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Julia Trompeter: Die Mittlerin

Trompeter_2Julia Trompeter studierte u.a. Germanistik und Philosophie, sie führt Sprechduette auf, weiß also um die Kunst der knappen (Gedicht-)Form und der Melodie der Worte, und hat nun ihren ersten Roman geschrieben. Im Roman erzählt eine Ich-Erzählerin, studierte Philosophin und leidenschaftliche Gedichtschreiberin davon, wie sie damit kämpft, einen Roman zu schreiben.
Die Autorin also lockt den Leser charmant lächelnd in ein sehr doppelbödiges Spiel, voller literarischer und philosophischer Anspielungen, mit Gesellschaftsbeobachtungen, mit Liebesszenen natürlich, genauso wie es sich gehört in einem Roman, mit schonungsloser Selbstreflektion und der Entwicklung der Heldin – und sie lockt den Leser immer wieder auch in die Auseinandersetzung damit, was ein Roman alles darf, was er alles kann.

Das Ausgangsszenario ist schnell beschrieben: Die Ich-Erzählerin sitzt im Verlag der „Verlagsfrau“ gegenüber, hat ihr wohl etwas erzählt von der Geschichte, die sie gerne schreiben möchte über eine Literaturagentin, die sie immer die Mittlerin nennt, und nun macht die „Verlagsfrau“ der Erzählerin auf ruppige und entschiedene Art deutlich, was den Roman auszuzeichnen habe: Einen Plot brauche sie, „komme was wolle“, eine Vorgeschichte, in der die Figur der Protagonisten lebendig werde, am besten habe sie auch gleich etwas ganz Außergewöhnliches erlebt, und auf keinen Fall solle sie in Erwägung ziehen, irgendwie Thomas Bernhard in ihre Prosa einzubinden: „Wir bekommen jedes Jahr massenweise Manuskripte im Thomas-Bernhard-Stil.“ Komisch solle sie schreiben und bei allem beherzigen, was auch im Marketing gelte:

Wenn Sie überhaupt eine Chance haben wollen, dann müssen Sie sich von den anderen unterscheiden. Das sehe ich bei Ihnen momentan nicht.

Nach dieser deutlichen Ansage würden wohl viele Romanaspiranten sofort und auf der Stelle die Flinte ins Korn werfen. Daran denkt natürlich auch die Erzählerin. Sie müht sich überhaupt mit dem Gedanken, einen Roman zu schreiben, trifft sich aber immer wieder mit ihrer Mittlerin, die sie ihrerseits ebenfalls versucht zur Prosa zu überreden, schließlich habe sie doch dieses besondere Talent. Von Treffen zu Treffen bleibt die Erzählerin unentschlossen, ruft die Mittlerin sogar zwischen den verabredeten Terminen an, um ihr ein „nein“ entgegenzuschleudern und fiebert dann doch mehr und mehr dem Treffen mit der Mittlerin am kommenden Mittwoch entgegen.

Damit ist der Handlungsverlauf im groben schon skizziert, viel Action, viel Spannung gibt es im Alltag der Erzählerin eigentlich nicht, statt dessen mehr Nachdenken, mehr Beobachtung, mehr Reflektion und Assoziation. Ob die Erzählerin bis Mittwoch noch einen Plot findet für ihren Roman, bleibt lange unklar.

Allein der Alltag der Erzählerin schafft eine gewisse Handlung: die Treffen mit der Mittlerin, der abendliche Besuch einer Bar, in der die Erzählerin am Vortag noch mit der Mittlerin saß und in der sie nun einen jungen Mann anspricht, den einzig interessanten im Raum wie sie meint, einen Leser nämlich, der unglücklicherweise überhaupt keine Lust auf den erzwungenen Small Talk hat. Sie berichtet von ihrer Arbeit in einer Bäckerei, von vor Fett und Zucker triefendem Backwerk, dass dem Leser das Wasser nur so im Mund zusammenläuft, und ihrer Texterei in der Onlineredaktion. Mit knappen Skizzenstrichen macht sie die Zumutungen der modernen Arbeitswelt lebendig, zeigt uns den Prototyp des modernen Chefs, der Mitwirkung und Betriebsräte hasst und sich ansonsten als vorbildlicher Soziopath seine Autorität jeden Tag aufs Neue durch die Trias von Brüllen, Schmeicheln und Kündigen erwirbt. Sie schreibt über Maifeste, über Hotels und günstige Mietwagen, kurz, prägnant und vor allem: werbewirksam. Und plötzlich entdeckt sie Zusammenhänge zwischen ihrem Können als Lyrikerin und dem Texten der Teaser, nämlich nicht nur die Zusammenhänge der wirtschaftlichen Verwertbarkeit beider Textgattungen, sondern auch die sprachliche Finesse, die beiden Textformen eigen ist:

Vielleicht war der Unterschied dieser Teaser-Texte zu einem Gedicht weniger groß, als ich bis dahin gedacht hatte, da sich ja das Gedicht ebenfalls durch Kürze und Prägnanz auszeichnen sollte und den Leser zudem im besten Falle dazu anhalten sollte, den ganzen Gedichtband, so es denn einen zu kaufen gab, zu erstehen. Und zum ersten Mal fiel mir auf, dass ich der Job der Teaser-Schreiberin vielleicht gerade deswegen bekommen hatte. Deswegen nämlich, weil ich, aus meiner sonstigen Tätigkeit als Dichterin heraus, einen Umgang mit Sprache erlernt hatte, der mich zur Teaser-Schreiberin geradezu prädisponierte, da ich mich mit dem Aussieben, dem Feilen, dem Zurechtstutzen von Sprache ja einigermaßen auskannte – und es versetzte mir einen Stich, als mir bewusst wurde, dass ich seit mehreren Jahren jeden Montag einem vollkommen profitorientierten Unternehmen einen wichtigen Teil meines Talents, meines Könnens und meiner Persönlichkeit und damit ganz augenscheinlich meines Ergons in den Rachen warf. (S 137)

Diese Art des Erzählens steht im Gegensatz zu dem doch gewichtigen Hinweis, den die Verlagsfrau ihr gegeben hat, nämlich bloß einen großen Bogen um Thomas Bernhard zu machen. Doch davon lässt sich die Erzählerin überhaupt nicht beeindrucken. Bernhard geistert immer wieder durch ihren Text, seine Texte sind ihre Referenzen, seine Ideen und Gedanken regen sie zu Ideen und Gedanken, zur Auseinandersetzung an, fast sucht sie die Zwiesprache mit ihm. Diese Art des Erzählens ist sogar der direkte Bezug zu Bernhard, der in seinen Romanen seine Figuren ebenfalls in monologisierender Form erzählen ließ, der bekannt war für die kunstvoll verschachtelten Sätze, mit ihren immer wieder eigentümlichen Assoziationsketten. Und ganz in diesem Ton erzählt auch Ich-Erzählerin – man mag sich gar nicht vorstellen, wie die Verlagsfrau darauf reagieren wird. Diese Art zu erzählen macht das Lesen manchmal anstrengend, es bedarf schon einer besonderen Konzentration auf den Text, aber auch immer wieder überraschend, weil wirklich keiner der gedanklichen Sprünge und Wendungen vorhersehbar ist, weil beinahe in jedem Satz eine merkwürdige Wendung vollzogen wird, manchmal ironisch wirkend, manchmal nachdenklich stimmend, jedenfalls ungewöhnlich.

