Urs Widmer, in diesem Frühsommer 75 Jahre alt geworden, hat eine Autobiografie mit dem merkwürdigen Titel „Die Reise ans Ende des Universums“ geschrieben. Er beginnt seine Lebenserzählung ganz am Anfang, bei seiner Zeugung, die wohl im Sommerurlaub im Lötschental stattgefunden hat. Seine Eltern verbrachten die ersten Sommerurlaube dort, in diesem Jahr zusammen mit einem befreundeten Ehepaar, das just an diesem Nachmittag zu einer Bergtour aufbrach, an der Widmers Vater sowieso nie teilnahm, seine Mutter an diesem Nachmittag auch nicht. Und er endet seine Erinnerungen 30 Jahre später auf dem Campingplatz in Barcelona, auf dem er mit seiner Frau May ein Zelt aufgebaut hat. Dort hat er ihr seine erste Geschichte zum Lesen gegeben, die zwar schon seit längerer Zeit fertig ist, die er aber bisher noch niemandem zum Lesen gegeben hat, und wartet nun mit bangem Herzen auf ihr Urteil.
Diese beiden Geschichten, der Anfangs- und der Endpunkt, geben bereits eine deutliche Auskunft darüber, welcher Prinzipien sich Widmer in seiner Autobiografie bedient: er erinnert, erstens, den Zeitraum seiner ersten dreißig Jahren, er erzählt, zweitens, Episoden seines Leben, er hat, drittens, natürlich auch das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit geklärt, und als Motiv, als roter Faden fast, ist, viertens, das Reisen zu erkennen.
Widmer hat seine Biografie in drei Kapitel gegliedert, in drei Dekaden, die sein Aufwachsen und Erwachsenwerden aufzeigen. Diese Dekaden sind, bis auf wenige ganz wichtige Daten, z.B. das Ende des zweiten Weltkriegs und die ersten Berichte und Bilder aus Auschwitz, die einzigen konkreten zeitlichen Verweise. Jede der drei Dekaden beendet der Autor mit einem Text, der, aus einer distanzierteren Position heraus, die zeitgeschichtlichen und gesellschaftlichen Besonderheiten und Veränderungen herausstellt und so sein Aufwachsen und Erleben in einen größeren Kontext einordnet.
Seine eigenen Erinnerungen erzählt er thematisch orientiert, episodisch eher, weniger streng chronologisch. Er erzählt Geschichten des Aufwachsens als kleines Kind, wie er dem Onkel Erwin, in dessen Haus die Familie lebt, die Zunge herausstreckt und dann lange Angst hat, ins Gefängnis zu müssen, weil dem Onkel doch alle Kindergefängnisse des Landes gehören – er arbeitet als Staatsanwalt beim Jugendgericht. Er erzählt von Tante Norina, der Frau Erwins und Schwester seiner Mutter, die für ihn sorgt, wenn es der Mutter nicht gut geht, die mit ihm spielt und an der er so hängt und die eines Tages verschwindet, fast als würde sie ganz und für immer aus seinem Leben verschwinden – weil sie aus der gemeinsamen Wohnung auszieht und sich von Erwin scheiden lässt. Er erzählt von den Menschen, die ihm wichtig sind, von Freundschaften, von seinen Entdeckungen und Beobachtungen, vom Krieg, den er aus den oberen Fenstern des Hauses fast sehen kann, von den Menschen auf der anderen Seite des Rheins, die, so hat er gehört, böse sind, später von der ersten Liebe und immer wieder vom Reisen. Einmal, noch ganz am Anfang, als er seine Kindheit erinnert, spricht er vom Glück seiner Kindheit:
GLÜCK. Wenn ich an diese erste Zeit denke, finde ich es in mir. Wie einen Schatz. So etwas wie ein Notvorrat, der in einem tiefen Stollen in mir aufbewahrt liegt. Lebendig immer noch, warm, leuchtend. Natürlich habe ich inzwischen nicht nur Glück erfahren. Wem widerführe dies. Dennoch aber: Was für ein, ja, Massel: ein Leben lang kein Krieg, keine Fluchten, kein Hunger. Kein jähes Exil an einem fremden Ort, nach einem hastigen Aufbruch mitten in der Nacht. Keine gewaltsamen Tode um mich herum. Das, was ich heute bin, kommt bruchlos aus dem, was war. Glück.) (S. 37)
Und trotzdem ist auch schon in der Kindheit, abgesehen von dem Krieg, nicht alles nur Glück gewesen, denn auch in seinem engsten familiären Umkreis läuft das Leben nicht ohne Krankheiten und Brüche ab, so erkrankt die Mutter spätestens nach der Geburt der Schwester an Depressionen und muss immer wieder in die Klink, sein Vater wird als Soldat an die Grenze beordert, die Haushaltshilfe fährt wieder nach Hause:
Von einer Minute auf die andere war ich allein. Es war totenstill im Haus. Nicht einmal Astor bellte im ersten Stock, oder Carino in seinem Zwinger. Ich saß auf dem Boden, schob mein Feuerwehrauto hin und her und wartete darauf, dass jemand kam. Es kam jemand, nach einer Ewigkeit oder einer Viertelstunde. Lotti und Heiri Strub rumpelten mit Sack und Pack und einer Katze zur Tür herein. „ Keine Sorge, wir sind jetzt da.“ (S. 44)
So also ist Urs Widmers Erinnerung: episodisch greift er auf Personen und Ereignisse zurück, erzählt kleine Anekdoten, fasst Beobachtungen kunstvoll mit Spannungsbögen, Übertreibungen und Ironie als Erzählungen zusammen. Und wie wahr sind wohl seine Erinnerungen, wie viel Erfundenes steckt darin? Der Autor erklärt, direkt auf den ersten Seiten, wie er es mit der Dichtung und der Wahrheit: „Heute glaube ich, dass jedes Erinnern, auch das genauste, ein Erfinden ist. Das Tatsächliche erinnern: Auch daraus kann ein Roman werden.“ (S. 7) In einem Interview [1] erzählt er, dass, obwohl er sich gerade an seine ersten 30 Jahre ganz besonders gut erinnere, Geschichten doch oft Lücken haben, dass sie wie ein Flickenteppich seien und es der Erfindung bedürfe, um diese Löcher im Teppich, die Lücken in der Erinnerung, zu füllen.
Und er hat sich auch Gedanken dazu gemacht, was es bedeutet, wenn ein Autor seine Autobiografie verfasst, direkt im ersten Satz, der schon überall zitiert ist, es hier also auch werden soll, kommt er darauf zu sprechen:
KEIN Schriftsteller, der bei Trost ist, schreibt eine Autobiographie. Denn eine Autobiographie ist das letzte Buch. Hinter der Autobiographie ist nichts. Alles Material verbraucht. Kein Erinnerungsrätsel mehr. (S. 7)
Nun, Widmer scheint, liest man seine Autobiografie, völlig bei Trost zu sein, geradezu auf der Höhe seiner Erzählkunst. Ohne eine aufgebrezelte Sprache, ohne die aller fantastischsten Geschichten erzählt er uns eine Kindheit und Jugend, erzählt ganz viel auch über die Zeit, die vierziger, die fünfziger und die sechziger Jahre und dass es damals zwar nicht so komfortabel wie heute war, manche Zimmer konnten nicht geheizt werden und noch in den sechziger Jahren hatte nicht jede Wohnung eine Wellnessoase, manche hatte nicht einmal eine funktionierende Badewanne. Dafür war es aber auch möglich, das Auslandssemester in Montpellier nicht in der Universität zu verbringen, sondern damit, die Sonne, das Licht und die Wärme zu genießen, Leute kennenzulernen, Landschaften zu erkunden, vor allem: die Liebe zu erproben. Was für eine Zeit vor der Erfindung der Credit Points und des Workloads! Und welche merkwürdigen Vorgänge am Arbeitsplatz berichtet werden: Da wird der Vorgesetzte Widmers entlassen, sein Buchprogramm passt nun wirklich nicht zur konservativ-katholischen Ausrichtung des Verlages, und Widmer bekommt dessen Nachfolge angeboten:
Bald darauf wurde Otto F. entlassen. Herr Dr. Rast bestellte mich in sein Büro und bot mir die Nachfolge an. Über das Gehalt würden wir uns gewiss einig werden. Ich schluckte leer und fragte mich – oder vielleicht auch ihn? -, was ich falsch gemacht hatte, und dass er so etwas überhaupt erwägen konnte. Ich kündigte. (S. 333)
Und dann ist da noch das Motiv des Reisens. Es sind die Reisen, die die Familie unternimmt, die Sommerreisen ins Lötschental, später die Reisen zur Familie der Mutter, die aus den Bergen der südlichen Schweiz stammte, die Reisen nach Frankreich, das Auslandssemester in Montpellier, später Paris und zwischendurch immer wieder Südfrankreich und Spanien. Zu dieser Eroberung der Welt gehören natürlich auch die entsprechenden Fortbewegungsmittel: das Fahrrad in der Kindheit, das erste eigenständige Erkunden ermöglicht, später die Vespa, mit der er nach Montpellier fährt, dann das erste Auto.
