setzte sich vor Nurejew und hob eine seiner dicken Pfoten. Der Tänzer war gerührt und streichelte des großen Kopf (S. 7/8).

Offensichtlich, so mein Schluss, ist Oblomow – diesen Namen bekommt er nun von Nurejew – ein ziemlich schlauer Hund, der die menschliche Sprache so perfekt beherrscht, dass er alle Menschen, wenn er möchte, um seine Pfote wickeln kann. Bei Nurejew jedenfalls klappt es, der Tänzer streichelt dem Hund nicht nur den Kopf, sondern nimmt ihn auch mit nach Hause, weil Oblomow sich ihm ganz einfach und ganz selbstverständlich anschließt. Und so zieht Oblomow in Nurejews Wohnung und in sein Leben ein. Besonders genießt der Hund es, wenn er mit zum Training in den Ballettsaal gehen kann. Dort residiert er auf einem wunderbaren Brokatkissen neben dem Klavier, lauscht der Musik und beobachtet, wenn er nicht in tiefe Träume versinkt, das Üben der Tanzschritte, die er so gerne sieht,, vor allem, wenn Nurejew sie tanzt:

Oblomow, der seine ideale Balance nur durch seine maximale Trägheit erreichte, konnte sich nicht satt sehen an den kraftvollen Sprüngen, die Schwerelosigkeit des Tänzers schien ihm ein Wunder, und wenn sein  Herr die Position ecarté de face einnahm, schräg gegenüber von Oblomow in seiner Ecke beim Klavier, dann vibrierte sein Herz vor Liebe, und die Augen wurden ihm feucht. Denn es erfüllten sich ihm Träume und Ahnungen von großer erhebender Kunst, die schon immer in ihm geschlummert hatten. (S. 19)

Naja, nun wird die Geschichte ein wenig komisch. Bisher konnte ich mir ja alles richtig gut vorstellen, Oblomow hat, wie die meisten Hunde mit einem besonderen Sensor für Menschen ausgestattet, sofort erkannt, dass Nurejew sich gut um ihn kümmern wird, und ihn sich so als Begleiter ausgewählt. Er genießt das Leben, dass er bei Nurejew führen kann und das seinen Neigungen zum guten Essen und faulen Herumliegen entspricht. Aber dass ein Hund sich ernsthaft für Tanz interessiert, ja, dass ihm geradezu das Herz übergeht, wie die Menschen so sagen, nur weil er sieht, welche Verrenkungen Nurejew da anstellt – das kann ich wirklich nicht verstehen.

Und es kommt ja noch viel besser: Als Nurejew nämlich gestorben ist und Oblomow bei „der Piroshkowa“ wohnt, da beginnt der Hund, nun neun Jahre älter und noch viel korpulenter als zu beginn der Geschichte, mit seinen eigenen Tanzübungen. Das passiert zwar zufällig, denn eigentlich liegt er auf dem Balkon, weil er schlecht schlafen kann und lieber durch die Gitter hindurch hinausschaut – was ich wieder sehr gut verstehen kann –, aber plötzlich beginnen seine Pfoten, sich zierlich zu kreuzen und er ahmt erste Tanzübungen nach. Und schon richtet er sich auf, hält sich am Balkongeländer fest und übt die verwegensten Schritte. Und das ist genau die Szene, die uns Michael Sowa auf den Buchdeckel gemalt hat.

Also das ging mir beim Lesen dann wirklich zu weit. Völlig unvorstellbar. Kein Hund will freiwillig und längere Zeit auf zwei Pfoten stehen, dafür ist er nicht gemacht. Ein Hund will rennen, schwimmen, schnüffeln, die Spielzeuge zusammen halten, auf die Hundekumpels aufpassen, darauf achten, dass die Menschen ihre Schlüssel, Schals und Mützen nicht verlieren und ähnliche Dinge, aber er will nicht zierlich-elegant tanzen. So habe ich mich auf dem Spaziergang meinen Menschen gegenüber geäußert und Elke Heidenreichs Geschichte ziemlich heruntergeredet. Mal davon abgesehen, dass sie mir zu pathetisch erzählt ist.

Da setzte sich mein Mensch auf einen gefällten Baumstamm und sprach mit mir über Literatur. Sie wüsste zum Beispiel gar nicht, ob Nurejew tatsächlich einen Hund gehabt habe und wenn ja, ob es so einer gewesen sei wie Oblomow. Das sei aber auch ganz egal, denn es gehe in der Literatur gar nicht um tatsächlich überprüfbare Wahrheit. In der Literatur gebe es immer mal wieder Beschreibungen von Dingen, die überhaupt gar nicht Realität sein können, aber trotzdem als Geschichte funktionieren. So gebe es zum Beispiel die weltberühmte Geschichte eines Angestellten, der sich über Nacht in einen Käfer verwandelt hat und deshalb morgens nicht mehr aus dem Bett aufstehen und pünktlich zu Arbeit kommen kann. So wie die Erzählung vom Käfer habe auch die Geschichte vom tanzenden Hund Oblomow eine tiefere Bedeutung. Darüber solle ich doch einmal nachdenken.

Ich bin sehr nachdenklich nach Hause getrottet und konnte wegen des vielen Überlegens und Grübelns nicht einmal mehr einen Stock tragen. So richtig kann ich mir den komischen tanzenden Hund aber immer noch nicht erklären.

Elke Heidnereich, Michael Sowa (2005): Nurejews Hund oder Was Sehnsucht vermag, München, Hanser Verlag

Marion Poschmann: Hundenovelle

Poschmann_1Es ist wohl sehr vorschnell gewesen, vor der Lektüre von Marion Poschmanns „Hundenovelle“ die Erzählatmosphäre in Nellja Veremejs Roman „Berlin liegt im Osten“ als melancholisch zu beschreiben. Wie, bitteschön, soll dann die Stimmung in der „Hundenovelle“ beschrieben werden? Als „zutiefst melancholisch“? Oder als „depressiv“? Jedenfalls drängt sich so schnell kein weiterer Text auf, der auf so eine brillante Art eine so bedrückte, schwermütige und hoffnungslose Stimmung heraufbeschwört, der sich der Leser kaum entziehen kann.

Die bedrückende Stimmung ergreift den Leser gleich auf den ersten Seiten: Die namenlose Ich-Erzählerin sitzt mitten in der Hitze des Sommers, es sind gerade die Hundstage, in einer Industriebrache und schaut sich genau an, wie schnell die Werke der Menschen, wenn sie denn verlassen und nicht mehr gepflegt werden, verwahrlosen, wie schnell die Natur sich das von den Menschen Geschaffene wieder zurückholt: es bröckelt und zerfällt, einfache Pflanzen wachsen in den Betonspalten und durch den Asphalt, am Rand des Platzes haben sich schon erste Büsche breitgemacht.

Stadtbrache, vages Terrain. Nichtort, wo jederzeit alles möglich war und nie etwas geschah. Ruderalflora siedelte sich an, erhob sich an windigen Stellen, auf offenen Flächen, in Übergangsgegenden. Langsam, sehr langsam schraubten sich Pflanzen aus dem verhärteten Boden hervor, sie wuchsen spiralförmig, drehten sich unmerklich nach oben, zu den Seiten, füllten Raum aus, ließen Knospen klaffen, Blätter lappen, verstreuten Blütenstaub, all das sah niemand, zu langsam, man sah es nicht mit bloßen Augen, sah vielleicht das Resultat, eine Verlängerung, eine Verdickung. (S. 7/8)

Die Ich-Erzählerin sitzt dort, den Kopf in die Hand gestützt, zu ihren Füßen Schrauben, zerbrochenes Glas, in der Luft Mückenschwärme, erste Fledermäuse. Plötzlich kommt ein großer schwarzer Hund aus dem Gebüsch, gesellt sich zur Ich-Erzählerin und rollt sich zu ihren Füßen zusammen. Das Bild, das in der Fantasie des Lesers entsteht, erinnert an Albrecht Dürer Stich „Melencolia“.  Auch dort sitzt ein weibliches Wesen – mit Engelsflügeln – auf einer Stufe, den Kopf in die Hand, zu den Füßen einen Hund. Der Stich gilt, trotz aller rätselhaften Elemente, als Sinnbild der Melancholie.

Den zugelaufenen Hund wird die Ich-Erzählerin auf ihrem Heimweg nicht mehr los, auch eine Straßenbahnfahrt kann ihn nicht hindern, ihr zu folgen und katzengleich schlüpft er gleich neben ihr durch die Haustür und schon ist er in ihrer Wohnung. Damit muss sich die Protagonistin in ihrem Tagesablauf umstellen. Sie, die es in der letzten Zeit offensichtlich darauf angelegt hat, für ihre Umgebung unsichtbar zu werden, muss nun wieder Kontakte aufnehmen, zum Tierheim, das den Hund aber nicht aufnehmen möchte, zum Tierfriseur, der Verfilzungen und Läusen zu Leibe rücken soll,  ins Tierfachgeschäft, um ein Hundebett zu kaufen. Zwar sind diese Begebenheiten Anlässe für die Erzählerin, ganz wunderbar zynische Betrachtungen zur Konsumindustrie rund um das Tier zu formulieren. Trotzdem mag sie nicht, dass sie plötzlich Menschen ansprechen, die Nachbarin mit den Ernährungstipps, andere Hundespaziergänger, sie weist alle barsch zurück. Manchmal scheint sie sich mit dem Hund zu arrangieren, sorgt für ihn, berücksichtigt seine Bedürfnisse, manchmal ärgert sie, dass sie sich auf ihn einstellen, dass sie ihren Tagesablauf nach ihm richten muss, manchmal ist sie so wütend auf ihn, dass sie ihm diese oder jene Qual wünscht.

Die Ich-Erzählerin spricht kaum über sich, nur ein paar Informationen helfen, ihre Vergangenheit zu erschließen. Sie hat mit ihrer Mutter zusammengelebt bis sie gestorben ist, befremdlich, dass sie gemeinsam im Doppelbett geschlafen haben seit der Vater die Familie verlassen hat. Die Mutter ist zugewandert aus Osteuropa und hat sich nie richtig eingelebt, ist immer erkennbar gewesen als Zugewanderte aus dem Osten. Die Erzählerin hat nach dem Tod der Mutter ihren gut bezahlten Job im Labor verloren, um eine andere Arbeit kümmert sie sich nicht, denn sie meint, dass sie nun endlich die Einsamkeit genießen könne. Die bringt der Hund nun durcheinander, denn er zwingt sie, mehrmals am Tag hinaus zu gehen. Aber eine Zeit lang sieht es fast so aus, als könnte er sie ein wenig aus ihrer Lethargie und Einsamkeit reißen, er zeigt ihr, wie man mit Stöcken spielt, zeigt ihr, wo man schwimmen kann.

Trotz allem: auch der Hund kann die Ich-Erzählerin nicht aus ihrer sich von der Umwelt ausschließenden Haltung abbringen. Sie geht da ganz geradlinig ihren Weg weiter, der Hund muss weg.

Marion Poschmann stand in diesem Jahr mit ihrem Roman „Die Sonnenposition“ auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis und hat für den Roman den Wilhlem-Raabe-Literaturpreis erhalten und ist auch schon für ihre Lyrik ausgezeichnet worden. Im Gegensatz zur „Sonnenposition“ dreht sich in dieser Novelle aber alles um das Dunkle und Schwarze als Bild der inneren Befindlichkeit der Erzählerin, um das Unsichtbarwerden eines Menschen, der Kontakte zu anderen Menschen mit aller Konsequenz meidet und sich am liebsten an Orten aufhält, an denen er andere Menschen eher nicht trifft, der sich so letztendlich selbst verliert. So sind auch ihre sprachlichen Bilder der Einsamkeit, des Aus-der Gesellschaft-Hinausfallens besonders beeindruckend:

Einsamkeit stellte ich fest, war ein Geschenk. Die Einsamkeit, in die ich geraten war, hatte ihre eigene Qualität. Etwas sehr Unauffälliges, sehr Stilles nahm mehr und mehr Besitz von mir, und ich beobachtete mit einer Art von Zufriedenheit, wie das, was ich bisher für mich gehalten hatte, immer mehr verschwand. Sobald man sich nicht bemühte, verschwand es. Sobald man keine Energie in Selbstdarstellung steckte, verschwand es.  (S. 46/47)

Und Marion Poschmann hat ihre Geschichte mit vielen Motiven und Mythen ausgestattet, die ihre Deutung zu einem ebenso rätselhaften Unterfangen werden lassen, wie dies für Dürers Stich gilt. Eben mit diesem Bild beginnt sie ja ihre Erzählung: die Ich-Erzählerin als die weibliche Figur in Dürers Stich, auch hier als als Verkörperung der Melancholie, vielleicht sogar besser: der Depression.

Ich war nackt. Emotional, versteht sich. Ich kroch mit bloßer haut durch ein Brennnesselgebüsch, die haarigen Blätter mit ihren Widerhaken streiften mich, bohrten mir ihr Gift ins Fleisch. Das war mein Umgang mit Menschen immer gewesen: vergiftet. Sobald ich einer anderen Person begegnete, benahm sie sich mir gegenüber wie eine Brennnesselpflanze. Sobald eine Berührung stattfand, emotional, versteht sich, bohrte sich etwas Unangenehmes in mich hinein, und ich brauchte Tage, um wieder einen normalen Zustand zu erreichen. (108)

Schon auf Dürers Stich ist ein Hund zu sehen, ein heller, sehr dünner Hund. Und der Hund spielt, der Titel verweist ja darauf, als Symbol eine besondere Rolle. Er kommt in verschiedenen Formen in der Erzählung vor, als realer Hund, der sich der Ich-Erzählerin anschließt, in den verschiedensten Formen der Gebrauchskultur, dann auch als Sternbild des „Großen Hundes“.

Wie ist er zu deuten, der Hund, der in so vielen Formen auftaucht? Dem Hund als Symbol können ganz unterschiedliche Deutungen zugeschrieben werden: nämlich einmal, seinen Fähigkeiten entsprechend, Treue und Wachsamkeit, Konsequenz bei der Erfüllung seiner Aufgaben, Mut und Geschick. In Poschmanns Novelle verhält sich der Hund tatsächlich als ganz treuer Begleiter. Als er sich seinen Mensch einmal ausgesucht hat, bringt ihn nichts mehr davon ab, in dessen Nähe zu sein. Der Hund also als beständiger und wohlgesonnener Begleiter, der die Ich-Erzählerin ein wenig in die Aktivität und Umgebung von Menschen zurückbringt?

Andererseits aber  erscheint der „schwarze Hund“ in vielen europäischen Legenden als eine Nachtgestalt, die durch ihre Größe und die leuchtenden Augen unheimlich ist, sonst Unheil verkündet und mit dem Tod verbunden wird. Im  Gegensatz zu Dürers Bild – und dem Buchcover – wird der Hund als schwarz beschrieben, als groß und elegant, und dünn ist er auch, nach dem Scheren kann die Erzählerin es deutlich sehen. Verkündet der Hund also mit seiner treuen Anhänglichkeit ein Unheil, den Tod gar, vielleicht den Selbstmord? Und Matthew Jonestone hat in seinem bebilderten Buch über die Depression den „schwarzen Hund“, so, wie er schreibt, schon Churchill seine Erkrankung bezeichnet hat, gar als seine Veranschaulichung der Depression genutzt („Mein schwarzer Hund. Wie ich die Depression an die Leine legte.“) Jede dieser Deutungen über den „Hund“ ermöglicht neue Perspektiven auf die Deutung von Poschmanns Novelle…

Die Ich-Erzählerin ist sich ihrer Situation sehr bewusst. So schreibt sie allen ihren Freunden, deren Adresse sie in ihrem Adressbuch findet, eine Postkarte mit Tiermotiv, auf denen sie jeweils einen Satz schreibt: Melancholia balneum diaboli est – Die Melancholie ist ein Bad des Teufels.