Und während die Ich-Erzählerin uns ihre Tage bis zum nächsten Treffen mit der Mittlerin erzählt, ihre Auseinandersetzung mit der Idee, einen Roman zu schreiben, ihre Suche nach einem Plot, der doch mit der Mittlerin zu tun haben sollte, erschließt sie quasi so ganz nebenbei, was der Roman so alles kann. Er kann uns – natürlich – eine Geschichte erzählen, er kann ein Schlaglicht werfen auf die gesellschaftliche Realität, er kann uns eine Person nahebringen, ihre Gefühle, die sie so schön und praktisch in Spiegelsälen, Kellern und Verließen untergebracht hat, so nahe, dass wir sie gerne kennenlernen würden, sie vor allem aber sehr sympathisch finden. Und auch wenn er so ganz auf der Höhe der gesellschaftlichen Realität angesiedelt ist, kann er doch kurzerhand Welten erschaffen, die den üblichen Regeln nach nicht real sein können, was den Leser aber nicht weiter stört, er folgt willig und gönnt der Protagonisten jede merkwürdige Wendung. Und natürlich kann der den wunderbarsten Zeigefinger erheben und mit ganz viel Lust an der sprachlich geschliffenen Kritik zum Beispiel darüber nachdenken, wie das Verhältnis von Körper und Geist in unserer Gesellschaft immer wieder ganz falsch gedeutet wird, wenn aus dem Übergewicht eines Menschen auf dessen psychische Gesundheit geschlossen wird:

Und damit es zwischen diesen [dem Körper und dem Geist] wieder eine gewisse Entsprechung gibt, kann der moderne Mensch entweder viele kleine bunte Pillen schlucken oder, wenn das nicht hilft, einfach die nächsten zwanzig Jahre lang meditieren.
Damit die Schlichtheit der dahinter stehenden Erkenntnis nicht allzu deutlich zutage tritt, verpacken manche Mediziner ihre Weisheiten gerne hinter endlosen Analysen und schwammigen Diagnosen und völlig belanglosen Prognosen. Immer, wenn niemand, auch nicht der Chefarzt, dessen Name Programm und dessen einziges Programm sein Name ist, weiterweiß, benutzen sie das Wort Formenkreis. Der Patient leidet unter irgendeinem Blabla aus dem sowieso Formenkreis. (S. 188)

Man kann sich vorstellen, dass die Ich-Erzählerin, wenn sie denn diese so treffenden Formulierungen erdenkt, ihre eigene Entwicklung und die Entwicklung ihres Romans ordentlich befeuert. Und die Mittlerin? Die Mittlerin, die mit ihrem quietschenden Fahrrad, dem kleinen Kind und dem verdammt gut aussehenden Ehemann, der so gerne Köfte isst und deshalb von der Erzählerin konsequent Köfte-Belmondo genannt wird, vielleicht auch ein bisschen das Leben verkörpert, das die Ich-Erzählerin gerne hätte, sie vermittelt ganz offensichtlich den fertigen Roman nicht nur an einen Verlag, sondern ist vor allem diejenige, die der Erzählerin hilft, einen Roman auf die Beine zu stellen. Die Mittlerin also mehr noch eine Hebamme dieses literarischen, dieses sprachlich überzeugenden Spiels.

Julia Trompeter (2014): Die Mittlerin, Frankfurt am Main, Schöffling & Co

Eine weitere Besprechung findet Ihr hier.

Nino Haratischwili: Das achte Leben (Für Brilka)

Haratischwili_2Die Rezensenten im Feuilleton und die Besprechungen auf den Blogs haben – zumeist – eines gemeinsam: Sie übertreffen sich fast gegenseitig beim euphorischen Lob über Haratischwilis Roman. Dabei sehen sie Positives auf allen Ebenen, die einen Roman ausmachen: die spannende Handlung, die über 100 Jahre reicht und uns dabei die Fährnisse nahebringt, die die Mitglieder der Familie Jaschi während des 20. Jahrhunderts in Georgien – und damit in einem kommunistischen, vom Geheimdienst eisern unterjochten Land – erleiden; die eindringliche, bunte und mitreißende Sprache, umso überzeugender, als dass Haratischwili keine Muttersprachlerin ist; die chronologisch-linear erzählten Geschichten der sechs Generationen bzw. der sieben Leben, zum Teil sich zeitlich verschränkend und immer im Kontext der geschichtlichen Ereignisse, die manchmal mehr, manchmal weniger direkten Einfluss auf die handelnden Personen haben.

Nino Haratischwili entfaltet tatsächlich ein weites Panorama: Sie entführt uns nicht nur in ganz verschiedene geografische Bereiche, nach Tbilissi in Georgien, nach Petrograd/Leningrad, nach Moskau, Prag, London, Berlin und Wien, sondern sie schickt uns auch ins 20. Jahrhundert zurück, gleich Jahrhundertwende, als in Georgien Anastasia, genannt Stasia, geboren wird, Tochter des Schokoladenfabrikanten in einer Provinzstadt. Flankiert wird ihr Erzählen immer wieder durch historische Einsprengsel, die Orientierung geben, welche politischen Entwicklungen sich gerade mehr oder weniger unheilvoll entfalten.

Der Vater Anastasias hat eine Konditorenausbildung gemacht und sein Wissen dann in Prag, später in den besten Hotels Europas vervollständigt. Nach Georgien zurückgekommen ist er mit einer Gewürzmischung zur Verfeinerung von Schokoladen und verschiedenen Ideen, nämlich eine Schokoladenmanufaktur zu eröffnen mit angeschlossenem Lokal und seine Heimatstadt zum Nizza Georgiens werden zu lassen. Die kommunistische Revolution macht seinen Ideen ein Ende, das Land erleidet einen wirtschaftlichen Stillstand, aus dem exklusiven Lokal wird schnell eine Betriebskantine, er selbst als Angestellter des nun staatseigenen Betriebs immer weiter degradiert, dafür bereitet er auch nicht mehr allmorgendlich seine exquisite Gewürzmischung vor. Und nicht nur der Vater muss seine Träume begraben, auch Stasia, die doch Balletttänzerin werden möchte, am liebsten in Paris, muss sich in ihr Schicksal fügen – und heiraten, immerhin einen zaristischen Leutnant, der mit ihr die Liebe zum Reiten teilt.

Dieser Simon Jaschi entscheidet sich in den Revolutionswirren schnell für die richtige, nämlich die rote Seite und so reist er nach Petrograd/Leningrad ab, ein paar Wochen nach der Trauung mit Stasia. In den folgenden Jahren werden Stasia und Simon kaum ein Familienleben haben, Simon ist im militärischen Auftrag mit dem Aufbau der sozialistischen Gesellschaft in Leningrad und Moskau beschäftigt, weit weg von Georgien. Damit ist ein Lebensmuster angelegt, das auch die nachfolgenden Generationen leben: Kostja, der Sohn Stasias und Simons, folgt dem Vater zur Armee, begeistert sich für die Flotte und wird später, nach dem Zweiten Weltkrieg, U-Boot-Kommandant, zuständig für den Aufbau der atomgetriebenen U-Boot-Flotte. Andro Eristawi, der Freund Kittys, der Tochter von Simon und Stasia, kollaboriert im Krieg mit der deutschen Wehrmacht, denn der russische Staat hat seine Mutter ermordet und so strebt der Sohn ein freies Georgien an, die Deutschen haben versprochen dabei zu helfen, wenn sie den Krieg gewinnen. Nach Ende des Krieges landet Andro in einem Arbeitslager, ziemlich sicher wäre er dort zu Tode gekommen, wenn nicht Christine, die so gut aussehende Schwester Stasias, ihre sexuell erzwungenen Kontakte zum Geheimdienst nun endlich für die eigene Familie hätte nutzen können.

