Lesen, Romane

Hans Ruprecht (Hg.): „Einen schweren Schuh hatte ich gewählt…“. Lesen und wandern rund um Leukerbad

Ruprecht_Schuh_1Dieses Buch lädt einfach dazu ein, der Textkritik erst einmal eine Umschlags-Kritik voran zu stellen! Denn dieser wunderbare Schutzumschlag ist ganz ungewöhnlich für einen Textband, bringt aber das Herz eines jeden (Alpen-)Wanderers zum Hüpfen, denn der kennt sich damit aus, fremde Wege mit Hilfe einer Wanderkarte zu erschließen, um dann  zu überprüfen, wie der papierene Weg in der Realität aussieht. Ruprecht_Schuh-4Und so ist auf diesem Schutzumschlag nicht nur, wie gemeinhin üblich, Titel und Klappentext zu lesen, sondern er lässt sich auf fast die doppelte Größe aufkappen, und enthält dann eine Übersichtskarte über das Gebiet rund um Leuk und Leukerbad sowie kleinere Ausschnittskarten der 17 Touren, die die Schriftsteller der hier versammelten Texte unternommen haben. So kann jeder Leser – natürlich auch der nicht wanderaffine – jede Tour auf der Karte mit- und nachgehen und sich auf der die großen Übersichtskarte orientieren und sich in dem ganzen Gebiet Ruprecht_Schuh_3zurechtzufinden, schauen, aus welchem Tal die Wanderer starten, welche Routen sie über die Berghänge nehmen, wo nun genau die kleinen Orte, die sie durchwandern, liegen, welcher Gipfel hier bestiegen wird, welcher Wald durchschritten. Und: Der Umschlag ist aus so stabilem Papier, dass er, ganz anders als die normale Wanderkarte, auch nach dem siebenundfünfzigsten neugierigen Auf- und Zuklappen nicht an den Papierknicken anfängt auszufransen.

 

 

Der Band selbst versammelt nun siebzehn Texte, die um die Themen „Wandern im Wallis“ und „Schreiben“ kreisen. Entstanden sind sie im Sommer und Herbst 2012 von einigen der Autoren, die sich in Leukerbad zum internationalen Literaturfestival versammelt oder den in Leuk beheimateten „Spycher: Literturpreis Leuk“ gewonnen haben, einen Preis, der den ausgezeichneten Autoren das Recht einräumt, innerhalb der nächsten fünf Jahre jährlich zwei Monate in Leuk zu verbringen. Diese Autoren sind losgelaufen, mit Wanderschuhen, Rucksack und Proviant, und haben sich von ihrer Wanderung zu einem Text inspirieren lassen.

Und dabei sind – natürlich – die unterschiedlichsten Texte entstanden. So begleiten wir als Leser zum Beispiel Rolf Herrmanns Erzähl-Ich, das wahrscheinlich auch ganz nah ist an seinem biografischen Ich, wenn es von seinem Hotel in Leukerbad durch den Ort und über die „Promenade“ wandert und sich an ein Ereignis aus der Jugend erinnert

Auf der „Promenade“ spaziere ich gemächlich weiter, entlang an unbenutzten Tennisplätzen, klotzigen Appartmenthäusern, Hotels und Restaurants. Und plötzlich setzte die Erinnerung an jene kalte Februarnacht vor vielen Jahren ein, als ich genau denselben Weg gegangen bin: Tuftstrasse – Dorfplatz – Promenade. Mit einem Gefühl von überbordender Zuversicht. Soeben habe ich, ein für Literatur entflammter Gymnasiast, im Hotel Les Sources des Alpes zum ersten Mal einen Autor lesen gehört. Es war Paul Nizon. Aus Paris war er angereist. (…) (S. 46)

Zum ersten Mal in seinem Leben wird dieses Erzähl-Ich nun, mit fast vierzig Jahren, die acht steilen Albinenleitern erklimmen, die Leitern, die Leukerbad mit den Ort Albinen verbinden und lange Jahre, bis eine Straße gebaut wurde, die einzige Verbindung zwischen diesen Orten waren. In Albinen will er die Oma besuchen, die bald achtundneunzig Jahre alt wird, die ihr Leben lang in Albinen wohnte und immer Gedichte geschrieben hat. Jetzt aber kann sie das nicht mehr, denn ihre Hände zittern so sehr, dass sie ihre Schrift nicht mehr lesen kann.

Nora Gomringer, aus deren Text der Buchtitel entliehen ist („Einen schweren Schuh hatte ich gewählt. Natürlich auch einen entsprechenden zweiten, das Tragen von Socken hatte ich erwogen, die Entscheidung zugunsten blauer Exemplare gefällt.“) hat einen Vorlesetext ihrer Wanderung zum Leukerbader Wasserfall verfasst und mit Regieanweisungen verdeutlicht, wann die Akustik des mitzuführenden Xylophons das Lesen und die Wandereindrücke unterstützen soll.