Marion Poschmann hat Dürers Melancholie in die Jetztzeit und in eine andere Kunstgattung übersetzt. Dies ist ihr auf besonders beeindruckend Weise gelungen. Und gegen ihre hoffnungslos düstere Atmosphäre weht in Nellja Veremejs Geschichte nur ein trauriges Lüftchen.

Marion Poschmann (2008): Hundenovelle, Frankfurt, Frankfurter Verlagsanstalt

 

Ein informativer Bericht über die medizinische und kulturelle Geschichte der Melancholie ist hier zu lesen. Hier ist auch festgehalten, dass das Zitat „Melancholia balneum diaboli ist“ von Robert Burton (1577-1740) stammt. Burton hat auch notiert, wer besonders anfällig für die Melancholie ist und beschreibt – u.a. – Menschen,

die von Natur einsam leben, große Bücherwälzer, ganz der betrachtenden Lebensweise verfallen und der aktiven entzogen – sie alle sind am anfälligsten für Melancholie.

 

Ulrike Kolb: Die Schlaflosen

Kolb_1Es gibt doch wirklich nichts Herrlicheres, als sich abends ins Bett zu legen, sich wohlig unter der Decke auszustrecken, die Augen zu schließen und, in Morpheus Armen liegend, in die Traumwelt hinüberzugleiten – ganz egal, was der Tag so gebracht hat. Dann wird der Schlaf zu einem wunderbaren Gefühl des Gleitens und Schwebens, zu einer Fahrt „in das tiefe, wunderbare Dunkel, das man Schlaf nennt“ (S. 153).

Aber gerade mit dem Schlafen haben die Menschen, die an diesem späten Nachmittag ins Hotel Gut Sezkow anreisen, so ihre Schwierigkeiten. Seit Jahren können sie nicht mehr schlafen, höchstens zwei bis drei Stunden in der Nacht dämmern sie hinweg, dann wachen sie wieder auf und nichts hilft, um wieder einschlafen zu können: sie nehmen Tabletten, trinken warme Milch, schieben das Kopfkissen zurecht, (vgl. S. 177) nur um doch wieder eine „qualvolle Nacht [zu verbringen], ohne Ablenkung, ohne die Hilfe eines zerstreuenden Fernsehprogramms, nur seinen privaten Dämonen ausgeliefert, deren Toben sich in der Wüste einsamer Nächte seines Kopfes bemächtigt und ihm Angst macht, reine Angst“ (S. 145). Und viele von ihnen sind so müde, so erschöpft, dass sie sich sehnlichst wünschen, sich in ihrem Zimmer zu verkriechen, sich in ihr Bett zu legen:

Ja ausstrecken, nur ausstrecken, einfach hinlegen. Ins Dunkle sinken, nichts sonst, keine Geschichten mehr, keine fremden Leben, nur schlafen, weit fort von diesem allen. Aber selbst dazu ist sie zu müde – so müde, so unendlich müde. Sie wird es nicht mehr schaffen bis dort oben hin zu ihrem Bett. Ihr ist, als wäre sie immer so müde gewesen, ihr ganzes Leben lang, als bestünden sie und ihr Körper aus nichts als Müdigkeit, aus schwerer, schwerer Müdigkeit. Alles unter ihrer Haut ist Müdigkeit. ( S. 140)

Die meisten von ihnen haben schon so einiges versucht, um ihre quälende Schlaflosigkeit loszuwerden: Schlaftabletten natürlich, Psychotherapien und danach die randständigeren Methoden: Singtherapie, Traumatherapie, Sextherapie, Hypnose. Nun haben sie ein Seminar im Hotel Gut Sezkow gebucht bei einem Professor, der sich mit dem Schlaf auszukennen scheint, von allen der „Schlafpapst“ genannt.

Margot zum Beispiel hat das Seminar gebucht. Sie ist schon auf der Anreise so müde, dass ihr die Fahrbahnstreifen auf der Autobahn vor den Augen verschwimmen und sie sich lieber die letzten Kilometer von einem Taxi bringen lässt. Rottmann verbringt oft das Wochenende in einem dem Hotel benachbarten Ferienhaus von Freunden und hat nun das Seminar gebucht, weil auch er seit Jahren nicht schlafen kann, aber auch, weil er das Gut von innen besichtigen möchte, denn er meint, als kleiner Junge am Ende des Krieges mit seiner Mutter schon einmal hier gewesen zu sein. Margot und Rottmann lernen sich, in einer unangenehmen Situation für Rottmann, kurz kennen und beschließen später, als der Schlafpapst sich verspätet, im Restaurant gemeinsam zu Abend zu essen. Dabei unterhalten sie sich über ihre Leben, ihre Arbeit, ihre Beziehungen und natürlich auch über ihre Schlaflosigkeiten.

An einem Nachbartisch lärmen fünf Versicherungskaufleute, die das Seminar von ihrem Arbeitgeber spendiert bekommen haben. Aus verschiedenen Ecken Deutschlands kommen sie, aus Frankfurt an der Oder, aus Berlin, aus Köln. Hier sitzen Norbert, der erst mit zunehmendem Alkoholkonsum auftaut, Peter Mulik, der kurz vor den Pensionierung steht und ein hohes Tier in der Zentrale in Köln ist, Jeanine, die in der DDR in einem Lektorat gearbeitet und als alleinerziehende Mutter nach der Wende die Chance auf eine Umschulung zu Versicherungskauffrau ergriffen hat, und Friederike, einer studierten Soziologin und Pädagogin, die durch Kleidung und Aussehen jenseits der Klischees vom üblichen Auftreten von Versicherern gerade bei Künstlern und Intellektuellen erfolgreich ist. Sie lästern über die Versicherung und diskutieren angeregt grundsätzliche Gründe der Schlaflosigkeit. Und als Versicherer haben sie Einblick in die Statistik: „Vor vierzig Jahren ist kaum jemand wegen „Schlaflosigkeit zum Arzt gegangen, heute fast jeder Zweite.“ (S. 191)

Und dann ist da noch Inge Moll, aus Leidenschaft für alte Gemäuer Maklerin und sehr exaltiert im Auftreten. Schon wenn sie einen Raum betritt, groß, ein wenig übergewichtet, und ihn durchschreitet, kann sie gewiss sein, alle Blicks auf sich zu ziehen. Sie sitzt zunächst alleine im Restaurant, beobachtet die anderen Teilnehmer und hat Freude an ihren ätzenden Spekulationen. Sie ist die einzige, die das Schlafen schon seit Jugend als Zeitverschwendung ablehnt und sich fragt, warum der Mensch überhaupt schlafen muss, aber mittlerweile ist auch sie so müde, dass sie sich gerne einmal ausruhen würde, kommt nun aber auch nicht mehr in den Schlaf. In dieser Nacht wird sie erst das unglaubliche Geständnis Peter Mulicks hören, dann den Weinkeller des Gutes und die sich anschließenden Katakomben besuchen, um anschließend im blauen Salon in aller Öffentlichkeit nicht nur tief und fest und leise schnarchend einzuschlafen, sondern sich dabei auch noch aus ihrem Kleid zu befreien, so dass sie mit üppiger weißer Brust und nacktem Bauch daliegt wie die „Schlummernde Venus“ von Giorgione.

Man kann sich leicht vorstellen, in welche Verdrückung die Hotelleitung kommt, als der Schlafpapst im Laufe des Abends nicht auftaucht. Erste Gerüchte machen unter den Seminarteilnehmern die Runde, das Seminar sei ein „Jux, den sich jemand mit ihnen, den Schlaflosen, geleistet habe, es sei ein Schwindel, es gebe den Schlafpapst gar nicht, das Hotel habe sie womöglich hergelockt, um seine Übernachtungszahlen zu erhöhen. Die Hotelleitung entschließt sich, die Schlaflosen mit einem Zauberer, kulinarischen Köstlichkeiten und Wein, der „einem die Kehle hinuntergleite wie der liebe Gott in roten Samthosen“, die lange Nacht über bei Laune zu halten.

Und so erzählt uns Ulrike Kolb in ihrem großartig komponierten Roman von dieser einen denkwürdigen Nacht im Hotel Gut Sezkow. Wir Leser erleben diese Nacht, indem wir von Figur zu Figur wandern, immer wieder anderen Betrachtungen über die Geschehnisse folgen, unterschiedlichen Gesprächen in unterschiedlichen Konstellationen lauschen, immer wieder aus unterschiedlichen Augen auf die anderen Teilnehmer blicken, sie so zum Teil sehr präzise beobachten in ihrer Mimik, ihrer Gestik, sogar ihrem Schlafen. Wir nehmen Teil an den inneren Dialogen einiger der Figuren, und indem wir immer wieder die Perspektiven wechseln erkennen wir die Unterschiede in der Innensicht und Außensicht, erkennen, wie Spekulationen, Gerüchte und Lästereien entstehen. So entfalten sich vor unserem Auge viele verschiedene Charaktere und Lebenswege, merkwürdige Verhaltensweisen und innere Konflikte, immer wieder Berichte über gescheiterte Träume und Vorstellungen, dramatische Unfälle, die manchmal würdelosen Anforderungen der Arbeitswelt, zerbrochene Lieben, aber auch (selbst)ironische Betrachtungen, witzige und spitze Bemerkungen – mit anderen Worten: das ganz normale Chaos des Lebens.

Und neben der Geschichte des Abends und der Geschichten der Seminarteilnehmer entfaltet Ulrike Kolb auch verschiedene Blicke auf das Phänomen der Schlaflosigkeit. Zum einen nähert sie sich der Schlaflosigkeit immer wieder über die Sprache, nämlich immer dann, wenn sie ausgezeichnet anschauliche Formulierungen findet für den Schlafmangel, der alle quält, oder – auf der anderen Seite – gerade auch für den Wunsch, endlich in den Schlaf entfliehen zu können. Und in diesem oft beschworenen Wunsch wird auch immer wieder deutlich, dass Schlaf und Tod eine enge Verbindung haben. Sie nähert sich dem Phänomen natürlich auch, wenn sie ihre Protagonisten Diskussionen darüber führen lässt, aus welchen Gründen nun so viele Menschen schlaflos seien und so den Stand der Forschung aufzeigt.  Und, als dritte Art der Annäherung, indem sie auch in den Bereich der Kultur schaut. Hier bezieht sie sich nicht nur auf das Bild der „schlafenden Venus“, von der aufgrund ihrer Haltung vermutet wird, dass sie überaus wach sei und nur die Augen geschlossen halte, sondern verweist auch immer wieder auf Kafka, der nicht nur in der Unfallversicherung arbeitete, sondern auch unter Schlaflosigkeit litt.

Im Laufe der Nacht, dann, als der Zauberer seine Werke gezeigt und der Kellner Klavier gespielt hat, die Köstlichkeiten vom Buffet gegessen und der rote, samtige Wein in großen Mengen geflossen ist, werden die einen doch müde und schlafen ein, wo sie gerade stehen oder sitzen, und die anderen geraten in eine immer ausgelassenere, leichtsinnigere, mithin bacchantische, Stimmung. Es ist ein Schweben und ein Gleiten, fast wie im Traum.

Ulrike Kolb (2013): Die Schlaflosen, Göttingen, Wallstein Verlag

Übrigens: Dass uns allen das Schlafen wohl besonders wichtig ist, ist nicht nur an den großen Bettenhäusern zu erkennen, die an allen Ecken der Innenstädte ihre Waren mit dem Versprechen auf den schönsten Schlaf feilbieten, sondern auch daran, dass es einen Blog zum Thema gibt. „Ganzheitlich Schlafen nennt sich der und wird von Georg Mühlenkamp betrieben. Dort lässt sich herrlich zum Thema stöbern und es finden sich auch einige sehr schöne Zitate zum Schlafen, z.B. von  Erika Oehring, die dort Folgendes dort über den Schlaf sagt:

“Dieser (der Schlaf) ist eine der Sinnesfreuden der Menschen und bietet, ausgenommen von Rauschmitteln, für die Seele, die einzige Möglichkeit sich zu Lebzeiten vorübergehend vom Körper zu befreien.”  

Werkstatt: Aus Schoppels Zauberball „Oktoberfest“ wird ein Schal

Zauberball_WarnungSeit ich Jagoda Mariniċ „Restaurant Dalmatia“ gelesen und besprochen habe und tagelang Mia auf ihren Gängen durch die eiskalten Straßen Berlins begleitet habe, war für mich sonnenklar: Für den kommenden Winter brauche ich noch etwas Warmes für den Hals.

Schnell fiel meine Wahl auf einen Zauberball von Schoppel, weil Schoppel zum einen die tollen Zauberbälle_1„Banderolen“ mit Katze und Warnhinweis vor den Gefahren des Strickens hat. Zum anderen, und noch viel wichtiger, liefern die Zauberbälle, die eigentlich zum Sockenstricken gedacht sind, beim Stricken von selbst wunderbare Farbverläufe. Und wenn zwei Zauberbälle miteinander kombiniert werden, entweder zwei derselben Farbe oder auch unterschiedlicher Farben, und jeweils nach zwei Reihen eines Knäuels gewechselt wird, dann kommen dabei noch spektakulärere Farbverläufe heraus. Auch auf meinem Header ist so ein Schal in der – leider nicht mehr lieferbaren – Farbe „Schokoladenseite“, ihr könnt ihn ganz knapp über dem Sofarücken baumelnd sehen.

Zauberbälle_3Dieses Mal musste es „Oktoberfest“ sein. Da sind alle Rottöne enthalten, die man im Moment auch beobachten kann, wenn man durch einen Wald spaziert. Es leuchtet von Orange bis Dunkelrot mit so einer Intensität, dass es gar keiner Sonne bedarf, um die Farben zum Strahlen zu bringen. So sind auch die Rottöne beim „Oktoberfest“. Und als Farbklecks im bald beginnenden trüben Winter und zum gerne getragenen Schwarz, macht sich so ein Schal ja allemal.

Da die Farben sich selbst schon so schön verändern, braucht es keine Zauberbälle_2komplizierten Muster, um einen netten Effekt zu bekommen: 1 re – 1 li, „mindless“ vor sich hingestrickt bringen schon ein schönes Ergebnis. Einziger Wermutstropfen: wenn ähnliche Farben aufeinandertreffen, ergeben sich Passagen, in denen sich nichts bewegt. Nun sitze ich also beim Stricken gespannt vor den beiden Zauberbällen und hoffe, dass dies nicht so oft passiert.

Natürlich zeigt keines der Fotos die wirklichen Farben, durch die Fotografierei auf dem dunklen Sofa wirken sie alle zu hell. Allein das mittlere Foto mit Zauberbällen und ersten gestrickten Reihen gibt die Farben annähern so wieder, wie sie in der Realität auch sind.

Das Stricken ist einfach und macht von Reihe zu Reihe neugierig auf das Ergebnis der Farbverläufe. Also: auf in den bunten Herbst und Winter!

Und hier gibt es die ganze Farbpracht der Zauberbälle zu begucken.