Es gehen Risse durch die Familie, von Generation zu Generation. Immer wieder brechen alte Wunden auf, immer wieder kommen neue Probleme, seien es politische Veränderungen, seien es die ganz normalen emotionalen Verwicklungen, hinzu. Gesprochen wird konsequenterweise kaum in der Familie, zumindest nicht über die wirklich großen, die zum Teil unfassbaren Erlebnisse. Kitty zum Beispiel erzählt weder ihrer Mutter noch ihrem Bruder davon, dass sie in die Fänge des NKWD (Vorläufer des KGB) geraten sei, zwei Monate vor Ende ihrer Schwangerschaft – natürlich, ist dieser Zeitpunkt von ihrer Folterin umsichtig, denn mit großem Druckpotenzial, gewählt. Sie erzählt nichts von der tagelangen Folter, bei der sie den Aufenthaltsort Andros preisgeben soll. Sie erzählt nicht, wie ihr das Kind aus dem Bauch geschnitten worden ist, die Krankenschwester, die zu dieser Tat gezwungen wurde, dann wenigstens noch ihr Leben gerettet hat. Als dann ausgerechnet die Frau, die Folter und Mord befehligt hat, als Geliebte des Bruders Kostja wieder in Erscheinung tritt, stolpert Kitty dann folgerichtig in ein ziemliches Desaster, zusammen mit Mariam, der damaligen Krankenschwester, die – natürlich – nun die Verlobte Kostjas ist.

Aber: So wie die Personen bis ins Unermessliche abstürzen, so ergeben sich auch immer wieder glückliche Fügungen und märchenhafte Aufstiege, sie haben viele helfende Hände an ihren Seiten. Haratischwili_3Da ist Georgi, Kostjas georgischer Freund während der Ausbildung in der Marinehochschule, der später ein hoher Funktionär im KGB ist und seine schützenden Hände immer wieder über die – gestrauchelten – Familienmitglieder Jaschi breitet. Da ist Amy in London, die am Heiligabend, alle sind schon zu Hause, die Straßen leer gefegt, in einer Bar eine Frau singen hört und so begeistert ist, dass sie sie zu einer berühmten Sängerin macht. Da ist die Geschichtsprofessorin im Berlin des 21. Jahrhunderts, die an Niza besondere intellektuelle Fähigkeiten beobachtet hat und sie fördert, auch wenn Niza alles tut, um ihr die Hilfe zu verleiden.

Um das Familienpersonal herum hat Haratischwili Nebenfiguren postiert, deren Herkunft, deren Leben zumeist auch ausführlich geschildert wird und die so immer wieder andere gesellschaftliche Bereiche repräsentieren. Sie bleiben im Blick der Erzählerin, auch sie werden in ihrem Leben immer weiter begleitet, auch wenn sie sich von der Familie entfernt haben. Und manchmal treffen sich die Nachkommen sogar wieder, versuchen sich an der vor Generationen schon gescheiterten Liebesbeziehung – wiederum vergebens.

Das Schweigen in der Familie, die häufigen und dramatischen Abstürze und die meistens folgenden Wiederaufstiege, die Figuren, die sich über die Jahre und die Generationen hinweg immer wieder treffen, die verzahnten Handlungsstränge, der Freund aus der Ferne, der immer wieder hilft, manchmal nicht ganz eigennützig: Das ist auf der einen Seite unterhaltsam erzählt, hat aber in vielen Facetten durchaus etwas Seifenopernartiges.

Nicht ganz unproblematisch ist auch die Erzählhaltung. Niza, die im heutigen Berlin lebt, recherchiert die Familiengeschichte, setzt die Erzählungen der Urgroßmutter Stasia und die historischen Fakten ins Verhältnis. So versucht sie, ihrer zwölfjährigen Nichte Brilka die Familiengeschichte zu erzählen, endlich alle Geschichten aufzudecken, die jahrzehntelang verschwiegen wurden, nicht nur, um Brilka die Vergangenheit zu erklären, sondern auch, um sich letztendlich selbst zu retten. Durch dieses Erzählkonzept wird vor allem die Handlung vorangetrieben, oft wird auch große Spannung aufgebaut.

Bei diesem Erzählkonzept muss es jedoch zwangsläufig Leerstellen geben, denn bei aller Recherchekompetenz der Historikerin Niza, bei aller Farbigkeit und Fabulierlust der Urgroßmutter gibt es einfach viele Situationen, die sie nicht kennen kann, weil sie sie nicht miterlebt hat und weil sie viele Person nicht mehr fragen kann. Das ist Niza auch klar, diese Problematik thematisiert sie mehrfach, weist Brilka darauf hin, dass verschiedene Ereignisse nicht rekonstruierbar seien, dass über die Motivation verschiedener Handlungen spekuliert werden müsse.

Ich weiß nicht, Brilka, und ich werde es auch nie mit Gewissheit wissen. Aber was macht das schon? Die Vermutung ist das, was erzählenswert ist, nicht die Gewissheit. (S. 255)

Und so füllt Niza Leerstelle um Leerstelle, indem sie immer wieder ihre Vermutungen über die innersten Gedanken der Figuren erzählt und so mit ihrer Deutung die mögliche Motivation der Personen festlegt. Ihre Vermutungen gehen oft sehr weit, so weit, wie es nur ein auktorialer Erzähler schaffen kann und manchmal schrecken sie auch vor dem Klischee nicht zurück. Da trifft zum Beispiel Ida, eine Geliebte Kostjas, ein junges blindes Mädchen, das so wundervoll Klavier spielen kann und – natürlich – auch Ida heißt. Die ältere Ida gibt ihren Platz auf dem Transporter an dieses Mädchen weiter, das so aus der Stadt entkommen und überleben kann. Und als sie sich verabschieden, liest sich das dann so:

(…) und Ida spürte, dass das Mädchen sie in diesem Augenblick sah, sie wirklich ansah, sie erkannte in allem, was sie war, was sie erträumt und verfehlt, was sie geliebt und verloren, was sie gesucht und gefunden, was sie erstrebt und woran sie gescheitert war, was sie sich gewünscht und nicht erhalten hatte, was sie noch erhoffte und wovor sie sich fürchtete. (S. 336)

Nino Haratischwilis Roman also entwickelt eine weite, farbige und komplexe Geschichte der Familie Jaschi, die immer wieder die Themen Liebe, Hass, Verrat, Tod und Geister umkreist, alles vor dem politisch brisanten Hintergrund Georgiens. Trotz dieser vielen Geschichten, die sie über die 100 Jahre erzählt, trotz der immer wiederkehrenden Motive, die sie nutzt – einen Teppich, dessen Fäden für die ineinander verflochtenen Geschichten der Personen steht, die heiße Schokolade, deren Genuss kurzzeitig so glücklich macht, langfristig aber ins Unglück stürzt, das immer wiederkehrende Motiv des verlorenen Zwillings bzw. das Geschwistermotiv – kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass die doch sehr dramatische Handlung und die immer wieder so klischeehafte Deutung der Erlebniswelt der Figuren eben nicht über den ganzen Roman mit seinen 1300 Seiten trägt. So ist Marie Marie Schmidts Resümee in der ZEIT nichts hinzuzufügen:

Man vermisst die tiefe Dauer subjektiv wahrgenommener Erlebnisse und beginnt, sich dasselbe Buch ganz anders zu wünschen. So wie es sein könnte, wenn Haratischwili den Mut gehabt hätte, sich mehr darin zu verlieren, wie die Personen der Geschichte sehen, spüren, erfahren, statt zu referieren, was ihnen zustößt.