In Judith Herrmanns als Erzählung klar einzuordnendem Text wandert eine Erzählerin auf das Torrenthorn, dessen Gipfel 2997,9  Meter hoch ist. Mit einer der ersten Bahnen schwebt sie Bergstation und wandert zügig weiter, 2 Stunden, so gibt ein Wanderschild Auskunft, soll der Aufstieg dauern. Sie schreitet durch das nasse Gras, lauscht ihrem schweren Atem, schaut auf den Nebel, der langsam am Bergrücken hochsteigt, zieht die mittlerweile verschwitzte Jacke aus, registriert die Kopfschmerzen, die wohl durch die ungewohnte Höhe entstanden sind, beobachtet Dohlen, die ihre Wanderung begleiten und sehnt sich in der unwirtlichen Landschaft hoch über der Baumgrenze dann doch nach der Anwesenheit anderen Wanderer. Und, endlich auf der Berggipfel, packt sie dann doch der Ehrgeiz, die 3000 Meter Marke zu erreichen und sie beginnt, Lösungen zu ersinnen, wie sie die fehlenden 2 Meter überbrücken kann: Vielleicht mit einem Felgaufschwung auf die Querstange des Gipfelkreuzes turnen und dann darauf sitzen und die Arme in die Höhe strecken?

Francesco Micieli erzählt von einer Wanderung, bei der ihm der Rilkewein die Sinne vernebelt, Christine Pfammatter macht die Rebwanderung und erinnert sich an viele andere Male, als sie diesen Weg gegangen ist, Urs Mannhart schickt Holger und Sinaida, zwei Angestellte eines großen hochdekorierten Kurhotels, auf den Weg ins Lötschtal, obwohl die Wetterprognose nicht gut ist und der Gondoliere, wie Sinaida den Mitarbeiter an der Seilbahn nennt, sie auf ihre unpassende Kleidung anspricht, Christoph Simon erzählt von einem Dichter und seinem Übersetzer, die sich zu früher Morgenstunde direkt aus der Bar, mit zwei Flaschen Aprikosenschnaps gut ausgestattet, auf den Weg über die Albinenleitern von Leukerbad nach Leuk begeben, wobei dem Dichter der Übersetzer abhanden kommt – Übersetzer seien nun mal unbeständig und haben die Natur des Nebels und der Blumen.

Die bei weitem beeindruckendste Geschichte erzählt  Tanja Maljartschuk, in der Ukraine geboren und nun in Wien lebend. Während sie auf den Wegen Rilkes, der seine letzten Jahre in Sierre verbracht hat, wandert, erinnert sie an den ukrainischen Dichter Wassyl Stus, der als Menschenrechtsaktivist in den 1970er und 1980er Jahren immer wieder inhaftiert und in Arbeitslager verbracht wurde und den allein seine Übersetzungen von Werken Rilkes am Leben erhielt. So schrieb er an seine Verwandten:

Meine Lieben, grämt Euch nicht zu sehr. Die Zeit schreitet voran, also rückt die Gerechtigkeit immer näher. Es geht mir hier besser als Ihr denkt. Mir fehlt es an nichts. Schickt mir vielleicht nur zwei warme schwarze Unterhosen und ein Gedicht von Rilke. (S. 171)

Die Übersetzungsarbeit an den Rilke-Gedichten hält ihn einigermaßen aufrecht, auch wenn er die Zeit nur körperlich schwer beschädigt überlebt. Beim zweiten Gefängnisaufenthalt jedoch, er hat sich nach seiner Entlassung im Zusammenhang mit der Olympiade 1980 in Moskau wieder kritisch geäußert und zu einem Hungerstreik aufgerufen, werden ihm die Privilegien des Lesens und Übersetzens entzogen, seine Bücher und Gedichte beschlagnahmt. Als er sich dann beim sowjetischen Staatschef Andropow über diese Bedingungen beschwert, wird er zu einem Jahr Isolierhaft verurteilt, das er nicht überlebt. Und Tanja Maljartschuk erinnert und erzählt diese Geschichte, während sie auf den Spuren Rilkes in einer im Gegensatz zu Stus` Erlebnissen geradezu unwirklich idyllischen Landschaft wandert.

So ist aus der Einfall, Schriftsteller ins Wallis zu holen, zunächst zu Lesungen, dann zu einem Literaturfestival und einem ungewöhnlichen Literaturpreis die weitere Idee entstanden, diese Schriftsteller einzuladen, sich von der Landschaft und den Wanderungen inspirieren zu lassen – hier ist sozusagen das Prinzip der Verfertigung der Gedanken beim Wandern zu erkennen – und kurze Texte zu verfassen. Der hier vorgestellte Band trägt diese Texte zusammen und zeigt dem Leser – und hier ist sicherlich nicht nur der wandernde Leser angesprochen – auf welch vielfältige Art und Weise eine Umgebung die Menschen inspirieren kann. Und so ist ein sehr schön aufgemachter  und natürlich auch inhaltlich sehr vielfältiger Band entstanden.

Hans Ruprecht (Hg.) (2013): „Einen schweren Schuh hatte ich gewählt…“. Lesen und wandern rund um Leukerbad, Zürich, Dörlemann Verlag

 

 

2 Kommentare

  1. Es war mir eine große Freude, mit deiner schönen Rezension durch dieses besondere Buch zu wandern! Wirklich klasse finde ich, dass du dem Einband einen eigenen Raum geschenkt hat. Er ist so toll anzuschauen, so wunderbar wie das ganze Buch! Ganz lieben Dank!

    Herzlich,
    Klappentexterin

    • Liebe Klappentexterin,
      vielen Dank für Deine lieben Worte. Neben den Erzählungen ist ja wirklich der ungewöhnliche Einband eine tolle Sache – hier finden Inhalt und Form einfach auf das Schönste zusammen. Hoffentlich findet das Buch noch mehr begeisterte Leser!
      Viele Grüße, Claudia

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