Jagoda Mariniċ: Restaurant Dalmatia

Marinic_2Als Mia zu einem Auslandssemester nach Kanada kommt, geht alles plötzlich ganz leicht. Aus Mija Markoviċ wird Mia Markovich, aus dem Anglistik-Studium wird ein Studium der Kunst, niemand fragt sie, woher sie denn komme, aber jeder fragt, was sie als nächstes vorhabe, welche Pläne sie verwirklichen möchte. Alles ist so, wie Mia es sich immer erträumt hat, hier scheint auch für sie das pursuit of happiness Realität zu werden. Da ist Jane, bei der Mia wohnt, und die sich mehr um Mia kümmert, als ihre Mutter es je getan hat. Da sind die neuen Freunde, da ist Raphael, den sie beim Studium kennenlernt und der Dokumentarfilmer wird. Aus dem Auslandssemester wird ein Leben in Toronto. Mia bricht alle Brücken nach Europa ab, nichts soll sie mehr an ihr altes, unglückliches Leben erinnern. Und dann gewinnt sie auch noch den Grange-Prize, einen renomierten Preis für Fotografie, und ihr stehen noch viel mehr Türen offen als vorher schon. Mia aber fällt in ein tiefes Loch, verkriecht sich zu Hause, hat keine Ideen mehr, keine Interessen. Raphael drängt sie, „nach Hause zu fahren“, sie solle „ihre Leute besuchen“. Mia wehrt sich, sie bekommen Streit, aber schließlich fliegt sie nach Berlin. Ziellos läuft sie durch die Straßen, fragt sich, ob ihre Familie irgendetwas hinterlassen habe, aber dann kommt sie doch am Restaurant Dalmatia vorbei und findet Zora und Jesus.

Zora leitet das Restaurant seit Jahren mit ihrem unverwüstlichen derben Charme, den sie als „nicht-amerikanische-Kundenbindung“ bezeichnet. Bei ihr hat Mia als Jugendliche oft ausgeholfen, mit Zoras Sohn Ivo ist sie befreundet gewesen. Jesus, den Spanier, der wie ein Penner aussieht, aber als Übersetzer arbeitet, hat sie mitgebracht ins Restaurant, nachdem er ihr geholfen hat, von der Straße aufzustehen, auf der sie bei Schnee und Eis ausgerutscht und vor ein Auto gefallen war.  Jesus ist für Mia der erste Erwachsene, der sie ernst nimmt und ihr zuhört, der nicht in einer so anderen Erwachsenenwelt lebt.

Esist schon ein wenig unwahrscheinlich, aber Zora und Jesus nehmen Mia ganz schnell wieder auf, fast vergessen sind die vielen Jahre, in denen sie aus Toronto nichts von sich hat hören lassen. So verbringen sie viel Zeit mit Mia – und sie wissen beide ganz genau, welche Ratschläge Mia jetzt braucht, um sich selbst wiederfinden zu können:

„Und du meinst, das löscht das Leben aus? [fragt Jesus]

„Es hat dieses Leben bereits ausgelöscht“

„Du hast nichts vergessen, Mia. Nichts.“

„Ich weiß aber so gut wie nichts mehr. Ich weiß fast nichts.“

„Weil du aufgehört hast zu erzählen. Man weiß nicht einfach etwas oder erinnert es. Man muss es sich erzählen, sich und anderen. (…) Ich glaube nicht an ein Leben, von dem man nicht weiß, wo man herkommt. Und das meine ich nicht nur geografisch. Alles ist damit verbunden, selbst die Art zu lieben. Wer hat dich geliebt, wen hast du geliebt, wer hat dich geschützt, wer hat dich verletzt? Wer hat deine Träume zerstört, wer hat sie in der Welt platziert und wie. Und was genau willst du aus alldem machen?“ (S. 122/123)

Und so kommen langsam die Erinnerungen zu Mia, schieben sich in ihren Tagesablauf in Berlin, machen sich bei Gängen durch die Stadt bemerkbar, kommen abends oder während der Gespräche mit Jesus, Zora und Ivo. Mia ist in Berlin-Wedding aufgewachsen als Tochter von jugoslawischen Gastarbeitern. Im Viertel haben ihre Brüder mit ihren Fäusten dafür gesorgt, dass Mia Respekt entgegengebracht wird. Als sie nach Moabit auf das Gymnasium geht – weil es dort weniger schlechte Familien gebe, so meinen ihre Mutter und Zora – kennt niemand ihre Brüder. Und so meint Mia, sich selbst Respekt erprügeln zu müssen.

Ihre Eltern haben ihr Dort verlassen, weil sie hofften in Deutschland Geld verdienen zu können, um ein sorgenfreies Leben zu haben, weil sie hofften, genug Geld zu verdienen, um sich zu Hause ein schönes Haus bauen zu können, in das sie später zurückkehren könnten. Das ist ihre Hoffnung auf Glück, es sind ihre Wünsche und Träume, die sie so manches erdulden lassen, was ihnen in Deutschland nicht so gefällt. Aber für Mias Eltern erfüllt sich das Glücksversprechen nicht. Mias Vater Marko arbeitet auf dem Bau, später in der Metallverarbeitung, in seiner Freizeit hilft er auf Baustellen aus, in den Ferien baut er sein Haus im Dorf. Nach vierzig Jahren hat er Gicht und ist arbeitsunfähig. Sein Haus im Dorf, das nunmehr in Kroatien liegt, das er über Jahre mit den eigenen Händen aufgebaut hat, ist zerstört, Soldaten haben darin gehaust, er selbst hat ihnen den Schlüssel gegeben, als seinen Beitrag zum Krieg, in dem er mehr nicht helfen konnte.

Die Erinnerungen kommen in der Form der Stimmen der Menschen ihrer Familie und ihrer Umgebung, die ihr von ihren Leben erzählen. Ihr Vater erzählt vom Hunger in seiner Kindheit und von seinem großen Verrat, von der Fremdheit, die er empfindet, wenn er mit der heranwachsenden Mia und ihren in der Schule erlernten Meinungen konfrontiert wird, Zora erzählt, wie sie nach Berlin kam und wie sich ihre Träume in Luft auflösten, Ivo vom Sterben seines Vaters, Mias Oma Ana erzählt, wie sie es angestellt hat, sich und ihren Töchtern ein Leben ohne die Gewalt eines Mannes und Vaters zu ermöglichen, Zora, welche große Zufriefenheit sie aus Mias Entwicklung zu einer selbstbestimmten und unabhängigen jungen Frau hat gewinnen können.

Es sind die ganz starken Szenen dieses Romans, wenn die verschiedenen Stimmen und wenn Mia aus der Vergangenheit erzählen. Dann erschließen sich die individuellen Lebenswege, Motive, Wünsche und Träume der verschiedenen Figuren, dann wird erkennbar, wie die Menschen, manchmal  ihrer familiären oder dörflichen Umwelt, manchmal auch den großen politischen Verhältnissen zum Trotz, versucht haben, ihren Weg zu ihrem kleinen Glück zu gehen – und wie sie dabei auch gescheitert sind. Diese Geschichten sind unglaublich lebendig und zeigen uns sehr anschaulich die Lebenswege derjenigen, die, mitten in Europa aufgebrochen, als „Gastarbeiter“ nach Deutschland gekommen sind und sich nie wirklich dazugehörig fühlten.

Schwächer dagegen sind die oft langen Dialoge, die oft die Gespräche Mias mit den Personen der Gegenwart schildern. Das mag daran liegen, dass in diesen Dialogen zum Teil abstraktere Themen besprochen werden – die Frage der Ausprägungen nationaler Besonderheiten zum Beispiel -, es mag aber auch und vor allen Dingen daran liegen, dass hier oft der Streit in der Familie oder zwischen zwei Figuren wiedergegeben wird, der in einer schnodderigen, abwertenden Sprache geführt wird. Sicher, Streit ist nie eine freundliche Angelegenheit, aber die vielen Streitgespräche, die hier erzählt werden, zeigt ein anderes Bild der Figuren, als ihre doch oft sehr reflektierte Sicht auf die Dinge, die sie in ihren eigenen Erzählungen vermitteln. Und manchmal bräuchte es die Streitgespräche auch gar nicht, um Sprachlosigkeit, Hilflosigkeit, Ärger oder Wut deutlich zu machen.

Und so bräuchte es auch nicht immer die genaue Anweisung, die genauen Ratschläge, die nicht nur Mia gelten, weil offensichtlich alle – Raphael, Jesus, Zora – genau wissen, was ihr gut tut, sondern auch dem Leser genau vor Augen führen sollen, was das Problem ist. Hier hätte Mia und dem Leser ein wenig mehr zugetraut werden können…

Trotz der Einwände: Jagoda Mariniċ hat einen ungemein kraftvollen Roman geschrieben über die Träume und Wünsche der Einwanderer und Gastarbeiter, über ihre Leben und ihre Gründe für das Fortgehen und über ihr Ankommen in der Realität der neuen Welten. Und durch Mias Perspektive als Tochter hat sie der zweiten Generation eine Stimme gegeben, der Generation, die die Entscheidung wegzugehen nicht selbst getroffen hat und trotzdem den Riss in der Familie erkennt, sich trotzdem fremd fühlt und sich in dieser fremden Umgebung beweisen und einen Platz erkämpfen muss und die sich dann auch wieder selber für einen neuen Platz zum Leben entscheidet. Mia jedenfalls scheint sich nach ihren Tagen in Berlin mit ihrem alten Leben ausgesöhnt zu haben – und auch mit ihrem alten Namen.

Jagoda Mariniċ (2013):  Restaurant Dalmatia, Hamburg, Hoffmann und Campe

Ein Fernsehinterview mit Jagoda Mariniċ ist hier zu sehen , ein Radiointerview könnt ihr auf Tobias Lindemanns Blog hören. Die Autorin liest hier (Autorin suchen) aus ihrem Buch, hat eine eigene Homepage und schreibt dort auch an ihrem Blog.

[5 lesen 20] Nellja Veremej: Berlin liegt im Osten

Veremej_BerlinAls Kind wünscht Lena sich, Kosmonautin zu werden. Sie lebt ganz im Osten der Sowjetunion, dort, wo ihr Vater als Pilot die Grenze sichert nach Japan. In ärmlichen Verhältnissen leben sie dort, zwei Familien teilen sich eine Küche, sitzen, in verschiedenen Ecken des Raumes, beim Frühstück, beim Abendessen zusammen. Später, als ihr Vater bei einem Flugzeugabsturz stirbt, stellt sich heraus, dass er ein Verhältnis mit der Nachbarin hatte. Nun ziehen Lena und ihre Mutter zur Großmutter „in den Süden“, in eine Stadt am Kaukasus. Dort leben sie in der Nähe des Fleischkombinates, je nach Windrichtung ziehen Geruchsschleier vorbei. Das Fleischkombinat betreibt auch eine  Bibliothek, in einem Palais untergebracht und geleitet von Vera Antowna Gutova. Vera führt Lena nicht nur an die Weltliteratur heran, sie legt auch immer wieder neu eingetroffenen Bücher für sie zurück und liebt es, ausgiebig mit Lena über die Bücher zu diskutieren. Lena liest Victor Hugo, Tolstoi, Puschkin, Balsac, Stendhal, Gracia Marquez und eines Tages „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“. Beeindruckt ist Lena mehr von den Radierungen, weniger von der Geschichte, denn sie weiß den verlorenen Schatten, den Peter dem Teufel für einen immer gefüllten Geldsack überlässt, nicht zu deuten. „Was hat er mit seinem Schatten verloren?“ fragt sie Vera, die diese Frage auch nicht eindeutig zu beantworten weiß:

Nur in den Schundromanen werden alle Geheimnisse gelüftet, sagte Vera streng, die Literatur aber ist dafür da, die wichtigen Fragen zu stellen, sie muss sie aber nicht beantworten. (S. 79)

Als Teenager und angeregt von den französischen Filmen, träumt Lena von Paris, von Baguettes, die sie in einer bunten Tasche nach Hause trägt, einem Trenchcoat und schicken Lederpumps, von so sauberen Straßen, dass man zu Hause nicht gleich die Straßenschuhe ausziehen muss. Nach dem Abitur träumt sie von Leningrad, von der großen Liebe und nächtlichen Küssen an der Newa mit Blick auf die Schiffe und ihre weißen Segel. So verlässt sie zum Studium in Leningrad die Stadt am Kaukasus mit großen Erwartungen und ohne Trauer, dabei wird sie sich später nach Mutter und Großmutter, nach dem Walnussbaum im Hof zurücksehnen.

In Leningrad findet sie tatsächlich ihre Liebe, Schura, und gemeinsam erleben sie die Umbruch- und Aufbruchstimmung der Perestroika-Zeit, träumen später vom Westen, so wie immer schon alle nach Westen wollten, so wollen sie es nun auch wagen und reisen Mitte der 1990er Jahre aus nach Berlin. Dort aber erweist sich die Liebe als nicht haltbar, Schuras windige Geschäftsmodelle, die immer wieder scheitern, kann Lena, die mit ihrem Universitätsabschluss als Englisch-Lehrerin da arbeitet, wo so viele Einwanderinnen aus aller Herren Länder landen, nämlich in der Altenpflege, nicht mehr ertragen.

Als sie vor einem Jahr Geburtstag mit ein paar Freunden ihren Geburtstag gefeiert hat, gratulierte ihr Maria, ihre Kollegin im Altenpflegeheim mit einem Trinkspruch zum 43. Lebensjahr:

Es ist ein wichtiges Jahr, eine wichtige Schnittstelle, an der alle Planetenzyklen beteiligt sind!, sagte Maria sehr laut. Die Erntezeit! Ist die Saat aufgegangen, sind die Träume verwirklicht? Die Eltern werden alt, sie brauchen Hilfe oder sterben – wir werden mit der eigenen Vergänglichkeit konfrontiert… (…) Warum traurig? Schau mal genauer hin, wo es dich drückt, und verändere alles, um dir selber besser gerecht zu werden. Die Sterne sagen, dass es ein exzellentes Alter für Korrekturen ist.  (S. 87/88)

Für Lena hört sich das zu esoterisch an, viel zu leicht auch, als ob sich das Leben so einfach ändern ließe. Aber insgeheim zieht sie schon ein erstes Fazit, schaut sich an, was aus ihren Träumen geworden ist. Und angesichts dessen, was sie da sieht, bleibt ihr nur eine große Melancholie:

Damals wollte ich, dass das Leben so schnell wie möglich passiert. (…) Noch gestern hieß es, es liegt alles vor mir, und alles ist möglich, und über Nacht stehen mir keine Wunder und Überraschungen mehr bevor. Ich bin ausgewachsen, fertig gestellt. Ich werde keine Stewardess mehr, keine Professorin, keine Diva. (S. 10)

Was ist geworden aus Lenas Träumen? Zwischen den Fingern zerronnen sind sie ihr alle, keinen Traum hat sie sich erfüllen können. Zwar lebt sie im Westen, da, wo sie immer hin wollte, aber auch das ist nicht der richtige Westen, denn sie wohnt im falschen Stadtteil, im Osten, in der Nähe des Alexanderplatzes, und fühlt sich auch immer wieder hingezogen zu den anderen russischen Auswanderern, kauft in ihren Läden, geht in ihre Bars, lebt die russischen Rituale, wie sie sie aus ihrer Jugend kennt. Ihre große Liebe hat sich als Fata Morgana erwiesen und während ihre eigene Mutter weit weg von ihr lebt und ohne die Hilfe der Tochter auskommen muss, pflegt sie in Berlin die deutschen Alten.

Dies sind Herr Struck, Frau Gruschke und vor allem Ulf Seitz, der ehemalige Journalist bei der Ostberliner Zeitung. Ihn mag fühlt sich von ihm an ihren Vater erinnert, den sie ja kaum kannte. Sie kennt die Lebensgeschichte aller Patienten, besonders gut aber die von Ulf Seitz. Vor vielen Jahren hatte er sie schon einmal aufgeschrieben, als er nach den Wende in die Frühpension entlassen wurde, denn er, der angesichts der vielen Flüchtenden im Sommer 1989 noch das sehr kritische Sonderheft „Go West?“ herausgebracht hat,  ist nicht haltbar gewesen in der neuen Zeit. Nun erzählt er Lena seine Geschichte, wie seine Kindheit gewesen ist vor dem krieg, im krieg, was seine Mutter hat erleiden müssen am Ende des Kriegs, und Lena bewahrt sie auf, ist der letzte Mensch, der sie kennt. Mit Ulf Seitz verbringt Lena nun viel Zeit, sie gehen spazieren, sie kaufen gemeinsam ein, feiern Silvester zusammen, so wie es in Russland gefeiert wird, sie sprechen über Literatur – und sie kommen sich auch körperlich näher.