Nino Haratischwili: Das achte Leben (Für Brilka) (2014), Frankfurt, Frankfurter Verlagsanstalt

Heike Geißler: Saisonarbeit

Geißler_1Es gibt wenig Literatur darüber, wie es so abläuft in unseren Produktionshallen, Büros und Eventagenturen. Romane, die sich mit der Welt der Arbeit und ihrer Auswirkungen auf die Menschen beschäftigen, Romane, die sich damit auseinandersetzen, wie weit das Primat der Wirtschaft in alle gesellschaftlichen Bereiche eingedrungen ist, sind kaum zu finden. Auch in den neuesten Verlagskatalogen drängeln sich Entwicklungsromane und die üblichen Geschichten zu Liebe, Lust und Leidenschaft und ihren dramatischen Seiten, flankiert von den Geschichten, die uns in die Vergangenheit entführen. Kaum ein deutscher Roman setzt sich dagegen mit ganz aktuellen gesellschaftlichen Verwerfungen auseinander.

So muss der interessierte Leser also zu Fachpublikationen greifen oder ist froh, wenn es wenigstens mal einen Essay, eine Reportage zum Thema gibt. Und einen Essay hat nun Heike Geißler geschrieben über ihre Zeit als Weihnachtssaisonkraft im Leipziger Lager von Amazon – und gleich noch eine Auseinandersetzung über die wirklich alle Energie aussaugende prekäre Arbeit. Auch wer schon einmal an einer Kasse im Supermarkt, an einer Maschine in der Produktion oder an der nach Prinzipien der Arbeitsteilung bis in kleinste Schritte aufgeteilten Dateneingabe bei der Annahme eines Kreditvertrages gearbeitet hat, wird hier viele Parallelen entdecken.

Heike Geißler ist preisgekrönte Schriftstellerin und Übersetzerin und sagt zu Beginn ihrer Abhandlung ganz deutlich, dass ihre Motivation nicht gewesen sei, eine Reportage aus der Arbeitswelt schreiben zu wollen, anschaulich und farbig auf der Grundlage eigener Erlebnisse und Erfahrungen oder gar investigativ mit dem Ziel, die möglicherweise unhaltbaren Zustände beim Großkapitalisten darzustellen. Sie hat sich auf eine Stelle im Lager beworben, weil ihr Konto gerade im Minus war, so viele Aufträge als Übersetzerin gibt es nicht immer, so viele ihrer Bücher verkaufen sich nicht immer und manche ihrer Kunden zahlen auch nicht so pünktlich.

Nun, einige Zeit später, schreibt Heike Geißler doch das Buch über ihre Zeit als Saisonkraft. Und sie wählt dazu ein ganz besonderes Vorgehen, denn sie schickt uns Leser auf die Erlebnistour durch die Arbeitswelt im Lager, schickt uns zum Bewerbungsverfahren, lässt uns dort zum Test arbeiten bei der Warenannahme, beim Warenversand, begleitet uns sodann, da wir den Job bekommen haben, zur ersten Schulung, die unentgeltlich stattfindet und die uns schon einmal in die Amazon-Geschäftsphilosophie einführt:

(Robert) sagt: Wir bei Amazon denken: Jeder Tag ist ein erster Tag. Das müsst ihr euch merken. Das ist jetzt eine gute Gelegenheit, sich das zu merken und einzusteigen und aufzusteigen. Noch werden Stellen vergeben, noch ist das hier ein aufstrebendes Unternehmen, aber unter uns: Jeder weiß, dass nichts ewig wachsen kann. Hier ist zwar eine Menge Potenzial, aber irgendwann wird das vielleicht anders sein. Also nutzt eure Chance. Sie beginnt jetzt, und ihr habt schon vieles richtig gemacht, indem ihr hierher gekommen seid. (S. 43)

Wir sind das Gegenüber, das Heike Geißler beobachtend und reflektierend begleitet, manchmal verreist sie auch, während wir uns mit den schweren Kisten plagen, manchmal sitzt sie mit einer Freundin im Café, wenn wir unsere schmutzigen und zerschundenen Hände betrachten, uns müde auf den Heimweg machen, zu Hause noch gleich am Küchentisch einschlafen aus Erschöpfung.
Nicht Heike Geißler läuft das Treppenhaus im Banana Tower hinauf, liest die Aufforderung „Handlauf benutzen!“ und benutzt ihn extra nicht, nein, wir sind es, die dort gehen. Nicht Heike Geißler ärgert sich darüber, dass die Kollegen auf der Palette neben ihrem Arbeitsplatz so viele Produkte stapeln, bis der Turm umzufallen droht, weil sie keine Lust haben, Produkte zu einem weiter entfernt liegenden Platz zu bringen, sondern wir. Nicht Heike Geißler friert immer, weil sich ein Tor nicht richtig schließen lässt, sondern wir Leser landen ein paar Tage später mit einer Erkältung und Fieber im Bett. Wir sind es, die Werkzeugkoffer, die so schwer sind, dass wir sie kaum tragen können, ins System einbuchen, Aquarien und Leuchtgloben, Wohltätigkeitstassen, Plüschtiere, Stoffpuppen, Vampirromane.

Sie buchen die anderen Tassen ein und fragen sich, wer kauft diese Tassen, wer kauft all die anderen Dinge. Inmitten der für den Verkauf vorzubereitenden Produkte werden Sie nicht gierig auf Dinge, sondern immun dagegen. Sie sehen das Lächerliche eines reflexhaften Konsums dermaßen deutlich vor sich (…). (S. 117)

Heike Geißlers Essay ist nicht hauptsächlich eine Streitschrift gegen die Arbeit im Lager von Amazon. Es ist auch eine Auseinandersetzung damit, was – angelernte – Arbeit jedweder Art, und das trifft zum großen Teil sicherlich auch auf so manche Bürotätigkeit zu, mit Menschen macht: Sie werden unfreundlich zueinander, gehen ungeduldig miteinander um, interessieren sich nur noch für den eigenen Vorteil, auch wenn sie anderen damit schaden. Wir, die wir dort ja arbeiten, werden auch missmutig, warten nicht mehr auf Kollegen, schlingen das Mittagessen hinunter, nehmen Fehler achselzuckend in Kauf, Hauptsache, es gibt keine Komplikationen.

Heike Geißler stiftet dazu an, darüber nachzudenken, ob es bei dieser Art von Arbeit nicht sogar um Leben und Tod gehe. Zwar erleiden – natürlich – nicht alle Arbeitnehmer sofort den physischen Tod, aber diese Arbeit, die so sehr den Körper fordert und so wenig den Kopf und die eine so unglaubliche und unsagbare Müdigkeit erzeugt, bringt über kurz oder lang das „Hirn zum Stillstand“, saugt alle Ideen, alle Energie aus den Beschäftigten, reduziert sie darauf, nur noch zu funktionieren. Sie verkaufen ihre Lebenszeit für € 6,95 die Stunde an das Unternehmen, zum Teil geschickt von der Agentur für Arbeit. Hier gibt es keine Solidarität mehr zwischen den Arbeitern, hier setzen sich Betroffene nicht zusammen und klären mit dem Arbeitgeber, wie die Situation sich verbessern lässt, die Gesetze zur Mitbestimmung werden zwar im Buchsortiment verkauft, gelebt werden sie nicht. Und so zitiert Geißler Byung-Chul Han, der geschrieben hat: „Aus erschöpften, depressiven, vereinzelten Individuen lässt sich keine Revolutionsmasse formen.“ (S. 195)

Während die Lagerarbeiter ihr Soll beim Einbuchen der neuen Ware zu erreichen versuchen, am Ende der Schicht gibt es ein Feedback, und da bekommen sie genau erklärt, bei welchen Artikeln sie über oder unter dem Leistungsniveau der Schicht lagen, wird Heike Geißler in der Leipziger Innenstadt zu einer Lesung eingeladen. Vorgestellt wird das Buch „Endlich wieder Montag! Die neue Lust an der Leistung“. Und noch ein anderer Titel ist Heike Geißler besonders in Erinnerung „Das Frustjobkillerbuch. Warum es egal ist, für wen Sie arbeiten.“ Beide Titel machen den Lesern, so Geißler, deutlich, dass es allein auf den Einzelnen ankomme, auf seine Einstellung zur Arbeit. Und die lasse sich leicht verbessern, wenn er einfach mal den Ideen der positiven Gedanken folge. Der Kontrast zu der beschriebenen Arbeit, zum Umgang der Mitarbeiter miteinander und zu den Folgen der Arbeit für die Menschen könnte kaum größer sein.