Ganz am Ende seiner Erinnerung klärt sich auch der merkwürdige Titel des Erinnerungsbuches. Als nämlich in Barcelona auf dem Campingplatz seine Frau May sein erstes Manuskript gelesen und für gut befunden hat, als er weiß, dass er nun Schriftsteller werden wird, da bestaunt er voller Erleichterung die benachbarte Öl-Raffinierie:
Die Raffinerie (…) erstrahlte plötzlich in tausend Lichtern. Gelb, orange, rot. Sie sah jetzt wie ein Weltraumbahnhof aus, oder wie ein Raumschiff selbst, das bereit war, zu einer Reise an den Rand des Universums zu starten. May setzte sich neben mich und wir staunten beide das Wunder an. (S. 343)
Widmer ist eine wunderbare Autobiografie gelungen, nichts Aufregendes, nichts Innovatives, dafür die fein erzählte Geschichte eines Lebens zwischen der 1930er und 1960er Jahren. Das Buch ist völlig zu Recht auf der Longlist des Buchpreises gelandet – und leider nicht auch auf der Shortlist.
Urs Widmer (2013): Reise an den Rand des Universums, Zürich, Diogenes Verlag
[1] Hier ist ein Interview mit Urs Widmer zu hören.
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Hallo Claudia,
das klingt sehr, sehr verlockend. Vielen Dank für die Besprechung. Widmer ist bisher – ohne, dass ich wüsste, weshalb – komplett an mir vorbeigegangen. Muss sich anscheinend ändern. LG Anna
Liebe Anna,
ich mochte das Buch nach den experimentellen, innovativen, unkonventionellen und aufgebrezelten Romanen, die ich vorher gelesen habe, sehr. Sehr schlicht, sehr ruhig, sehr schön geschrieben, mit ganz viel Lebenslust, aber auch den Abgründen. Und der Vergleich, den wir als Leser mit unserer heutigen hysterischen bis ins letzte mit Wettbewerb und marktwirtschaftlichem Denken angefüllten Zeit ziehen können, ist auch darüber hinaus noch interessant, eigentlich sogar: entlarvend.
Viele Grüße, Claudia
Gebongt. Wird gekauft/ausgeliehen, was auch immer. LG Anna
Liebe Anna,
ich hoffe, Du wirst die „Reise“ mögen und mehr Lesespaß haben als mit Eschenbach und Blumenberg!
Ein schönes Wochenende wünscht Claudia
Liebe Claudia,
oh, da habe ich mich doll gefreut, dass Du die Autobiografie von diesem wunderbaren alten schweizer Leisetreterzausel hier vorgestellt hast. Vielen Dank dafür! Für mich war das eine wunderbare Erinnerung an einen Autor, den ich sehr gern gelesen habe – und Dank Deiner schönen Besprechung wird das Buch bestimmt bald auf meinem ‚dringend zu lesen‘ Stapel landen.
Urs Widmer ist einer der Autoren, die einen ganz eigenen Erzählton haben. Einen, der die Leser aus dem Alltag raus und wieder zurück in die eigene Zeit und Geschwindigkeit zu holen in der Lage ist. Um sie dann in eine ganz andere Welt zu entführen. Übrigens meistens eine ziemlich abgründige Welt, – Man muss diesen Schreibstil mögen und ich kenne durchaus Lesemenschen die diesen Ton langsam und zu betulich finden.
Ich finde ihn grossartig und mag Widmers Bücher sehr. Darunter besonders solche ‚kleinen‘, wie z.B. den ‚Blauen Siphon‘, Widmer braucht für seine Geschichten nie viele, jedenfalls keine überflüssigen Worte.
Ein anderes, dies allerdings gut 300 Seiten umfassend, ist der schon vom Titel her ziemlich absurd anmutende Roman ‚Der Kongress der Paläolepidopterologen‘. Besonders beim Kongess zeigt sich dieser sehr feine, leise Humor, der Widmer zu eigen ist und der mich bei der Lektüre oft so laut hat lachen lassen.
So, genug geschwärmt und geschwallt und noch ein dickes Danke für diesen Post.
Liebe Grüsse, Kai
Lieber Kai,
wow, Du bist ja ein richtiger Widmer-Fan, so ganz euphorisch! Obwohl ich keines der Bücher kenne, die Du hier benannt hast – dafür aber das ein oder andere andere – kann ich dem, was Du schreibst über Widmers besondere Art des Schreibens, nur voll und ganz zustimmen. Und genauso ist es hier auch. Und vor allem der „leise, feine Humor“ hat mich völlig begeistert. Ich könnte ja noch die ein oder andere wunderbare Anekdote zum besten geben, will Dir aber nicht die Vorfreuede vermiesen. Wenn Du Widmer gern liest, führt, das muss jetzt einfach mal so gesagt werden!, an diesem Buch wirklich überhaupt gar kein Weg vorbei :-)!!! — Irgendwie scheinen wir aber nur einige wenige zu sein, die Widmer schätzen, denn dass sein Buch auf der Longlist stand, hat nur zu wenig Resonanz geführt. Komisch, finde ich.
Viele Grüße, Claudia
PS: Und überhaupt: Sehr, sehr schön, von Dir zu hören. Ich hoffe, Ihr habt so langsam eine neue Bleibe gefunden, so dass Ihr wieder etwas unbeschwerter in die Zukunft schauen könnt.
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