Nellja Veremejs Roman lotet immer wieder aus, was mit den Träumen passiert, die Menschen haben, wie sie versuchen sie zu verwirklichen und sich zurechtzufinden in den den politischen, den wirtschaftlichen Zeitläuften, wie sie in den großen Träumen scheitern und vielleicht nur die kleinen bewahren können. Ihr Roman ist natürlich auch eine Migrationsgeschichte, eine darüber, wie es ist, sich in der Fremde zurechtzufinden. Aber fremd fühlt sich auch Ulf Seitz in dem neuen Berlin, das ihn nicht braucht. Ihm bleibt immerhin sein kleines, vertrautes Viertel, das lange sein altes Gesicht bewahrt, lebt sein ganzes Leben in ein und derselben Wohnung, außerhalb dieser Umgebung mag er sich nicht aufhalten, verreisen schon gar nicht.

Nellja Veremejs Roman ist auch eine Auseinandersetzung mit Schuld – und mit Lebenslügen. Lena und Ulf, bei verdrängen sie Probleme und Konflikte, beide haben sich in ihren Erinnerungen vieles einfach schön gefärbt. Erst Marina, Lenas Tochter muss ihr aufzeigen, dass das Bild des heroischen Vaters wohl gar nicht der Realität entspricht, und Lenas Mutter wird wohl nie erfahren, dass ihre Tochter in Berlin eben nicht als Russischlehrerin arbeitet.

Und Nellja Veremejs Roman ist ganz eng verflochten mit der Literatur. „Berlin Alexanderplatz“ liegt nicht nur zur Lektüre bereit am Nachttisch von Ulf Seitz, sondern fließt auch gestalterisch mit ein in den Roman, durch die Orte, durch etwas über ein Jahr erzählter Zeit, durch Zitate und Geschichten. Auch ihr Roman ist ein Berlin-Roman, aber, genau wie bei Döblin, über die Stadt der einfachen Menschen, derjenigen, die nicht am großen Wohlstand teilhaben und hippe Partys feiern.

Und  auch „Peter Schlemihls“ Geschichte vom verlorenen Schatten findet immer wieder Eingang in die Handlung, Lena bekommt das Buch mit den Radierungen zum Geburtstag geschenkt, es frischt ihre Erinnerungen auf, und immer wieder ist Peter Schlemihls Geschichte auch ein Spiegel für Lena und Ulf: Was haben sie getauscht für ihren Schatten? Zum Schluss wird berichtet, dass Ulf „schattenlos“ sei, Lena aber hat einen Schatten, einen flüchtigen Schatten zumindest.

Nellja Veremej hat hier einen wunderbar, komplexen Debütroman geschrieben, der es mit seiner durchgehend melancholischen Sprache völlig zu Recht auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis geschafft hat. Schade, dass er nicht auch noch für die Shortlist nominiert worden ist.

Nellja Veremej (2013): Berlin liegt im Osten, Salzburg, Jung und Jung

Hier liest Nellja Veremej aus ihrem Buch und auf buzzaldrins findet Ihr eine weitere Rezension.

Hans Ruprecht (Hg.): „Einen schweren Schuh hatte ich gewählt…“. Lesen und wandern rund um Leukerbad

Ruprecht_Schuh_1Dieses Buch lädt einfach dazu ein, der Textkritik erst einmal eine Umschlags-Kritik voran zu stellen! Denn dieser wunderbare Schutzumschlag ist ganz ungewöhnlich für einen Textband, bringt aber das Herz eines jeden (Alpen-)Wanderers zum Hüpfen, denn der kennt sich damit aus, fremde Wege mit Hilfe einer Wanderkarte zu erschließen, um dann  zu überprüfen, wie der papierene Weg in der Realität aussieht. Ruprecht_Schuh-4Und so ist auf diesem Schutzumschlag nicht nur, wie gemeinhin üblich, Titel und Klappentext zu lesen, sondern er lässt sich auf fast die doppelte Größe aufkappen, und enthält dann eine Übersichtskarte über das Gebiet rund um Leuk und Leukerbad sowie kleinere Ausschnittskarten der 17 Touren, die die Schriftsteller der hier versammelten Texte unternommen haben. So kann jeder Leser – natürlich auch der nicht wanderaffine – jede Tour auf der Karte mit- und nachgehen und sich auf der die großen Übersichtskarte orientieren und sich in dem ganzen Gebiet Ruprecht_Schuh_3zurechtzufinden, schauen, aus welchem Tal die Wanderer starten, welche Routen sie über die Berghänge nehmen, wo nun genau die kleinen Orte, die sie durchwandern, liegen, welcher Gipfel hier bestiegen wird, welcher Wald durchschritten. Und: Der Umschlag ist aus so stabilem Papier, dass er, ganz anders als die normale Wanderkarte, auch nach dem siebenundfünfzigsten neugierigen Auf- und Zuklappen nicht an den Papierknicken anfängt auszufransen.

 

 

Der Band selbst versammelt nun siebzehn Texte, die um die Themen „Wandern im Wallis“ und „Schreiben“ kreisen. Entstanden sind sie im Sommer und Herbst 2012 von einigen der Autoren, die sich in Leukerbad zum internationalen Literaturfestival versammelt oder den in Leuk beheimateten „Spycher: Literturpreis Leuk“ gewonnen haben, einen Preis, der den ausgezeichneten Autoren das Recht einräumt, innerhalb der nächsten fünf Jahre jährlich zwei Monate in Leuk zu verbringen. Diese Autoren sind losgelaufen, mit Wanderschuhen, Rucksack und Proviant, und haben sich von ihrer Wanderung zu einem Text inspirieren lassen.

Und dabei sind – natürlich – die unterschiedlichsten Texte entstanden. So begleiten wir als Leser zum Beispiel Rolf Herrmanns Erzähl-Ich, das wahrscheinlich auch ganz nah ist an seinem biografischen Ich, wenn es von seinem Hotel in Leukerbad durch den Ort und über die „Promenade“ wandert und sich an ein Ereignis aus der Jugend erinnert

Auf der „Promenade“ spaziere ich gemächlich weiter, entlang an unbenutzten Tennisplätzen, klotzigen Appartmenthäusern, Hotels und Restaurants. Und plötzlich setzte die Erinnerung an jene kalte Februarnacht vor vielen Jahren ein, als ich genau denselben Weg gegangen bin: Tuftstrasse – Dorfplatz – Promenade. Mit einem Gefühl von überbordender Zuversicht. Soeben habe ich, ein für Literatur entflammter Gymnasiast, im Hotel Les Sources des Alpes zum ersten Mal einen Autor lesen gehört. Es war Paul Nizon. Aus Paris war er angereist. (…) (S. 46)

Zum ersten Mal in seinem Leben wird dieses Erzähl-Ich nun, mit fast vierzig Jahren, die acht steilen Albinenleitern erklimmen, die Leitern, die Leukerbad mit den Ort Albinen verbinden und lange Jahre, bis eine Straße gebaut wurde, die einzige Verbindung zwischen diesen Orten waren. In Albinen will er die Oma besuchen, die bald achtundneunzig Jahre alt wird, die ihr Leben lang in Albinen wohnte und immer Gedichte geschrieben hat. Jetzt aber kann sie das nicht mehr, denn ihre Hände zittern so sehr, dass sie ihre Schrift nicht mehr lesen kann.

Nora Gomringer, aus deren Text der Buchtitel entliehen ist („Einen schweren Schuh hatte ich gewählt. Natürlich auch einen entsprechenden zweiten, das Tragen von Socken hatte ich erwogen, die Entscheidung zugunsten blauer Exemplare gefällt.“) hat einen Vorlesetext ihrer Wanderung zum Leukerbader Wasserfall verfasst und mit Regieanweisungen verdeutlicht, wann die Akustik des mitzuführenden Xylophons das Lesen und die Wandereindrücke unterstützen soll.

In Judith Herrmanns als Erzählung klar einzuordnendem Text wandert eine Erzählerin auf das Torrenthorn, dessen Gipfel 2997,9  Meter hoch ist. Mit einer der ersten Bahnen schwebt sie Bergstation und wandert zügig weiter, 2 Stunden, so gibt ein Wanderschild Auskunft, soll der Aufstieg dauern. Sie schreitet durch das nasse Gras, lauscht ihrem schweren Atem, schaut auf den Nebel, der langsam am Bergrücken hochsteigt, zieht die mittlerweile verschwitzte Jacke aus, registriert die Kopfschmerzen, die wohl durch die ungewohnte Höhe entstanden sind, beobachtet Dohlen, die ihre Wanderung begleiten und sehnt sich in der unwirtlichen Landschaft hoch über der Baumgrenze dann doch nach der Anwesenheit anderen Wanderer. Und, endlich auf der Berggipfel, packt sie dann doch der Ehrgeiz, die 3000 Meter Marke zu erreichen und sie beginnt, Lösungen zu ersinnen, wie sie die fehlenden 2 Meter überbrücken kann: Vielleicht mit einem Felgaufschwung auf die Querstange des Gipfelkreuzes turnen und dann darauf sitzen und die Arme in die Höhe strecken?

Francesco Micieli erzählt von einer Wanderung, bei der ihm der Rilkewein die Sinne vernebelt, Christine Pfammatter macht die Rebwanderung und erinnert sich an viele andere Male, als sie diesen Weg gegangen ist, Urs Mannhart schickt Holger und Sinaida, zwei Angestellte eines großen hochdekorierten Kurhotels, auf den Weg ins Lötschtal, obwohl die Wetterprognose nicht gut ist und der Gondoliere, wie Sinaida den Mitarbeiter an der Seilbahn nennt, sie auf ihre unpassende Kleidung anspricht, Christoph Simon erzählt von einem Dichter und seinem Übersetzer, die sich zu früher Morgenstunde direkt aus der Bar, mit zwei Flaschen Aprikosenschnaps gut ausgestattet, auf den Weg über die Albinenleitern von Leukerbad nach Leuk begeben, wobei dem Dichter der Übersetzer abhanden kommt – Übersetzer seien nun mal unbeständig und haben die Natur des Nebels und der Blumen.

Die bei weitem beeindruckendste Geschichte erzählt  Tanja Maljartschuk, in der Ukraine geboren und nun in Wien lebend. Während sie auf den Wegen Rilkes, der seine letzten Jahre in Sierre verbracht hat, wandert, erinnert sie an den ukrainischen Dichter Wassyl Stus, der als Menschenrechtsaktivist in den 1970er und 1980er Jahren immer wieder inhaftiert und in Arbeitslager verbracht wurde und den allein seine Übersetzungen von Werken Rilkes am Leben erhielt. So schrieb er an seine Verwandten:

Meine Lieben, grämt Euch nicht zu sehr. Die Zeit schreitet voran, also rückt die Gerechtigkeit immer näher. Es geht mir hier besser als Ihr denkt. Mir fehlt es an nichts. Schickt mir vielleicht nur zwei warme schwarze Unterhosen und ein Gedicht von Rilke. (S. 171)

Die Übersetzungsarbeit an den Rilke-Gedichten hält ihn einigermaßen aufrecht, auch wenn er die Zeit nur körperlich schwer beschädigt überlebt. Beim zweiten Gefängnisaufenthalt jedoch, er hat sich nach seiner Entlassung im Zusammenhang mit der Olympiade 1980 in Moskau wieder kritisch geäußert und zu einem Hungerstreik aufgerufen, werden ihm die Privilegien des Lesens und Übersetzens entzogen, seine Bücher und Gedichte beschlagnahmt. Als er sich dann beim sowjetischen Staatschef Andropow über diese Bedingungen beschwert, wird er zu einem Jahr Isolierhaft verurteilt, das er nicht überlebt. Und Tanja Maljartschuk erinnert und erzählt diese Geschichte, während sie auf den Spuren Rilkes in einer im Gegensatz zu Stus` Erlebnissen geradezu unwirklich idyllischen Landschaft wandert.

So ist aus der Einfall, Schriftsteller ins Wallis zu holen, zunächst zu Lesungen, dann zu einem Literaturfestival und einem ungewöhnlichen Literaturpreis die weitere Idee entstanden, diese Schriftsteller einzuladen, sich von der Landschaft und den Wanderungen inspirieren zu lassen – hier ist sozusagen das Prinzip der Verfertigung der Gedanken beim Wandern zu erkennen – und kurze Texte zu verfassen. Der hier vorgestellte Band trägt diese Texte zusammen und zeigt dem Leser – und hier ist sicherlich nicht nur der wandernde Leser angesprochen – auf welch vielfältige Art und Weise eine Umgebung die Menschen inspirieren kann. Und so ist ein sehr schön aufgemachter  und natürlich auch inhaltlich sehr vielfältiger Band entstanden.

Hans Ruprecht (Hg.) (2013): „Einen schweren Schuh hatte ich gewählt…“. Lesen und wandern rund um Leukerbad, Zürich, Dörlemann Verlag

 

 

Joachim Zelter: Einen Blick werfen. Literaturnovelle

Zelter_BlickEin Albtraum: Den Schriftsteller erreicht eine Mail, in der sich ein gewisser Selim Hacopian vorstellt und berichtet, er habe ein Buch geschrieben. Nun bittet er den Herrn Schriefststeller, ihm doch etwas schiecken zu dürfen. Der Schriftsteller lehnt ab, sofort, er schickt eine Mail zurück, er will nichts lesen, hat selbst genug zu tun, den Schreibtisch voller Arbeit, voller eigener Texte, da will er sich nicht auch noch von fremden Texten die Zeit stehlen lassen. Erst nach seiner Antwort entdeckt er die komische Schreibweise einiger Wörter und ahnt, welcher Arbeit er gerade noch entkommen ist. Und dann entdeckt er aber auch, dass Selim Hacopian es nicht bei der Bitte belassen hat, etwas schiecken zu dürfen, sondern gleich einen Anhang beigefügt hat, egal, ob der Schriftsteller überhaupt etwas lesen möchte oder nicht. Der Anhang entpuppt sich als Lebenslauf, als ein ziemlich spektakulärer sogar:

Sehen Sie, es ist doch nur ein Lebenslauf. Geboren in Namangan, Usbekistan, Übersiedlung der Familie nach Pakistan, von dort ausgewandert nach Ägypten. Religion Koptisch. Davor andere Konfessionen. Offiziersanwärter. Eine erste Chinareise. Eine zweite Chinareise. Kamelreitlehrer. Pyramidenführer. Tauchlehrer. Übersiedlung nach Deutschland. Begegnung mit Gerhard Schröder. Koch auf einem Flussschiff. Studium des Byzantinistik und Ägyptologie… (S. 10)

Und nun kann der Schriftsteller Selim Hacopian nicht mehr entkommen. Selim meldet sich per Mail, verwickelt den Schriftsteller in Gespräche, bittet um die Signierung eines Buches, lauert dem ihm auf, wenn er durch die Stadt geht, überredet ihn zu einem Kaffee, dehnt seine Mittagspause, er staubt in der Stadtbibliothek die Bücher ab, bis in den Abend, nur um mit dem Schriftsteller zusammen sein zu können. Sie reden über dies oder das, über Literatur, darüber, dass Selim unbedingt Schriftsteller werden möchte Und natürlich bringt er eigene Texte mit, aus einem kleinen Rucksack wandern immer wieder neue Texte heraus, zuerst sein Lebenslauf, der solange überarbeitet wird, bis er sich liest wie eine Abenteuergeschichte. Dann bringt er ein Theaterstück mit, das den vielversprechenden Titel „Mein Onkel Leonid“ hat, später einen Roman mit gleichem Titel, dann auch Gedichte. Und immer bittet der den Schriftsteller, doch mal schnell einen Blieck zu werfen, nur einen ganz kurzen Blieck, bitte, und schon sitzt der Schriftsteller und arbeitet sich durch die unglaublichen Fehler des Textkonvolutes, das Selim ihm mitgebracht hat.