Und zum Ende ihrer Zeit bei Amazon wird Heike Geißler gebeten, die Schicht zu wechseln und so lernt sie die Kollegen der Turboschicht kennen. Die sind ganz besonders schnell bei ihrer Arbeit, sind Vorbild für alle anderen, denn sie buchen ganz besonders viele Waren ein. Und das funktioniert so: Die Gabelstaplerfahrer bedienen die Mitarbeiter dieser Schicht mit den Paletten, auf denen die Produkte leicht zu zählen sind. Die werden dann, ohne weitere Kontrolle, ob die Waren in Ordnung sind, ganz schnell eingebucht. Für die anderen Schichten bleiben dann die Paletten mit den vielen unterschiedlichen Waren, die alle einzeln in die Hand genommen werden müssen, um sie zu scannen: So lassen sich Zielvorgaben natürlich leicht übertreffen.

Es ist zu wünschen, dass es weitere Bücher gibt wie dieses von Heike Geißler, die sich mit dem Arbeitsleben beschäftigen oder die sich damit auseinandersetzen, was die Ideen der Messbarkeit, der Effizienz, des ständigen Ausgleichs zwischen Soll-und-Haben aus den Menschen macht, wie sie ins Leben, Denken und Fühlen eindringen und dort ihren Schaden anrichten.

Heike Geißler (2014): Saisonarbeit, Leipzig, Spector Books

Joshua Ferris: Mein fremdes Leben

Feris_2Nur auf den ersten Blick hat es Paul O´Rourke, Zahnarzt in Manhattan, mit einem Diebstahl seiner Identität im Internet zu tun, wie es Titel, Cover, Klappentext und Verlagsinformationen erwarten lassen. Wer nun eine spannende Geschichte über das Katz- und Mausspiel im Internet, wer gar kriminologische Recherchen und Verfolgungen erwartet, wer sich ein bisschen erschrecken möchte über die gespenstischen Möglichkeiten des Datenmissbrauchs im Internet, wer gar eine kritische Auseinandersetzung mit den Wirkungen sozialer Medien auf die reale Persönlichkeit, und das in Verbindung mit dem Doppelgängermotiv, erwartet: der wird enttäuscht.

Sicher gibt es da einen jemand, der nicht nur eine Website der Praxis ins Netz gestellt hat, sondern im Laufe der folgenden Tage und Wochen auch in immer mehr sozialen Netzwerken unter dem gekaperten Namen sehr präsent ist. Aber da ist eben kein Möchtegern-Doppelgänger am Werk, der sich für den realen Zahnarzt ausgeben will, um sich in seinem realen Leben breitzumachen – gute Vermögensverhältnisse inklusive, leider keine Frau, keine Kinder. Vielmehr ist der erste und direkte Ansprechpartner der Aktionen Paul selbst, denn er wird aus dem virtuellen Raum mit einer Frage konfrontiert, die ihn wohl schon länger selbst umtreibt: „Wie gut kennst du dich selbst?“ Und daraus entspinnt sich ein Dialog und ein Nachdenken über Zugehörigkeit, über verbindliche und verbindende Regeln, über Religion.

Paul O´Rourke hat es geschafft. Aus einer mittelosen Familie aus der Provinz stammend hat er nun eine gut gehende Zahnarztpraxis an der Park Avenue in Manhattan. Die Praxis ist effizient organisiert, sodass Paul spielend Patienten in fünf Behandlungszimmern versorgen kann. Betsy Convoy, die beste Zahnhygienikerin, die man sich denken kann, bereitet die Patienten mit einer professionellen Zahnreinigung schon einmal auf die Segnungen des Chefs vor, die Krankenkassen der gut betuchten Patienten zahlen es ja. Und Paul ist gut in seinem Job, er versucht zu reparieren, was die Patienten durch nachlässige Zahnpflege, und hier ist vor allem der unzureichende Gebrauch von Zahnseide zu nennen, vermasselt haben:

Ich rate meinen Patienten dringend, Zahnseide zu benutzen. Zuweilen keine leichte Aufgabe. Aber sie hätten eben Zahnseide benutzen sollen. Regelmäßiger Gebrauch von Zahnseide verhindert Paradontose und kann lebensverlängernd wirken, immerhin bis zu sieben Jahren. Natürlich kostet das Zeit und Mühe und kann einem auch sonst richtig auf den Sack gehen.(S. 11)

Mit Paul zu arbeiten ist nicht angenehm – auch in diesem Roman seinen Gedanken zu folgen, ist nicht immer die reine Freude und vielleicht wäre es für den Leser erquicklicher, wenn er sich insgesamt kürzer gehalten hätte-, denn er ist durch und durch Zyniker, der gesellschaftliche Konventionen, etwa das Grüßen seiner Mitarbeiterinnen am Morgen, ebenso missachtet, wie er sich über die kleinen Freuden seiner Mitmenschen, etwa auf einem See mit einem Bötchen zu fahren, mit deutlichen und offenen Worten lustig macht und kein Problem damit hat, den Patienten, den Mitarbeiterinnen auch mal ganz offen die Meinung zu sagen. Dem zu folgen ist manchmal anstrengend. Dann aber verkündet er auch solch messerscharfen Analysen der gesellschaftlichen Realität, dass es doch wieder ein Gewinn ist, seinen Überlegungen zu folgen: Selbst bekommt er sein iPhone, von ihm sehr schlau Ich-Maschine genannt, kaum aus der Hand, trotzdem durchschaut er die Wirkweisen des Internets ebenso klar, wie auch das Verhalten der so genannten wirtschaftlichen Eliten. Und so ist es auch leicht vorstellbar, dass es nicht leicht ist, mit Paul zusammenzuleben.

Paul ist Wissenschaftler, er stützt sich bei seiner Arbeit auf wissenschaftliche Diagnostik, nutzt seinen Verstand, trifft rationale Entscheidungen. Mit seinem Verstand durchschaut er viele gesellschaftliche Konventionen, macht sich lustig, lehnt sie ab. Damit ist er die Verkörperung des modernen, des aufgeklärten Menschen, der sich auf seinen Intellekt verlässt, zweifelt, bis er eine Erklärung, eine nachvollziehbare Begründung hat und alles ablehnt, was emotional ist, was sich eben nicht rational erklären lässt. Er liebt den Zweifel an allem und jedem, lehnt Gefühle ab, lehnt den Glauben ab, der keine Hilfe war, nachdem sein Vater sich im Bad erschossen und seine Mutter ihn in alle möglichen Kirchen mitgenommen hat, auf der Suche nach Schmerzlinderung.