 Ob ich mir diesen oder jenen Text – nun auch noch die Gedichte – in einer freuen Minute – vielleicht einmal anschauen könnte.

Anschauen könnte.

So wie man durch ein Unglück einfach hindurchsieht oder hindurchfährt. Etwa an einem schwerem Autounfall vorbei, der plötzlich hinter der Straßenbiegung auftaucht. All die Trümmer und Glassplitter und ineinander verkeilte Autoteile. Überall Verletzte und notdürftige Verbände. So saß ich über seinen Texten. Wie ein Lazarettarzt arbeitete ich, mit groben, geradezu rabiat werdenden Amputationen und Schnitten – ganze Seiten oder Bündel von Seiten streichend, absägend, umstellend oder gänzlich neu schreibend, und immer wieder kürzend, ständig weiter kürzend – all das mit einer Unbeteiligtheit, mit der ich noch nie an literarischen Texten gearbeitet hatte… (S. 45/46)

Dieser Schriftsteller, der sich dem plumpen Selim Hacopian nicht erwehren kann, verlangt dem Leser einiges an Geduld ab, denn manchmal würde man dem Schriftsteller doch schon mal die Meinung sagen oder ihn sogar schütteln, weil er sich wieder hat einwickeln lassen. Zwar ärgert er sich über die ständige Verfolgung durch Selim Hacopian, manchmal wütet er auch oder leidet, manchmal hat er auch Mitleid, doch lässt er sich trotzdem immer wieder zu einem Kaffee überreden und schon sitzen die beiden gemütlich an einem Tisch zusammen und und alles geht von vorne los. Und der Schriftsteller wirft einen Blick, ach, tausende, denn die Geschichte geht so tagelang, monatelang, jahrelang. Und so kommt es, wie es kommen muss: Der Schriftsteller vernachlässigt seine eigenen Texte, ignoriert die Anfragen des Verlages, seine Lesereisen werden seltener, bis sie ganz aufhören,  und dann sind die Romane des Schriftstellers vergriffen und werden auch nicht mehr neu aufgelegt – die Höchststrafe.

Und Selim? Er hat seinen Job in der Bibliothek schon vor längerer Zeit verloren – bei den Pausen! – und so beschlossen, aus der Not eine Tugend zu machen und wirklich Schriftsteller zu werden. Zwar hat er noch keinen fertigen Text vorliegen, schon gar keine Veröffentlichung vorzuweisen, aber das macht ja nichts. Er ist eben ein Autor, der zuerst beschließt Autor zu werden und dann erst mit dem Schreiben anfängt. Und er schreibt ja, und der Schriftsteller liest und überarbeitet. Irgendwann sitzen sie so zusammen und Selim erzählt Geschichten aus seinem Leben, so von den Kamelen, die auf den Flughafen geraten sind und vor Hunger oder Langweile anfangen, an den Tragflächen der Flugzeuge zu kauen. Darüber könne er doch schreiben, meint der Schriftsteller, das wäre doch ein schönes Thema.

Selim legt direkt los, schnell liegt eine Erzählung vor. Und dann fängt Selim an, alle Verlage anzuschreiben und ihnen die Erzählung zu schicken. Und es passiert das Unglaubliche: ein Verlag – nicht irgendeiner, sondern DER Verlag, der mit dem großen Wappen im Logo – ist begeistert und will die Erzählung veröffentlichen. Nun geht alles ganz schnell: Selim Hacopian erhält einen Vertrag, seine Kamel-Erzählung und noch sechs weitere werden gedruckt, werden im Feuilleton begeistert aufgenommen („magischer Humor“, „welthaltig“, “orientalische Postmoderne“), werden Bestseller, kommen in Neuauflagen und Sonderauflagen heraus, es Spiele und Stofftiere zum Buch, natürlich Lesereisen, Interviews zu allen Themen dieser Welt, Auftritte im Fernsehen – und Geld. Der Schriftsteller beobachtet das  – staunend, ungläubig, ohne Worte.

Joachim Zelter hat hier die Geschichte einer „unerhörten Begebenheit“, der Begegnung von Schriftsteller und Möchtgern-Autor, erzählt. Es ist eine Geschichte vom Aufstieg desjenigen, der eine spannende, mehr oder weniger wahre Biografie vorzuweisen hat und seinem unbedingten Wunsch zur Schriftstellerei, obwohl er recht talentlos ist und schon gar nicht die Grundlagen der deutschen Sprache beherrscht. Und es ist die Geschichte vom Untergang des Schriftstellers alter Schule, der „nur“ eine Normalbiografie hat und dem offensichtlich gerade der unbedingte Wunsch, einen neuen Roman zu schreiben, völlig abhanden gekommen scheint. Dieser gepeinigte Schriftsteller selbst erzählt seine Geschichte  und seine Sätze, manchmal eindringlich kurz und knapp, manchmal erklärend komplex, häufig sich wiederholend, sind das sprachliche Pendant zu seiner emotionalen Verfasstheit, zu dem Hamsterrad, in dem er sich eingesperrt fühlt, weil er diesem Unglück Selim Hacopian überhaupt nicht mehr entkommen kann.

Joachim Zelter ist mit dieser Geschichte eine wunderbar ironische Parabel auf den Literaturbetrieb gelungen, auf eine Branche, die der Person des Autors, vor allem seiner Biografie, mehr Wertschätzung entgegen bringt, als seinem Werk, seiner Geschichte, seiner Sprache. Eine neue Epoche scheint angebrochen, nach Sturm und Drang, nach Realismus und Neorealismus jetzt also der „Curricularismus oder Curricularer Vitalismus“.

Und lässt sich diese Entwicklung hin zum „Tod des Textes“, also weg von dem Inhalt und von der Qualität einer Arbeit hin zur Person, nicht auch in vielen anderen Bereichen des öffentlichen Lebens erkennen, in der Politik, in den Medien? Stehen da nicht auch besonders die im Vordergrund, die zwar nichts vorzuweisen haben, aber, von keinem Selbstzweifel angekränkelt, besonders laut von sich behaupten, sie hätten es drauf?  Dann sind wir der Schriftsteller, der einen Albtraum erlebt, weil der von sich Überzeugte ihm alle Kräfte und Ideen raubt und ihn wort- und sprachlos zurücklässt.

Joachim Zelter (2013): Einen Blick werfen. Literaturnovelle, Tübingen, Klöpfer & Meyer

Über Joachim Zelter könnt Ihr hier mehr erfahren.

FO: Leaving aus Holst Coast Nutmeg

Leaving_3Endlich habe ich mal wieder ein Strickprojekt fertiggestellt. Über den Sommer und die Buchpreisrezensionen hat die Lust am Stricken doch ziemlich gelitten. Und als ich dann endlich – vor Wochen – beide Ärmel fertiggestrickt hatte, da fehlte mir die Disziplin, alle Einzelteile zusammenzunähen, den Halsausschnitt zu stricken und die Fäden zu verstecken.

Aber nun ist er endlich fertig, der schöne Leaving-Pulli aus dem Holst Garn Coast in der Farbe Nutmeg. Die farbe sieht in Wahrheit ganz anders aus, gar nicht so gelb, wie auf den Fotos, sondern so ein schöner warmer Honigton – aber Ihr wisst ja sowieso, wie Muskatnuss aussieht.

Die Wolle, es ist ja 55 % Merino, 45 % Baumwolle, wird nach dem Waschen sehr weich und kratzt natürlich überhaupt gar nicht. Sie glänzt sogar ein bisschen wie Seide. Es ist wirklich eine tolle Wolle, bei der ich jetzt mal genau beobachtete, ob, und wenn ja, wie schnell, sie anfängt zu pillen.

Und die Anleitung hat ganz hervorragend geklappt. Zwar habe ich alles umrechnen müssen, weil meine Maschenprobe gar nicht zur Anleitung passte, trotzdem konnte ich genau das tun, was in der Anleitung stand, halt nur mit meinen anderen Maschenzahlen. So habe ich zum Beispiel auch das Muster auf Vorder- und Rückenteil um ein paar Maschen verbreitert und  das ursprüngliche Muster für die Ärmel genommen. Die leichte A-Form des Pullis mag ich sehr und der weite Halsausschnitt passt auch sehr gut zum Modell. Und was das Muster betrifft, so sind einfach die gedrehten rechten Maschen der Clou, denn so entsteht zum einen das interessante Bündchenmuster, zum anderen die Rippen im Blattmuster. Aber: beim Stricken halten diese Maschen total auf.

Es spricht also nichts gegen weitere Modelle aus der Holst Coast und von Anne Hanson.

Leaving_5

Leaving_4

 

Michael Köhlmeier: Idylle mit ertrinkendem Hund

Köhlmeier_IdylleDer Lektor hat für den Schriftsteller eine ambivalente Funktion: Er hilft bei der Erstellung des Romans, unterstützt, liest kritisch, gibt Anregungen, motiviert und begleitet so den gesamten Schaffensprozess. Er ist aber auch derjenige, der alle Schnitzer sieht, jede inhaltliche und sprachliche Schwäche erkennt und aufdeckt, den Schriftsteller immer wieder mit seinen Unzulänglichkeiten konfrontiert und trotzdem natürlich eine jederzeit konstruktive Zusammenarbeit erwartet. So ambivalent sieht auch Michael Köhlmeier, der Ich-Erzähler, der keinen Hehl daraus macht, auch der Autor zu sein, seinen Lektor, Dr. Johannes Beer. Dr. Beer ist in der Branche ein anerkannter Experte, ein Lektor, um den ihn andere Schriftsteller durchaus beneiden. Aber es ist auch nicht immer die reine Freude, mit ihm, dem Genauen, dem Anspruchsvollen, zusammenzuarbeiten. Und so erzählt Köhlmeier seiner Frau Monika, dass der Lektor den Autor die Passage, die sprachlich nicht so gelungen scheint, vorlesen lasse – wenn der Autor uneinsichtig sei, durchaus mehrmals:

Wenn ich meiner Stimme zuhörte, die bei dieser Prozedur nichts anderes war als ein Messgerät zum Aufspüren meiner eigenen Unzulänglichkeit, dann kam es vor, dass ich mich zu ängstigen begann vor jener geheimnisvollen (dieses Wort hasste er wirklich) Person, die ich selber war, die unter meinem Namen bekannt war und der augenscheinlich mehr Dasein zukam als mir selbst, der ich lediglich die Rolle des Assistenten von Dr. Johannes Beer zu spielen hatte. (S. 22)

Zu Dr. Beer ist der Autor bisher zu Arbeitstreffen immer nach Frankfurt gereist. Auch dort, in Beer Büro, in dem die ganze Weltliteratur in den Regalen versammelt steht, haben beide kaum ein privates Wort miteinander gewechselt, über das Wetter höchstens und den Nahverkehr. Und Köhlmeier hat den Verdacht, dass auch im Verlag niemand so recht weiß, was der Lektor nach der Arbeitszeit macht, was ihn interessiert, wie er wohnt, wie er überhaupt nach Hause kommt und ob da jemand auf ihn wartet. Umso überraschender ist es für Köhlmeier dass Dr. Beer ihm bei Telefongespräch nicht nur das „Du“ anbietet, sondern sich auch noch bei ihm zu einem dreitätigen Haubesuch ankündigt. Und „der Johannes“, wie er den Besuch seiner Frau vorstellt, benimmt sich tatsächlich wunderlich: Er versteht sich auf Anhieb mit Monika – und sie sich mit ihm -, was Köhlmeier doch ziemlich befremdet. So lässt Monika ihm eine besondere Führung durch ihren Urwald zukommen, einer Ansammlung vieler Pflanzen, die im Wintergarten üppig wachsen und hier, ergänzt durch das ein oder andere wilde Tier aus Kunststoff, einen Dschungel gebildet haben. Johannes Beer ist völlig aus dem Häuschen, er bewegt sich tänzelnd durch das Pflanzenparadies und stößt, wenn er etwas Besonderes entdeckt hat, spitze Schreie der Begeisterung aus.

Aber nicht nur Dr. Beer führt sich merkwürdig auf. Auch die Natur ist in diesem Januar 2006 aus den Fugen geraten: Erst hat es so viel geschneit, dass in Bad Reichenhall das Dach der Eishalle durch das Gewicht der Schneemassen zusammengebrochen ist, und nun wird die Situation für viele Dächer, Bäume und Äste noch prekärer, denn Föhn hat eingesetzt und mit ihm Regen, so dass das niederdrückende Gewicht des Schnees noch mehr zunimmt. Und auch Dr. Beer erzählt die Geschichte (s)einer denkwürdigen Begegnung in der Natur. Auf seinem Spaziergang, er hat darum gebeten, jeden Tag alleine losgehen zu können, trifft er hinter der Autobahnbrücke einen großen dunklen Hund. Er, der solche Angst vor Hunden hat, freundet sich dann aber, geschützt auf der anderen Seite des Zaunes stehend, mit ihm an, der Hund wirkt ja auch kein bisschen bösartig und will ganz offensichtlich Kontakt mit ihm haben. Irgendwann verfüttert Dr. Beer seinen Wanderproviant an den Hund und dann schließt sich der große Hund wie selbstverständlich dem Spaziergänger an. Am Ende der Runde, als sie wieder bei der Autobahnbrücke sind, bleibt der Hund sitzen und lässt Dr. Beer gehen. Der ist natürlich voller Stolz auf seine Heldengeschichte und erzählt sie an diesem Abend mindestens vier Mal.

Am nächsten Tag bittet Beer Köhlmeier, dass sie zusammen wandern, er möchte gerne zum Alten Rhein gehen. Dort sehen sie auch den Hund wieder, mitten auf dem Eis steht er und läuft freudig los, als er Dr. Beer sieht. Kurz vor dem Ufer bricht das Eis unter ihm und alle Versuche, sich aus der misslichen Situation mit strampelnden Hinterpfoten zu befreien, scheitern. Beer läuft los, um Hilfe zu holen und Köhlmeier robbt zu dem Wasserloch, um zu versuchen, den Hund, der nun immer schwächer wird, hinauszuziehen. Auch Köhlmeier bricht noch ins Eis, den Hund, der sich an seinem Ärmel festgebissen hat, immer noch umklammernd.

Michael Köhlmeiers Geschichte ist wunderbar unprätentiös erzählt. Der Ich-Erzähler beschreibt die Tage des Besuchs und seine Gedanken, Erinnerungen, Reflexionen. Er skizziert Natur und Mitmenschen mit wenigen kunstvollen Strichen, die beim Leser aber ein pralles Bild erzeugen. Und die Rettungsszene, die nicht die letzte Szene der Geschichte ist, ist, auch wenn man um den Ausgang weiß, so spannend erzählt, dass man sie – atemlos – in einem Zug lesen muss.

In Michael Köhlmeiers Geschichte gibt es, dem Titel zum Trotz, keine Idylle. Die unwirtliche Natur lässt kein Gefühl von Idylle aufkommen, vielmehr stecken Schnee und Eis voller Gefahren. Die unterschätzt der Hund und bricht, weil er die Menschen gesehen hat und schnell zu ihnen hinlaufen möchte, ins Eis. Und in der Innenwelt der Menschen herrscht auch keine Idylle. Monika und Michael Köhlmeier nämlich haben ihre Tochter Paula verloren, vor zweieinhalb Jahren erst ist sie beim Klettern am Berg abgestürzt, in der Natur, wegen der Natur. Und die Trauer, mit der die beiden so unterschiedlich umgehen, ist in ihrem Alltag allgegenwärtig, in ihren Gedanken sowieso.

So hat Köhlmeier eine Geschichte über den Umgang mit der Trauer geschrieben. Das Thema zeigt sich wieder und wieder, in Geschichten, in Erinnerungen, in einem fiktiven Gespräch mit Dr. Beer, das Köhlmeier sich so zu führen wünscht und in der Realität doch nie führt, in der Rettungsszene vor allem, in der er die Pfoten des Hund umklammert, ihn dann unter den Achseln packt, um seinen Kopf über Wasser zu halten, und festhält, obwohl er immer deutlicher erkennt, dass er sich so selbst in große Gefahr begibt und besser loslassen sollte.

In einer Geschichte, in der Autor und Lektor tragende Rollen spielen, geht es aber natürlich auch um Literatur, um ihre Kraft, um ihre Entstehung, darum, wie reale Geschichten, wie Trauer, zu Literatur werden kann. Und es geht, immer wieder, um das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit, um wahre Begebenheiten und ihrer Gestaltung und Veränderung im Prozess des Literaturwerdens. Das Spiel mit Dichtung und Wahrheit beginnt bei dem Erzähler, der dem Autor und seiner Biografie, vielleicht auch seinen Lebensgewohnheiten sehr nahe kommt und der Frage, ob es den merkwürdigen Lektor Dr. Beer, so wie er erzählt wird, wohl auch tatsächlich gibt. Das Spiel zieht sich durch die kleinen Geschichten, die immer wieder erzählt werden, und endet bei der Frage, wie wahr beide Erlebnisse mit dem Hund sind.

Und dann ist da auch noch die Frage nach der Rolle des Lektors, nicht nur die ambivalente Rolle, die er in der Realität für einen Autor hat, sondern die Rolle Dr. Beers in dieser Geschichte: Ist er König Lears Narr, wie sich Dr. Beer selbst bezeichnet, als er jauchzend in Monikas Urwald steht, also derjenige, der auch schon einmal auf unangenehme Wahrheiten hinweist, oder ist er doch eher eine Figur wie Mister Verloc aus dem „Geheimagent“ von Joseph Conrad, seinem literarischen Lieblingsheld?

Ich hatte ausgerufen: „Verloc? Er ist der Teufel!“ Worauf er: „Leider ersparen Sie mir nicht die Peinlichkeit, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass es sich bei dieser Geschichte nicht um das Leben, sondern um Literatur handelt. (S. 105)

Michael Köhlmeier hat eine kleine, feine Geschichte über den Besuch des (alten) Lektors geschrieben, die leicht gelesen ist, aber in den Tagen nach der Lektüre, beim Bedenken und Nachdenken über sie, erst ihre volle Wirkung entfaltet.

Michael Köhlmeier (2008/2010): Idylle mit ertrinkendem Hund, Frankfurt am Main, dtv

Eine weitere Rezension, die mich zum Lesen angeregt hat, gibt es hier. Am Ende der Besprechung finden sich viele Surftipps rund um Michael Köhlmeier und seine Novelle.

[5 lesen 20] Urs Widmer: Reise an den Rand des Universums

Widmer_ReiseUrs Widmer, in diesem Frühsommer 75 Jahre alt geworden, hat eine Autobiografie mit dem merkwürdigen Titel „Die Reise ans Ende des Universums“ geschrieben. Er beginnt seine Lebenserzählung ganz am Anfang, bei seiner Zeugung, die wohl im Sommerurlaub im Lötschental stattgefunden hat. Seine Eltern  verbrachten die ersten Sommerurlaube dort, in diesem Jahr zusammen mit einem befreundeten Ehepaar, das just an diesem Nachmittag zu einer Bergtour aufbrach, an der Widmers Vater sowieso nie teilnahm, seine Mutter an diesem Nachmittag auch nicht. Und er endet seine Erinnerungen 30 Jahre später auf dem Campingplatz in Barcelona, auf dem er mit seiner Frau May ein Zelt aufgebaut hat. Dort hat er ihr seine erste Geschichte zum Lesen gegeben, die zwar schon seit längerer Zeit fertig ist, die er aber bisher noch niemandem zum Lesen gegeben hat, und wartet nun mit bangem Herzen auf ihr Urteil.

Diese beiden Geschichten, der Anfangs- und der Endpunkt, geben bereits eine deutliche Auskunft darüber, welcher Prinzipien sich Widmer in seiner Autobiografie bedient: er erinnert, erstens, den Zeitraum seiner ersten dreißig Jahren, er erzählt, zweitens, Episoden seines Leben, er hat, drittens, natürlich auch das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit geklärt, und als Motiv, als roter Faden fast, ist, viertens, das Reisen zu erkennen.

Widmer hat seine Biografie in drei Kapitel gegliedert, in drei Dekaden, die sein Aufwachsen und Erwachsenwerden aufzeigen. Diese Dekaden sind, bis auf wenige ganz wichtige Daten, z.B. das Ende des zweiten Weltkriegs und die ersten Berichte und Bilder aus Auschwitz, die einzigen konkreten zeitlichen Verweise. Jede der drei Dekaden beendet der Autor mit einem Text, der, aus einer distanzierteren Position heraus, die zeitgeschichtlichen und gesellschaftlichen Besonderheiten und Veränderungen herausstellt und so sein Aufwachsen und Erleben in einen größeren Kontext einordnet.

Seine eigenen Erinnerungen erzählt er thematisch orientiert, episodisch eher, weniger streng chronologisch. Er erzählt Geschichten des Aufwachsens als kleines Kind, wie er dem Onkel Erwin, in dessen Haus die Familie lebt, die Zunge herausstreckt und dann lange Angst hat, ins Gefängnis zu müssen, weil dem Onkel doch alle Kindergefängnisse des Landes gehören – er arbeitet als Staatsanwalt beim Jugendgericht. Er erzählt von Tante Norina, der Frau Erwins und Schwester seiner Mutter, die für ihn sorgt, wenn es der Mutter nicht gut geht, die mit ihm spielt und an der er so hängt und die eines Tages verschwindet, fast als würde sie ganz und für immer aus seinem Leben verschwinden – weil sie aus der gemeinsamen Wohnung auszieht und sich von Erwin scheiden lässt. Er erzählt von den Menschen, die ihm wichtig sind, von Freundschaften, von seinen Entdeckungen und Beobachtungen, vom Krieg, den er aus den oberen Fenstern des Hauses fast sehen kann, von den Menschen auf der anderen Seite des Rheins, die, so hat er gehört, böse sind, später von der ersten Liebe und immer wieder vom Reisen. Einmal, noch ganz am Anfang, als er seine Kindheit erinnert, spricht er vom Glück seiner Kindheit:

GLÜCK. Wenn ich an diese erste Zeit denke, finde ich es in mir. Wie einen Schatz. So etwas wie ein Notvorrat, der in einem tiefen Stollen in mir aufbewahrt liegt. Lebendig immer noch, warm, leuchtend. Natürlich habe ich inzwischen nicht nur Glück erfahren. Wem widerführe dies. Dennoch aber: Was für ein, ja, Massel: ein Leben lang kein Krieg, keine Fluchten, kein Hunger. Kein jähes Exil an einem fremden Ort, nach einem hastigen Aufbruch mitten in der Nacht. Keine gewaltsamen Tode um mich herum. Das, was ich heute bin, kommt bruchlos aus dem, was war. Glück.) (S. 37)

Und trotzdem ist auch schon in der Kindheit, abgesehen von dem Krieg, nicht alles nur Glück gewesen, denn auch in seinem engsten familiären Umkreis läuft das Leben nicht ohne Krankheiten und Brüche ab, so erkrankt die Mutter spätestens nach der Geburt der Schwester an Depressionen und muss immer wieder in die Klink, sein Vater wird als Soldat an die Grenze beordert, die Haushaltshilfe fährt wieder nach Hause:

Von einer Minute auf die andere war ich allein. Es war totenstill im Haus. Nicht einmal Astor bellte im ersten Stock, oder Carino in seinem Zwinger. Ich saß auf dem Boden, schob mein Feuerwehrauto hin und her und wartete darauf, dass jemand kam. Es kam jemand, nach einer Ewigkeit oder einer Viertelstunde. Lotti und Heiri Strub rumpelten mit Sack und Pack und einer Katze zur Tür herein. „ Keine Sorge, wir sind jetzt da.“ (S. 44)

So also ist Urs Widmers Erinnerung: episodisch greift er auf Personen und Ereignisse zurück, erzählt kleine Anekdoten, fasst Beobachtungen kunstvoll mit Spannungsbögen, Übertreibungen und Ironie als Erzählungen zusammen. Und wie wahr sind wohl seine Erinnerungen, wie viel Erfundenes steckt darin? Der Autor erklärt, direkt auf den ersten Seiten, wie er es mit der Dichtung und der Wahrheit: „Heute glaube ich, dass jedes Erinnern, auch das genauste, ein Erfinden ist. Das Tatsächliche erinnern: Auch daraus kann ein Roman werden.“ (S. 7) In einem Interview [1] erzählt er, dass, obwohl er sich gerade an seine ersten 30 Jahre ganz besonders gut erinnere, Geschichten doch oft Lücken haben, dass sie wie ein Flickenteppich seien und es der Erfindung bedürfe, um diese Löcher im Teppich, die Lücken in der Erinnerung, zu füllen.

Und er hat sich auch Gedanken dazu gemacht, was es bedeutet, wenn ein Autor seine Autobiografie verfasst, direkt im ersten Satz, der schon überall zitiert ist, es hier also auch werden soll, kommt er darauf zu sprechen:

KEIN Schriftsteller, der bei Trost ist, schreibt eine Autobiographie. Denn eine Autobiographie ist das letzte Buch. Hinter der Autobiographie ist nichts. Alles Material verbraucht. Kein Erinnerungsrätsel mehr. (S. 7)

Nun, Widmer scheint, liest man seine Autobiografie, völlig bei Trost zu sein, geradezu auf der Höhe seiner Erzählkunst. Ohne eine aufgebrezelte Sprache, ohne die aller fantastischsten Geschichten erzählt er uns eine Kindheit und Jugend, erzählt ganz viel auch über die Zeit, die vierziger, die fünfziger und die sechziger Jahre und dass es damals zwar nicht so komfortabel wie heute war, manche Zimmer konnten nicht geheizt werden und noch in den sechziger Jahren hatte nicht jede Wohnung eine Wellnessoase, manche hatte nicht einmal eine funktionierende Badewanne. Dafür war es aber auch möglich, das Auslandssemester in Montpellier nicht in der Universität zu verbringen, sondern damit, die Sonne, das Licht und die Wärme zu genießen, Leute kennenzulernen, Landschaften zu erkunden, vor allem: die Liebe zu erproben. Was für eine Zeit vor der Erfindung der Credit Points und des Workloads! Und welche merkwürdigen Vorgänge am Arbeitsplatz berichtet werden: Da wird der Vorgesetzte Widmers entlassen, sein Buchprogramm passt nun wirklich nicht zur konservativ-katholischen Ausrichtung des Verlages, und Widmer bekommt dessen Nachfolge angeboten:

Bald darauf wurde Otto F. entlassen. Herr Dr. Rast bestellte mich in sein Büro und bot mir die Nachfolge an. Über das Gehalt würden wir uns gewiss einig werden. Ich schluckte leer und fragte mich – oder vielleicht auch ihn? -, was ich falsch gemacht hatte, und dass er so etwas überhaupt erwägen konnte. Ich kündigte. (S. 333)

Und dann ist da noch das Motiv des Reisens. Es sind die Reisen, die die Familie unternimmt, die Sommerreisen ins Lötschental, später die Reisen zur Familie der Mutter, die aus den Bergen der südlichen Schweiz stammte, die Reisen nach Frankreich, das Auslandssemester in Montpellier, später Paris und zwischendurch immer wieder Südfrankreich und Spanien. Zu dieser Eroberung der Welt gehören natürlich auch die entsprechenden Fortbewegungsmittel: das Fahrrad in der Kindheit, das erste eigenständige Erkunden ermöglicht, später die Vespa, mit der er nach Montpellier fährt, dann das erste Auto.

Ganz am Ende seiner Erinnerung klärt sich auch der merkwürdige Titel des Erinnerungsbuches. Als nämlich in Barcelona auf dem Campingplatz seine Frau May sein erstes Manuskript gelesen und für gut befunden hat, als er weiß, dass er nun Schriftsteller werden wird, da bestaunt er voller Erleichterung die benachbarte Öl-Raffinierie:

Die Raffinerie (…) erstrahlte plötzlich in tausend Lichtern. Gelb, orange, rot. Sie sah jetzt wie ein Weltraumbahnhof aus, oder wie ein Raumschiff selbst, das bereit war, zu einer Reise an den Rand des Universums zu starten. May setzte sich neben mich und wir staunten beide das Wunder an.  (S. 343)

Widmer ist eine wunderbare Autobiografie gelungen, nichts Aufregendes, nichts Innovatives, dafür die fein erzählte Geschichte eines Lebens zwischen der 1930er und 1960er Jahren. Das Buch ist völlig zu Recht auf der Longlist des Buchpreises gelandet – und leider nicht auch auf der Shortlist.

Urs Widmer (2013): Reise an den Rand des Universums, Zürich, Diogenes Verlag

[1] Hier ist ein Interview mit Urs Widmer zu hören.

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[5 lesen 20] Die Shortlist – Ein Interview

Logo_dbp_13_RGBSeit gestern Vormittag ist sie heraus, die Shortlist zum Deutschen Buchpreis. Aus den 20 Titeln sind nun noch sechs Romane im Rennen, die unter sich den Sieger ausmachen werden, der dann am 7.10.2013 zur Eröffnung der Buchmesse in Frankfurt gekürt wird.

Mich hat die Liste der „Letzten Sechs“ überrascht. Dem Vorwurf, dass die Jury des Buchpreises sich mit dem „ganz normalen“ Leser gemein macht, dass sie vor allem pekuniäre Ziele des Buchhandels verfolgt, hat sie sich nun wirklich nicht schuldig gemacht. Auf der Liste sind Titel, deren experimentelle und artifizielle Art des Umgangs mit Sprache eher abschreckend wirken und deren Themen eher schmermütig machen als dass sie die Lust aufs Lesen und die Auseinandersetzen mit Literatur und gesellschaftlichen Verhältnissen fördern.

Natürlich muss Literatur einen Anspruch haben, natürlich ist sie kunstvoll, vielleicht auch künstlich, natürlich soll sie anstrengend sein, soll hinter einer Geschichte verschiedene Deutungsebenen verbergen, natürlich braucht sie kein Happy End (dafür sorgen Rosamunde Pilcher und ähnliche Autoren), soll zum Inhalt eine passende Form haben, vielleicht gar einen kritischen Blick auf die Gesellschaft werfen. Aber sie soll doch auch lesbar sein, sie soll fesseln – und das geht auch bei der Beschreibung ganz grauenhafter Umstände. Wir fünf Bloggerinnen haben aber interessanterweise, sicher mit der Ausnahme Bonnés, vielleicht auch Poschmanns, die nun nonminierten Titel jedoch eher kritisch gesehen.

Einen genaueren Blick meiner Einschätzung zu den auf der Shortlist versammelten Titeln ist dem kleinen Interview zu entnehmen, das das Team des Deutschen Buchpreises uns fünf Bloggerinnen von „5 lesen 20“ zur Verfügung gestellt hat.

 

Welcher Roman der Shortlist ist Ihr Favorit und warum?