Aber sein Leben ist irgendwie leer, ohne Sinn, ohne Struktur. Halt geben ihm die Red-Sox – solange sie nicht erfolgreich sind und er als Fan richtig gut mitleiden kann -, und der gelegentliche Ausflug in eine Shopping-Mall, um zu konsumieren, – obwohl er doch schon alles hat. Merkwürdigerweise findet er aber auch Halt in den Familien seiner Freundinnen, man könnte denken, er verliebt sich nicht in die Frauen, sondern in die Familien, aus denen sie stammen. Da waren die Santacroces, eine sehr katholische Familie, denen er unbedingt gefallen wollte, und dann die Plotzens, eine jüdische Familie, die er beneidete um ihren Zusammenhalt bei der Vielzahl an religiösen Ritualen. Aber: er glaubt nicht an Gott, weder an den katholischen noch an den jüdischen, und so scheitern diese Beziehungen.

Da kommt nun dieser Identitätsdiebstahl wie gerufen, denn der anonyme Schreiber scheint genau diese Leerstelle Pauls füllen zu können. So lassen es die Einträge auf der Homepage der Arztpraxis vermuten, so die Tweets, die Kommentare, die Mails, die er in Pauls Namen veröffentlicht oder direkt mit ihm austauscht. Was ist, wenn es eine Gemeinschaft von Menschen gibt, ein Volk, noch älter als die Juden, der Gott aufgetragen hat zu zweifeln, auch und ausdrücklich an ihm selbst, und die wegen dieses Zweifels verfolgt wird bis zum heutigen Tag? Eine Gemeinschaft, die Wert legt auf die Genealogie, durch die tatsächlich nachgewiesen werden kann, wer zu dieser Gruppe gehört, wie die Familien aus Kanaan ausgewandert sind und über Jahrhunderte durch Europa von Osten zum Westen, Namensänderungen inklusive? Eine Gemeinschaft, genannt die Ulms, die sich sogar mit ein bisschen Wahrscheinlichkeit – allerdings keine wissenschaftlich valide – genetisch nachweisen lässt, DNA-Tests sollen hier Aufschluss geben? Eine Gemeinschaft, die sich wieder im Ursprungsgebiet angesiedelt hat und dort ihre gemeinsamen Wurzeln pflegt? Das ist eine ziemlich verheißungsvolle Nachricht für Paul – allen seinen wissenschaftlichen, seinen intellektuellen, seinen aufgeklärten Vorstellungen zum Trotz.

Joshua Ferris blickt in seinen Romanen gerne auf den modernen Menschen, der sich in unwirtlichen Umgebungen zurechtfinden muss. Sein Roman „Wir waren unsterblich“ demaskiert den (Arbeits-)Wahnsinn in einer Werbeagentur, der Roman „Ins Freie“ zeigt, wie das zwanghafte Laufen das Bilderbuchleben eines angesehenen Anwalts zerstört. Nun schaut Ferris auf die (nur amerikanische?) Suche nach Lebenssinn, vor allem nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit ähnlichen Ideen, Regeln und Werten, die offensichtlich leicht durch eine Religion gestillt werden kann, für die modernen Ungläubigen eben auch eine, in der es nicht notwendig ist, auch an einen Gott zu glauben, in der der Zweifel eben zum Bekenntnis gehört.

Durch den geheimnisvollen Anonymus bringt Ferris Spannung in die Geschichte um Paul, dessen zynischen Ergüssen über die ersten 100 Seiten zu folgen manchmal schwerfällt und der sich sowieso gerne hätte etwas kürzen fassen können. Dann aber entwickelt sich die Geschichte – weit weg von der Datenmissbrauchsproblematik – im Zuge der Suche nach dem Urheber der merkwürdigen Texte zu einer interessanten Auseinandersetzung rund um die Sinnsuche des modernen Menschen und zeigt, wie schnell wir dem einen oder anderen Quacksalber auf den Leim gehen können, wie schnell wir in unserer Sehnsucht nach dem Verstanden-Werden und dem Dazugehören manipulierbar sind. Dabei wird Paul keine Figur, die dem Leser ganz besonders ans Herz wächst, immerhin aber ist er einer, der, manchmal auch mit Ironie und Witz, seinen Weg in eine abgründige religiöse Gemeinschaft deutlich macht, Aufklärung hin oder her.

Dieses Thema schien dem Verlag wohl nicht marktfähig genug, sodass es zu den falsche Assoziationen auslösenden Hinweisen kam. Dabei ist es doch ein ganz wichtiges, ganz aktuelles Thema – nicht nur in Amerika und der dort beobachtbaren religiösen Auswüchse bis die Führungsetagen der Politik. Zu einer Gruppe mit gleichen Ideen, Sorgen, Ängsten und Nöten zu gehören, scheint auch in Europa gerade sehr in Mode, es muss ja nicht immer eine religiöse Gruppe sein, der man sich gerne anschließt, manchmal reichen ja auch gemeinsame Feindbilder bei der (Lebens-)Sinnsuche, die ritualisierte Feier findet dann eben montags auf der Straße statt…

Joshua Ferris (2014): Mein fremdes Leben, München, Luchterhand Verlag

In der Welt geht Wieland Freund noch einen Schritt weiter, wenn er vorschlägt, die Geschichte um Paul O´Rourke als Parabel zu sehen: Was wäre, wenn er ein ISIS-Kämpfer sei?!

Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther

Petrowskaja_1Die „Katze Erinnerung“ so sinniert Gesine Cresspahl sei „unabhängig, unbestechlich, ungehorsam. Und doch ein wohltuender Gesell, wenn sie sich zeigt, selbst wenn sie sich unerreichbar hält.“ (Uwe Johnson: Jahrestage, 2. Februar 1968) In Uwe Johnsons „Jahrestage“ erinnert Gesine ihre Familiengeschichte, spricht sie auf Band, um sie für die Tochter Marie zu erhalten für den Fall, dass ihr etwas passiert. Sie rekonstruiert die Vergangenheit bis in die Jugendtage ihrer Eltern und versucht so für Marie die Wurzeln sichtbar zu machen, die ihr sonst in New York, weit weg von der mecklenburgischen Heimat der Mutter und der Großeltern, verloren gingen.

Auch Katja Petrowskaja begibt sich auf Spurensuche, denn ihre Familiengeschichten sind verloren gegangen im Laufe des stürmischen 20. Jahrhunderts mit seinen Kriegen und wechselnden Herrschaftssystemen, mit Wanderungen, Vertreibungen, mit der Vernichtung durch den Holocaust. Sie ist in Kiew aufgewachsen glücklich, fröhlich und geliebt, in einer Familie mit Eltern, Geschwistern, Großmüttern, Onkeln, Tanten und Cousinen. Es gab Familienfeste an langen Tafeln, „laut“ und „überbordend“, und doch hört sie durch das muntere Lärmen mehr und mehr einen „Missklang“, fühlt mehr und mehr einen Verlust, sehnt sich nach der ganz großen Familientafel, an der sich alle Zweige des Familienbaums zusammenfinden, die Gellers oder Hellers, die Krzewins, die Sterns und Levis:

Eines Tages standen plötzlich meine Verwandten – die aus der tiefen Vergangenheit – vor mir. Sie murmelte ihre frohen Botschaften vor sich hin, in Sprachen, die vertraut klangen, und ich dachte, mit ihnen werde ich den Familienbaum aufblühen lassen, den Mangel auffüllen, das Gefühl von Verlust heilen, aber sie standen in einer dicht gedrängten Menge vor mir, ohne Gesichter und Geschichten, wie Leuchtkäfer der Vergangenheit, die kleine Flächen um sich herum beleuchteten, ein paar Straßen, ein paar Begebenheiten, aber nicht sich selbst. (S. 25)