Bei der Einschätzung kann ich mich nur auf Sekundärquellen stützen, denn außer Monika Zeiner habe ich keinen der anderen Romane bisher selbst gelesen. Und bei meinen Bloggerkolleginnen konnten Bonné und Poschmann am ehesten überzeugen.

Welchen Roman (aus der Longlist) vermissen Sie auf der Shortlist?

Da vermisse ich gleich einige Romane. Von denen, die ich selbst gelesen habe auf jeden Fall Jonas Lüscher, der eine ganz wunderbare Novelle geschrieben hat über das Barbarische in unserer Gesellschaft. Auch Urs Widmers Autobiographie halte ich für shortlistwürdig, weil er ganz leicht, mit ironischem Ton und wunderbarer Sprache und doch mit ganz deutlichem Blick auch auf die Verwerfungen des Lebens die Geschichte seiner Kindheit und Jugend erzählt. Und Nellja Veremejs „Berlin liegt im Osten“ fehlt mir auch als Geschichte über die Facetten der Entwurzelung.

Welchen Shortlist-Autoren würden Sie am liebsten kennen lernen wollen und warum? Was würden Sie diesen fragen wollen?

Ich würde alle gerne danach befragen, wie der Prozess des Entstehens und Schreibens ihrer Romane abgelaufen ist, wie das Thema entstanden ist, die Überlegungen zur Umsetzung, welche Vorarbeiten notwendig waren, welche Recherchen, wie sie ihre Arbeit strukturieren, wann sie schreiben und wo usw.

Welchen Shortlist-Roman schenken Sie Ihrer Schwiegermutter zu Weihnachten?

Wenn ich die „Schwiegermutter“ als Chiffre sehe für die Leser, die keine Literaturkritiker sind, keine Germanisten, keine Verlagsmenschen und keine Buchhändler und auch älter als 40 Jahre, dann gibt es auf der Shortlist keinen Titel, den ich meiner „Schwiergermutter“ schenken würde. Meiner realen Schwiegermutter würde ich am ehesten vonder Longlist Urs Widmers Buch schenken. Das wäre ein toller Anlass, noch einmal, angeregt durch die Erzählungen Widmers, in Kindheitserinnerungen einzutauchen und zu schauen, welche besonderen Erlebnisse sie erinnert, welche ich erinnere, welche Erlebnisse vielleicht universell sind, welche ganz abhängig von der jeweiligen Umgebung und Zeit.

Welchen Roman wird die Jury Ihrer Meinung nach auswählen?

Das wäre reine Spekulation, weil ich gar nicht weiß, wie die Jury „tickt“, da kann ich gar nichts zu sagen. Ich hoffe, dass sie ein gutes Händchen hat, aus den sechs Titeln nun tatsächlich „das Buch“ des Jahres 2013 auszuwählen.

[5 lesen 20] Monika Zeiner: Die Ordnung der Sterne über Como

Zeiner_SterneLiebe, natürlich. Musik. Und Freundschaft. Tom Holler sitzt im Wohnzimmer mit Leonardo Hermanns, Ehemann von Anne, die wiederum Toms Klavierschülerin ist – und seine Geliebte. Sie trinken Whisky und plaudern, weil Anne beim Einkaufen offensichtlich die Zeit vergessen hat und nur ihr Ehemann, Physiker und als Manager sonst viel unterwegs, ausnahmsweise zu Hause ist. Beim Plaudern hat Hermanns Tom die Frage nach den wichtigen Dingen des Lebens gestellt. Nun schaut er nachdenklich den Klavierlehrer seine Frau an und bescheinigt ihm auf seinee Antwort hin, wohl doch noch sehr jung zu sein und er solle es genießen, es bliebe nicht immer so. Hermanns liegt mit seiner Einschätzung richtig, aber das ahnt jetzt noch niemand.

Liebe, Musik und Freundschaft sind die Themen, die Monika Zeiner in ihrem Roman um Tom, Marc und betty auslotet. Und Berlin und Italien spielen auch eine große Rolle, das Berlin und das Lebensgefühl auf aufstrebenden Künstler in den frühen 1990er Jahre, und Italien, weil außer einem alle wichtigen Geschichten dieses Romans mit Italien zu tun haben, sei es die italienische Woche in der Lebensmittelabteilung, die Reise nach Bergamo und zum Comer See, die Konzertreise des mare-Quartetts durch Italien, 14 Jahre später.

Auf der Bühne, die mit einem grünen Grasteppich ausgelegt war, standen vier Kunstbuchsbäume, außerdem einige griechische Säulen aus Plastik, die an Italien erinnern sollten, denn Italien war das Motto des Abends. Auch die italienischen Fähnchen, die italienischen Kräcker auf den Stehtischen und der rotweißgrün gekleidete Stelzenläufer trugen dazu bei, dass die Lebensmittelabteilung im Untergeschoss des Kaufhauses Italien zu Verwechseln ähnelte (…), weshalb sich die Frank-Miller-Jazz-Band vertraglich verpflichten musste, wenigstens „Azzurro“ und „Volare“ ins Programm aufzunehmen. (S. 104)

Bei diesem italienischen Abend in der Lebensmittelabteilung in der Provinz lernen Tom und Marc sich kennen, weil sie sich beide mit Aushilfsauftritten bei Jazz-Bands, denen ein Muiker abhanden gekommen war, ihr Studium finanzieren. Die beiden werden schnell Freunde, denn Marc hat so viel Leichtigkeit, Entscheidungsfreudigkeit und Spontaneität, das es auch für den zögernden und zaudernden Tom reicht. Sie rauchen zusammen, sie diskutieren die Nächte durch oder schweigen auch, sie wandern durch Berlin und finden sich auf einmal in Potsdam wider oder in Polen, sie wohnen zusammen, sie sorgen sich umeinander – sie haben beide endlichen den besten Freund gefunden, den sie bisher noch nie hatten. Und natürlich verbindet sie auch die Musik, gerne italienische Schlager aus den 50er Jahren, die, ein bisschen jazzig oder auch ganz modern inszeniert, das Publikum bei den Konzerten erfreuen oder bei Ausstellungseröffnungen in Berliner Hinterhöfen. Sie experimentieren in ihrem Übungsraum, sie gründen ein Jazzquartett, sie proben Marcs Komposition, für die er einen Preis in Amerika und ein Stipendium in Berlin bekommen hat.

Und dann lernt Tom Betty kennen, Betty Morgenthal, die bei Hermanns die drei Hunde ausführt und Gesang und Medizin studiert. Tom mag sie sehr, schnell bezeichnet er sie als seine Freundin, aber eine Liebesbeziehung kommt für ihn nicht in Frage, er hat ja Anne Hermanns, für die sein Herz schlägt. Bei einem Konzert sorgt er dafür, dass Betty als Sängerin mit auf die Bühne kommt, nachher dafür, dass Marc und Betty sich näher kommen können. Und als Betty  in Toms und Marcs Wohnung zieht und Tom gleichzeitig zweimal die Woche zu den Hermanns zum Unterricht geht, ist er rundum glücklich, denn er hat die Liebe, die Musik und zwei Freunde.

Zeiner entfaltet eine Geschichte, in der es nur auf den ersten Blick um die Liebe geht, die Freundschaft und die Musik. Betty, Tom und Marc versuchen, im Gegensatz zu ihren Eltern, die offensichtlich alle einer Generation entstammen, in der Arbeit notwendige finanzielle Pflicht, nie aber Vergnügen ist, einen eigenen Weg zu gehen, in der die Leichtigkeit von Musik, die Leichtigkeit des Lebens, die Lust und das Spiel eine wichtige Rolle haben. Es sei doch wichtig, etwas zu machen, was Spaß macht, meint Tom, Geld verdienen kann man irgendwie doch immer, man brauche doch nicht viel. Das mag sein, denkt der Leser, aber die drei vergessen bei ihrem Handeln und Spielen, vor allem, wenn es um die durchaus ernste Sache der Liebe geht, dass Moral, dass Gewissen, dass Verantwortung hier eine ganz wichtige Rolle spielen, wenn nicht ein anderer verletzt werden soll, wenn nicht ein anderer, zumal ein Freund, sich hintergangen und verraten fühlen soll. So geht es hier auch um Schuld und sie werden alle schuldig, mal mehr, mal weniger, aber zwei tragen lange an ihrer Schuld, wahrscheinlich ihr Leben lang. Und dabei ist die Schuld gar nicht erst beim Wünschen entstanden, als eine Sternschnuppe über den Himmel des Comer Sees gezogen ist.

Zeiner erzählt uns die Geschichte aus drei Perspektiven, aus der Sicht des älteren Tom, der jetzt gerade, von seiner Frau verlassen in seiner frisch geputzten Wohnung vor seinem Klavier sitzt, ein Glas vor sich, in dem er jede Menge Tabletten aufgelöst hat, sich aber nicht zum Trinken entscheiden kann und so hört, wie Betty auf seinen Anrufbeantworter spricht, sie hätte in der Zeitung von der Tournee nach Italien gelesen, sie wolle zum Konzert nach Genua kommen. Tom nimmt von seinem Todeswunsch Abstand, er fängt an zu packen, er reist mit seinem Quartett über Genua und Rom nach Neapel. Wir Leser begleiten ihn dabei, bei den Konzerten, den Kopfschmerzen nach durchfeierten Nächten, seinen Liebschaften. Während die Reise voranschreitet, schreiten auch die Erinnerungen von Toms jüngerem Ich voran, vom Kennenlernen Marcs bei dem italienischen Abend bis hin zu ihrer Wanderung bei angekündigt unsicherem Wetter auf dem Gletscher. Und wir begleiten Betty, die dritte Stimme, in ihrem Alltag, ihrem Beruf als Ärztin, beim Besuch ihrer Schwiegereltern, beim Seitensprung mit dem Kollegen, bei ihren Erinnerungen an die Zeit zu Dritt.

Es ist eine schier überbordende, eine tragische Geschichte um Liebe und Schuld entstanden, durch die drei Ebenen interessant gestaltet  und erzählt in einer Sprache, die immer wieder die Situationen fast malt, die durch überraschende und komische Wendungen witzig ist, die so anschaulich ist, dass, wenn sie ein Konzert beschreibt, der Leser glaubt, die Musik zu hören.

Trotzdem kann der Roman nicht ganz überzeugen. Es ist alles ein wenig angestrengt: die Gestaltung der Charaktere, die zum dramatischen Höhepunkt hin zu ihrem Verhalten, zur Kurzschlussreaktion allemal, fast gezwungen wirken; die Gestaltung der Geschichte, die nicht über 600 Seiten trägt, sondern mit zu vielen Nebensächlichkeiten erzählt wird; die Gestaltung der Sprache, die manchmal ganz schiefe Bilder und unpassende Zusammenhänge erschafft.

Bei  Marc hatte er zum ersten Mal den Eindruck gehabt, in den weiten Joggingklamotten seiner eigentlichen Seele unterwegs sein zu dürfen. (S. 110) — Ungefähr vierzehn Jahre später saß derselbe oder ein ähnlicher Tom Holler, der sich Betty Morgenthal einst anvertraut hatte als einer fachkundigen Führerin durch die dunklen Gefilde der Liebe, mit dem Taschenlampenlicht ihrer weiblichen Weisheit, vierzehn Jahre später also saß derselbe oder ähnliche Tom Holler in Genua am Klavier, während jene selbe oder ähnliche Betty Morgenthal etwa 700 Kilometer weiter südlich in einem Ausflugslokal (…). (S. 262) — Später am Abend trat ein Mädchen namens Nicki in Toms Leben. Und trat schnell wieder heraus. (287)

Wie im Roman das Spannungsfeld zwischen den mittelalterlich-philosophischen Anschauungen zur Liebe und dem spielerischen Umgang mit Liebhabern und Freunden in der Realität ausgeleuchtet wird, so wie im Roman die Musik zwischen der hohen Kunst der Modernen Komposition und dem italienisch-schnulzigen Schlager der 1950er Jahre wechselt, so changierend ist auch die Qualität des Romans selbst. Insofern ist die Nominierung dieser Geschichte um Liebe, Musik und Freundschaft auf der Longlist ein großer Erfolg.

Monika Zeiner(2013): Die Ordnung der Sterne über Como, Berlin, Blumenbar

Hier findet sich ein Interview mit Monika Zeiner über das Lesen und das Schreiben , hier liest sie aus ihrem Roman , und hier singt sie mit ihrer Band Marinafon „I lost my heart in Portofino“, ein Titel, der auch im Roman eine besondere Rolle spielt.

[5 lesen 20] Thomas Stangl: Regeln des Tanzes

Stangl_1Walter Steiner, pensionierter Wissenschaftler, wandert ziellos durch die Straßen Wiens. Er wandert durch Stadtteile, in denen er einmal gewohnt hat, in denen er sich gut auskennt, in denen sich über die Jahre nichts verändert hat, durch Straßen mit sanierten Altbauten, in denen nun Firmen mit modernen Namen ihren Sitz haben, durch Gassen, die er noch nie betreten hat:

Nichts passte mehr zum anderen, die Häuser nicht zu den Straßen, die Straßen nicht zu den Menschen, die Menschen nicht zu den Erinnerungen, die Häuser waren keine Häuser, die Straßen keine Straßen, (sie passten nicht zu sich selbst), die Menschen keine – nun das heißt nur, er passte nicht hierher, sonst passte alles. (S. 11)

Und dann, in einem Loch in der Hausmauer eines neu gebauten Hauses, findet Steiner zwei Filmdosen, in denen sich auch tatsächlich Filme befinden; alte Filme mit Bildern, die entwickelt werden und auf Papier abgezogen werden müssen. Wie mit einem Geheimfund läuft Steiner nun durch die Stadt, zu Hause versteckt er seinen Schatz in der Schublade seines Schreibtisches, seine Frau Pre soll nichts erfahren, nichts von den Spaziergängen durch die Stadt, nichts von den Filmdosen. Am nächsten Tag fährt er mit der U-Bahn in einen Stadtteil, in dem ihn niemand kennen wird, und bringt die Filme dort zur Entwicklung. Nun muss er einige Tage warten, völlig elektrisiert von den Fantasien, die er entwickelt über das, was er auf den Bildern sehen wird. Als er dann endlich die Bilder betrachten kann, sieht er als erstes Fotografien vom Grab einer jungen Frau, die vor 15 Jahren gestorben ist, dann viele Bilder eines immer gleichen Zimmers, Bilder zweier Mädchen, Schwestern wohl, in einem Haus, in einem Garten.

Es sind die Bilder von Mona und ihrer Schwester, die Steiner gefunden hat. Die letzten Aufnahmen stammen vom März 2000. Die Schwestern leben zusammen in einer Wohnung, Mona hat ihr Studium aufgegeben und beschäftigt sich stattdessen mit dem Tanz, nicht mit Ballett, sondern modernem Ausdruckstanz, der für sie eine Möglichkeit zu sein scheint, ihre persönlichen Gefühle auszudrücken. Manchmal verlässt sie die Wohnung und kommt ein paar Tage nicht nach Hause. Das passiert auch im Februar 2000, als ihre Schwester auf die vielen großen Demonstrationen geht, die damals stattfinden, aus Protest gegen das Regierungsbündnis zwischen ÖVP und FPÖ und weil die FPÖ von vielen Menschen nicht nur. wegen ihrer rassistischen Haltung nicht für eine Partei gehalten wird, die in einer Regierung mitwirken sollte. Während Mona also durch die Straßen streift, sich Essen erbettelt, die Nächte im Wald verbringt oder bei fremden Menschen, ist es ihrer Schwester wichtig, zu allen Demonstrationen zu gehen und gemeinsam mit den manchmal zehntausend Menschen durch die Stadt zu ziehen, in der kaum mehr vorhandenen Hoffnung, die politischen Verhältnisse zu ändern. Zwischen den Demonstrationen sitzt sie zuhause und wartet auf Monas Rückkehr. In deren Zimmer findet sie den Fotoapparat des Vaters, ein  paar Bilder sind noch auf dem Film und so fotografiert sie jeden Tag Monas Zimmer.