Katja Petrowskaja stellt sie uns vor, so als würde sie durch ein Familienalbum blättern und sie uns zeigen: den Revolutionär, der seinen Namen änderte, den Physiker, den der Schwager verurteilte, den Kriegsheld mit Namen Geroj truda, Held der Arbeit, von allen Gertrud genannt, die vielen Lehrer, die seit zweihundert Jahren Waisenhäuser gegründet und Taubstumme unterrichtet haben, die Omas mit den Blumennamen, Anna und Ljolja, die in Baij Jar umgekommen sind, den Großvater Wassilij, den Mann der Oma Rosa, „die den schönsten Namen aller Logopädinnen hatte und auf ihren Mann wartete, länger als Penelope“, nämlich vierzig Jahre. Und dann nimmt sie uns mit auf ihre Erinnerungsreise, und wenn die vielen Namen und kurzen Beschreibungen beim ersten Blättern im Familienalbum eher verwirrend wirken, so nähern wir uns mit ihr, wenn sie uns von ihnen und ihrem Leben erzählt, den einzelnen Personen, sie beginnen Konturen zu bekommen, bekommen ihre Geschichte wieder, bekommen ein Gesicht.

Wie aber kann Erinnern gelingen, wenn es die, die erzählen könnten, nicht mehr gibt? Auf welche Quellen kann man sich stützen, wie gut sind sie, lässt sich die Wahrheit so rekonstruieren? Natürlich recherchiert Petrowskaja in Archiven, sie sucht in Warschau das Jewish Genealogie & Familiy Heritage Center auf, sucht dort in den Death Records aus Yad Vashem, sie schreibt Briefe und Mails, sie telefoniert. Sie kann einige Fakten ermitteln, bekommt ein Bild des Hauses, in dem der Warschauer Zweig der Familie wohnte, erlangt Sicherheit über einige, die durch die Nazis im Holocaust ermordet wurden. Die Menschen aber, die sie sucht, bekommen so immer noch kein Gesicht. Um die Geschichten der Menschen lebendig zu machen, braucht sie Menschen, die sich erinnern, wie es war, Zeugen also – und Zeugen sind Überlebende, von denen es durch die lange Zeit kaum noch welche gibt.

Manche der Lebenden, die sich erinnern, haben die Ereignisse selbst erlebt, manche erzählen die Geschehnisse aber schon so, wie sie sie selbst gehört haben. Die „Katze Erinnerung“ also schleicht durch Petrowskajas Geschichten, unabhängig, ungehorsam, aber auch wohltuend. Manchmal schleicht die ungehorsame Katze auch durch Petrowskajas eigene Erinnerung – oder die ihres Vaters: Sie nämlich erinnert sich, dass er immer erzählt habe, dass ein Fikus auf der Laderampe des LKW gestanden habe, in dem schon die Nachbarn sitzen, um vor den heranrückenden deutschen Truppen aus Kiew zu fliehen. Damit die eigene Familie mit ihren Habseligkeiten noch Platz hat, räumt der Vater des Vaters den Ficus zur Seite. So wird die im Weg stehende Pflanze für Petrowskaja das Bild für die Rettung des Vaters:

Der Fikus scheint mir die Hauptfigur, ja, wenn nicht in der Weltgeschichte, dann meiner Familiengeschichte zu sein. In meiner Fassung hat der Fikus das Leben meines Vaters gerettet. Doch wenn selbst mein Vater sich nicht mehr an den Fikus erinnern kann, dann hat es ihn vielleicht tatsächlich nicht gegeben. Als er mir von der Evakuierung erzählte, habe ich in meinem Bild möglicherweise die fehlenden Details in die Lücken des Straßenraums eingefügt. (…)
Noch keine Woche war vergangen, als mein Vater zu mir sagte: Ich glaube, ich erinnere mich an den Ficus. Vielleicht. Oder habe ich den Ficus jetzt von dir?“ (S. 219, 220)

Die Mutter kann sich nicht mehr genau an die Hausnummer des Hauses erinnern, in dem der Warschauer Familienzweig lebte, der Vater weiß den Namen der Großmutter nicht mehr genau, „vielleicht Esther“. Das ist die Großmutter, die in Kiew zurückgelassen werden musste, weil sie so schlecht gehen konnte, nicht einmal die Treppen im Haus würde sie schaffen. Und als die Aufrufe aushängen, dass „saemtliche Juden“ umgesiedelt werden und alle Hausmeister aufgefordert waren, den Auszug penibel zu überwachen, als aber die Hausbewohner einheitlich meinten, dieser alten Dame könne die Umsiedlung nicht zugemutet werden, sie solle in ihrer Wohnung bleiben, da raffte sich vielleicht Esther auf, ging die Treppen hinunter auf die Straße und sprach gleich zwei deutsche Soldaten an, die ihr entgegenkamen. Es muss einen Zeugen geben für diese Geschichte, jemanden, der die Szene hinter der Gardine beobachtet hat und sie später erzählte.

Es gibt aber auch die wohltuenden Momente bei der Suche, vor allem dann, wenn plötzlich durch völlig überraschende Fügungen Menschen wiedergefunden werden: Eine mittlerweile hochbetagte Dame aus Israel ruft an, um Informationen weiterzugeben über die Schüler und Lehrer des Abschlussjahrgangs 1940 – und stellt sich dann als Nachbarin der Mutter heraus, sie können gemeinsame Erinnerungen aufleben lassen. Eine Frau, die mittlerweile in Amerika lebt und in Yad Vashem Informationen über die getötete Tante und den Onkel hinterlassen hat, weiß etwas über ein Familienmitglied, das nach England gelangt ist, die Töchter sind Lehrerinnen – so kommt ein ganz neuer Ast an Petrowskajas Familienbaum.

Katja Petrowskaja lässt uns an der Rekonstruktion der Geschichten so teilhaben, als beobachteten wir sie bei ihrem Rechercheprozess: Sie erzählt nicht chronologisch und linear die Biografien der Familienangehörigen, sondern immer wieder Teile ihrer Geschichte, Puzzlestücke, die sich beim Lesen mehr und mehr zusammensetzen und Geschichten ergeben, wenn auch nicht ganze Biografien. Und sie berichtet auch ganz offen darüber, was ihre Recherchen mit ihr machen, was sie bewegt, wenn sie etwas Neues erfährt. Sie zeigt an, wann sie Leerstellen füllt, darüber spekuliert, warum einer ihrer Vorfahren sich so oder so verhalten hat, „vielleicht“, „möglicherweise“, macht auch deutlich, wenn sie keine Antworten findet. Und immer wieder denkt sie darüber nach, was es bedeutet, sich auf mündliche Überlieferung zu beziehen, welches Verhältnis Fakten und Fiktion haben, nicht umsonst hat sie ihrem Text das Etikett „Geschichten“ gegeben.