Thomas Stangl zeichnet in seinem Roman drei Figuren, die sich nicht mehr zurechtfinden in ihrer Umgebung und ihrem Leben. Sie fühlen sich fremd in einem uneigentlichen Leben, haben Ängste, sind sprachlos oder überfordern ihre Mitmenschen mit ihren innersten Gedanken und Gefühlen. Walter Steiner meint, sein Leben gar nicht wirklich zu leben, es nur nachzustellen, verborgen hinter einer Maske und einer Uniform, hinter der „Mechanik deiner Bewegungen und Gesten kann sich genauso gut jeder andere verbergen, du kannst als irgendein anderer darunter vorkommen.“ (S. 45) Freunde verlieren jede Bedeutung, Walter Steiner wundert sich geradezu, dass es Bekannte gibt, die ihn anrufen, um zu fragen, wie es ihm gehe. Und Monas Schwester fühlt und denkt ähnlich:

Du läufst hier herum und tust dabei nur so, als würdest du herumlaufen. Jeder Atemzug sagt dir, dass es nicht selbstverständlich ist, dass du atmest; etwas Unerträgliches kann in der Wohnung sein, irgendwo in der Wohnung, eine Leiche; jemand Fremdes kann jederzeit in die Wohnung eindringen; jemand Fremdes beobachtet sie, bei allem, was sie tut; jemand Fremdes, eine Anwesenheit, eine Leiche, eine Leiche, die lebt. (…) sie würde gern mit jemandem reden, jemanden anrufen, aber es ist Sonntagvormittag und außerdem weiß sie nicht, was sie überhaupt erzählen kann, ob das, was sie erlebt, eine Geschichte ist, die die sich erzählen lässt, ob irgendjemand etwas davon verstehen könnte. Und bist du nicht schon so weit, dass du mit niemandem mehr sprichst, weil du die Behauptungen der anderen nicht mehr erträgst; noch viel weniger deine eigenen Behauptungen, so künstlich bist du dir geworden. (S. 111)

Alle drei scheinen kaum eigene Bedürfnisse zu haben, leben zurückgezogen, ohne Wünsche, ohne Träume, ihnen scheint ihr leben abhanden zu kommen. Was sie eint, ist ihre Suche nach einem wahrhaftigen Moment, den Mona sich im Tanz erhofft, ihre Schwester bei den Demonstrationen, Walter, wenn er in die Fotografien eintauchen kann, wenn er die Schwester und die Orte der Fotos findet.

Die Haltung der Figuren und ihre Suchbewegungen finden sich mit aller Konsequenz in den Erzählstimmen und im Erzählprinzip wieder. Der Leser begleitet abwechselnd, in kurzen Begebenheiten, in Gedankensplittern, die drei Protagonisten, die jeweils aus ihrer Innensicht berichten. Sie erzählen, wenn sie als Flaneur durch die Stadt streifen, was sie sehen in den Straßen, in den Einkaufspassagen, am Rande der Demonstration, wenn die Polizei ein Paar festnimmt, was sie sehen in den Räumen ihrer Wohnungen. Sie schildern uns diese Bilder so genau wie eine Fotografie die Szenerie zeigen würde oder ein Film. Sie nehmen uns mit in ihre Gedanken und Gefühle. Dabei reflektieren sie kaum und sie erinnern nur wenige Begebenheiten ihre Vergangenheit. So entstehen vor dem Auge des Lesers Figuren, die losgelöst scheinen von der Realität, von Mitmenschen, von der eigenen Geschichte, alleine die fixen Daten der Demonstrationen geben der Geschichte ihren zeitlichen und räumlichen Halt.

Die Erzählstimmen umkreisen sich permanent und erzählen parallel, obwohl die wirkliche Zeit einen Abstand von 15 Jahren hat. Aber sehr schnell verweben sich die reichlich vorhandenen Motive, die immer wieder in die Erzählung der einzelnen Stimme ragen und für alle drei Figuren eine wichtige Rolle spielen. Es gibt das Motiv des Baumes und der Äste, für alle haben Räume eine besondere Bedeutung, Kunst, Politik und die Medien und ihre Erklärungskraft spielen immer wieder eine Rolle, das Motiv der Schwestern ist bedeutsam und natürlich das Motiv des Tanzens. Der Tanz, der Ausdruckstanz, ist das stark verbindende Moment zwischen den Protagonisten, ist auch politische Aussage, wie die Schwester erklärt:

Sie sagt, sie wolle glauben oder müsse jedenfalls darauf setzen, dass Tanzen wirklich heißen könne: die Regeln der Gesellschaft hinter sich zu lassen. Völlig anderen Regeln zu folgen. Das ist ja das Kommunistische für mich, lacht sie (…) Kommunistin sein müsste heißen, sich entschlossen auf etwas beziehen, das es nicht gibt, nie gegeben hat, niemals geben wird (das ist die einzige Politik). (S. 245)

Der Roman ist kunstvoll geschrieben und ebenso strukturiert. Die Erzählstimmen mit ihren nihilistischen, verstörenden, vielleicht schon pathologischen Haltungen graben sich tief in den Leser ein. Der Roman erfordert mit seinem Bauprinzip, den Leerstellen und den Motiven die volle Aufmerksamkeit des Lesers. Und doch lässt er den Leser merkwürdig ratlos zurück. Die Bedeutung vieler Motive, vieler Bilder, vieler Verbindungen, ja die Bedeutung der Geschichte überhaupt, lässt sich wohl erst im germanistischen Seminar enträtseln. Es sei denn, es wird hier der exemplarische Mensch des 21. Jahrhunderts gezeigt, der nicht nur sich selbst unsicher geworden ist, wie Freud es zu Beginn des 20. Jahrhunderts diagnostizierte, sondern als sozial isoliert und fremd in Raum und Zeit dargestellt wird, der also alle Ankerpunkte verloren hat. Und auch alle Möglichkeiten des öffentlichen, des politischen Diskurses, so wie sie seit den 68er Prostesten üblich waren, sind nicht mehr vorhanden. Der moderne Mensch ist sich nicht nur selbst fremd, er hat in der Konsequenz auch jeden Bezug zu seiner Umwelt verloren.

Thomas Stangl hat eine Homepage.

Thomas Stangl (2013): Regeln des Tanzes, Graz, Literaturverlag Droschl

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[5 lesen 20] Jonas Lüscher: Frühling der Barbaren

Lüscher_1Preising erzählt eine Geschichte aus Tausendundeiner Nacht, von Palmen, Kamelen und Zelten in einer Oase. Aber Preising erzählt keine erotischen Märchen, um einen Herrscher gnädig zu stimmen, sondern die bemerkenswerte Geschichte seines Urlaubs im „Thousand and One Night Resort“. Dies ist ein Luxushotel in der Wüste, in das ihn sein tunesischer Geschäftspartner, der nicht nur Platinen für das Schweizer Unternehmen Preisings lötet, sondern auch noch einige Hotels zu seinem wohl weitverzweigten Unternehmen zählt, eingeladen hat. Im „Thousand and One Night“ residiert auch eine Hochzeitsgesellschaft aus London. Es sind junge Bankangestellte, die in die tunesische Wüste gereist sind, um eine möglichst romantische, möglichst orientalische, möglichst exotische Hochzeit zu feiern, wollen dabei aber auf keinen Luxus verzichten. So amüsieren sich sechzig bis siebzig Finanzjongleure am Pool:

Junge Leute in ihren späten Zwanzigern und frühen Dreißigern. Laut und selbstsicher. Schlank und durchtrainiert. (…) Wer sich ins Wasser wagte, trug eine jener Badehosen, wie man sie von Fotos kannte, die den jungen JFK am Strand von Martha´s Vineyard zeigten, oder knappe Bikinis, die die flachen Bäuche gut zur Geltung brachten und die Intimrasur rechtfertigen. Selbst nahezu nackt wirkten sie wie in Uniform. (S. 33)

Preising freundet sich mit der Mutter des Bräutigams, mit Pippa, einer Lehrerin, die ebenso gerne liest wie er, und ihrem Mann, Sanford, einem Professor, an. Die Eltern begutachten die Hochzeit ihres Sohnes argwöhnisch, zu groß ist ihnen, die bei ihrer eigenen Hochzeit darauf geachtet haben, möglichst allen bürgerlichen Konventionen zu entgehen, der Pomp, der hier umgesetzt wird. Zweihundertfünfzigtausend Pfund soll der Spaß kosten, berichtet Pippa. Die Eltern der Braut, der Vater Betriebsrat einer Werkzeugfabrik,, die Mutter Hausfrau, seien so erschlagen von ihrer Umgebung, dass sie es kaum aus ihrem Zelt schafften.

In der Nacht, in der die Gesellschaft Hochzeit feiert – hier kommt die Braut nicht in einem Oldtimer vorgefahren, sondern auf einem Kamel, das von einem Tunesier geführt wird, der in einem selbst geschneiderten Tuaregkostüm auftreten muss – kämpft die englische Regierung mit den Konsequenzen ihrer Finanzpolitik. Noch bevor die Hochzeitsgesellschaft zum Frühstück erscheint, verkündet der milchgesichtige britische Premier den Bankrott Großbritanniens.

Und nun sitzt eine gestrandete englische Hochzeitsgesellschaft in 1001-Nacht-Umgebung in der Wüste; die Kosten für die Hochzeit sind, nach der Abwertung des Pfunds, in unermessliche Höhen gestiegenen, die britischen Kreditkarten aber ohnehin gesperrt; und die Hotelbesitzerin, bald selbst auf der Flucht, verweigert jede weitere Leistung. So wird Preising nun Zeuge, was eine Gesellschaft alles auf die Beine stellen kann, wenn sie meint, auf sich selbst gestellt zu sein, welchen Führern sie folgt, wie schnell jeder gesunde Menschenverstand über Bord geworfen, wie schnell die Konventionen, die ein normales Zusammenleben ermöglichen, in den Wind geschlagen werden. Hier scheint nun Barbarei ausgebrochen zu sein.

Lüscher hat seiner nach allen Regeln der Novelle verknappten, nichtsdestotrotz wunderbar komplexen Geschichte von Gründen und Folgen eines Staatsbankrotts die Erklärung des Begriffes „Barbarei“ vorangestellt, wie der Philosoph Franz Borkenau sie formuliert hat:

[Barbarei] ist ein Zustand, in dem viele der Werte der Hochkultur vorhanden sind, aber ohne jede gesellschaftliche und moralische Kohärenz, die eine Vorbedingung für das rationale Funktionieren einer Kultur ist. (S. 5)

Dass die Barbarei ausbricht, als eine Gruppe der Hochzeitsgesellschaft meint, sie müsse nun dem Veteran Quickie folgen – „einem Oberarschloch unter gewöhnlichen Arschlöchern“, wie Sanford meint; einem selbstsicher wirkenden Anführer, wie die verstörten und verunsicherten Derivatehändler meinen – ist sicherlich unstrittig und in seinen Folgen schier unbegreiflich. Schließlich hat Quickie seine Erfahrungen im Irakkrieg gesammelt und weiß genau, was zu tun ist, wenn es gilt, das Überleben zu sichern.

Aber – lebt die Gesellschaft nicht schon eine ganze Weile in der Barbarei? Sind nicht schon bei Preisings Reise durch Tunesien, sogar schon bei der Darstellung der Verhältnisse in seinem Unternehmen in der Schweiz, Anzeichen dafür zu identifizieren, dass unter dem weichen Mantel des guten Verhaltens keine Moral herrscht? Kinderarbeit, so wird Preising überzeugend erklärt, sei ja nicht auf jeden Fall ein Problem, und dass die tunesische Landbevölkerung nur dann dort bleiben kann, wo sie schon seit Jahrhunderten lebt, wenn sie sich nahtlos ins folkloristische Programm für Touristen einpasst, kann Preising auch immer wieder beobachten. Und so scheint zu gelten:

Wo das Geld ist, ist die Wahrheit. (…) Denn wenn James recht hatte (…), dann sei die Problematik der sich seit den Tagen Margaret Thatchers immer weiter öffnenden Einkommensschere nicht nur eine der ungleichen Verteilung von Geld, sondern auch eine der ungleichen Verteilung von Wahrheit. (64-65)

Die Protagonisten in diesem Konflikt zwischen Moral und Geld zeigt und demaskiert Lüscher in diesem Mikrokosmos in der tunesischen Wüste: Preising, der Vertreter der Old Economy, des Bereichs der Gesellschaft, der immerhin noch ein Objekt produziert, ist geckenhaft gekleidet ist und gefällt sich in seiner altväterlicher Sprache. Er lässt sich zum neutralen Beobachter seiner Umwelt degradieren und hat viele Gründe, warum er keine Entscheidung treffen kann. Pippa und Sanford, die linken Intellektuellen, träumen vielleicht von Macht und Einfluss, erfreuen sich sonst aber mehr daran, ihre eigene Zufriedenheit zu gestalten. Dem gegenüber stehen die obszönen Gehälter ihrer Kinder, die im Finanzbereich arbeiten, aber im Prinzip keinerlei gesellschaftlichen Wert erstellen, dafür aber die Spielregeln des Zusammenlebens bestimmen. Der Arbeiter, der Betriebsrat, die tunesische Landbevölkerung, Kinder – sie alle haben nichts (mehr) zu sagen. Das ist Barbarei im Sinne Borkenaus, lange bevor es nach der Staatspleite zu den chaotischen Zuständen am Pool kommt. Und so hat Jonas Lüscher mit seiner Erzählung aus der Wüste eine Parabel unserer modernen Gesellschaft geschaffen, eine Beschreibung der Handlungs- und Verantwortungslosigkeit wichtiger sozialer Gruppen und Institutionen.

Scheherazade hat ihre Geschichten aus Tausendundeiner Nacht erzählt, nicht nur, um Nacht für Nacht ihr Leben zu erhalten, sondern auch, um ihren Mann, den persischen König Schahrayâr, zu überzeugen, nicht weiter barbarisch vorzugehen und jeden Morgen, nach der Hochzeitsnacht, seine Frau zu töten. Sie ist mir ihren Geschichten nach Tausendundeiner Nacht erfolgreich gewesen. Ob Preising mit seiner Geschichte einen ähnlichen Erfolg hat, ist angesichts der aktuellen Situation doch unwahrscheinlich.

Ob Preisings Geschichte wahr ist oder eine Schnurre, wie die vom üblichen Hochzeitsmahl der Tunesier, bleibt unklar; ebenfalls, ob Preising mit der Geschichte sein Leben retten kann. Der Icherzähler, dem Preising seine Geschichte beim Spaziergang im Garten der psychiatrischen Klinik erzählt, sieht jedenfalls nicht, wozu Preisings Geschichte taugen soll:

Und was hat er damit bewiesen? Mit dieser traurigen Geschichte voller tragischer Zufälle? Einer Geschichte, aus der sich nichts lernen ließ. (S. 125)

Umso mehr ist zu hoffen, dass Lüschers Novelle noch viele Leser findet, die doch etwas lernen können, indem die Komplexität unserer Realität durch die Erzählung wenigstens ihnen (be-)greifbar wird. Ein Platz auf der Shortlist des Bücherpreises wäre insofern schon einmal ein guter Schritt.

Lüscher liest hier aus seinem Text und bei libroskop könnt Ihr Tobias Lindemanns Interview mit ihm anhören.

Weitere Rezensionen sind zu finden bei literaturen und buzzalsdrins Büchern.

Jonas Lüscher (2013): Frühling der Barbaren, München, C. H. Beck