Und so setzt sie Teile der Geschichten der verlorenen Familienmitglieder wieder zusammen. Sie zeichnet den Weg des Urgroßvaters mütterlicherseits nach, der, in Wien geboren, nach dem Tod seines Vaters die Taubstummenschule in Warschau übernimmt, während des Ersten Weltkriegs nach Kiew flüchtet und dort bleibt. Sie geht dem Prozess gegen Judas Stern auf den Grund, dem Onkel des Vaters, der 1932 in Moskau ein Attentat auf den deutschen Botschaftsrat verübt hat. Sie rekonstruiert das Leben der Großmutter Rosa, die während des zweiten Weltkrieges aus Kiew flieht und in den Dörfern des Ostens ein Kinderheim aufbaut. Sie besichtigt das KZ Mauthausen in Österreich an, in das der Großvater, der Mann Rosas, nach mehrjähriger Gefangenschaft verlegt wird, in den letzten Tagen des Krieges. Und sie spekuliert darüber, wie es passieren konnte, das die Urgroßmutter Anna und ihre Tochter in Kiew blieben und so das Massaker in der Schlucht von Babij Jar zum Opfer fielen. Bei ihren Recherchen stößt sie auf ein Phänomen, das höchst erschreckend ist, denn die die Vernichtung der Juden war allumfassend: sie sind nicht nur getötet worden,sondern völlig ausgelöscht, indem auch ihre Geburts- und Heiratsakten vernichtet wurden. Selbst ihre Friedhöfe wurden zerstört, die Grabsteine zu Pflastersteinen gemacht, die heute in Kalisz von allen Fußgängern mit Füßen getreten werden.

Wenn der Leser zum Abschluss der Lektüre, die im übrigen auch sprachlich ganz besonders beeindruckt, der Autorin noch einmal über die Schulter schaut, mit ihr gemeinsam im Familienalbum blättert und sich ihrer Wurzeln erinnert, dann kennt er nun die Geschichten der verlorenen Familienmitglieder, zumindest den „unglücklichen Teil“ ihrer Geschichten. Und er hat am Beispiel des Schicksals dieser Menschen, die er hier als Individuen kennengelernt hat, noch einmal vor Augen, welche Auswüchse das 20. Jahrhundert bereitgehalten hat, zur Erinnerung – und zur Mahnung.

Katja Petrowskaja (2014): Vielleicht Esther, Berlin, Suhrkamp Verlag (ab April auch als Taschenbuch)

Buchsaitens Blogparade zum Lesejahr 2014

BuchSaiten-Jahresabschluss_6 Immer, wenn es auf Katrins Seite  wieder den Hinweis auf eine neue Blogparade gibt, dann weiß der Leser: Es muss schon wieder ein Jahr herum sein. Das kann aber doch gar nicht sein: Gerade erst sind so viele Blogger dem Beispiel der – mittlerweile ganz verschollenen – Bücherphilosophin gefolgt und haben mit so viel Freude jeden Sonntag einen Sonntagsleser-Beitrag verfasst, um so die Blogwoche noch einmal Revue passieren lassen. Gerade noch ist es Frühling und überall fliegen die Blogstöckchen durch die Gegend, gefährlich scharf geworfene, manchmal auch solche, die im Laufe der Fluges die Form, also die Fragen, ändern. Darüber lassen sich die Blogschreiber noch einmal aus einer anderen Perspektive kennenlernen, aber schon häuft sich auch Unwillen wegen der vielen herumfliegenden Stöckchen, die beantwortet werden wollen und dadurch die Zeit zum Lesen und Darüberschreiben stehlen. Gerade erst wurde der Leipziger Buchpreis vergeben und alle Welt liest Sasa Stanisics Roman „Vor dem Fest“ und diskutiert über Sprache und Erzählstimme(n) – und natürlich auch Katja Petrowskajas „Vielleicht Esther“, auch wenn sie ohne Preis geblieben ist. Gerade erscheinen die Herbstprogramme der Verlage, obwohl wir alle noch stöhnen, weil wir nicht einmal alle Bücher lesen konnten, die uns der Frühling beschert hat. Da half auch die Sommerzeit nicht viel, um mit dem Lesen auch nur annähernd nachzukommen. Und ist nicht gerade erst die Longlist zum Deutschen Buchpreis veröffentlicht worden – und eine heftige Diskussion entbrannt, ob genug Frauen nominiert wurden, genug kleinere Verlage, überhaupt die „richtigen“ Titel? Gerade erst haben wir doch Longlistlesen 2014 ins Leben gerufen und gemeinsam die vielen Titel gelesen, Besprechungen geschrieben, diskutiert und bei den nominierten Büchern auch überzeugende Romane gefunden: auch eine Art literarischer Salon. Bei dem Spaß, den wir dabei gehabt haben, ist es fast nicht mehr so wichtig gewesen, dass Lutz Seilers „Kruso“ den Preis letztlich gewonnen hat. Ja, dann sind wir ja doch schon im Herbst angekommen und einige Blogschreiber haben sich gegen trübes, nasskaltes und vor allem graues Wetter Besonderes überlegt: Sophie befragt wöchentlich Schrittsteller über ihr Schreiben und andere Schrullen , Tilman fragt Leser danach, welche besonderen Lesetechniken sie im Laufe der Zeit herausgebildet haben , und Birgit hat keine investigativen Mühen gescheut, die abwegigsten Leseabgründe ihrer Leser zu erkunden, schamrote Ohren inklusive. Und schon gab es auf dem ein oder anderen Blog Weihnachtsbuchempfehlungen zu lesen. Dann neigt sich das Jahr wohl doch dem Ende entgegen – dann passt da wohl tatsächlich auch Kathrins Buchrückblick. Also los:   1. Welches war das Buch in diesem Jahr, von dem ich mir wenig versprochen habe, das mich dann aber positiv überrascht hat? (und Begründung) Von den Büchern, die ich lese, verspreche ich mir ja immer etwas, eigentlich ganz viel sogar, nämlich ein interessantes oder gar spannendes Thema, lebendige und vielschichtige Protagonisten, eine besondere Sprache. So sind es vielleicht eher die Autoren, die zum ersten Mal einen Roman veröffentlicht haben oder die Autoren, denen ich zum ersten Mal im Buch begegne, die mich besonders positiv überrascht haben. Mir sind aus diesem Lesejahr besonders zwei Autoren in Erinnerung, die mich so positiv überrascht haben: Zsofia Ban mit ihrem Roman „Als nur die Tiere lebten“,  weil der Leser in diesem Buch Geschichten liest, als würde er ein Fotoalbum durchblättern, das Fotoalbum einer ganz unbekannten Familie, deren Geschichten sich beim Blättern mehr und mehr zu einer Geschichte zusammenfügen. Und Martin Kordic mit seinem Debütroman „Wie ich mir das Glück vorstelle“, weil er den jugoslawischen Bürgerkrieg mit seinen umglaublichen Verwerfungen aus der naiven Sicht eines Jungen erzählt. 2. Welches war das Buch in diesem Jahr, von dem ich mir viel versprochen habe, das mich dann aber negativ überrascht hat? (und Begründung) Bei dieser Frage fallen mir auch gleich zwei Titel ein: Lukas Bärfuss´ „Koala“, die Geschichte um den Suizid des Erzähler-Bruders, der so unverständlich ist, dass der Erzähler versucht, den Suizid durch das Totem-Tier des Bruders, dem Koala, näher zu kommen. Dabei erzählt er über die Hälfte des Buches die Besiedlungsgeschichte Australiens. Das lässt mich zumindest ratlos zurück. Und letztlich habe ich mich mit Joshua Cohens „Vier neue Nachrichten“ sehr schwer getan. Erhofft habe ich mir Geschichten, die die Folgen unseres Umgangs mit den vielfältigen Möglichkeiten des Internets umkreisen. Das stimmt zum Teil ja auch, aber es sind immer die ganz kaputten Typen, die er schildert, die, die ihr Leben mit Drogen, Pornos und anderen unliebsamen Verhaltensweisen verbringen. 3. Welches war eure persönliche Autoren-Neuentdeckung in diesem Jahr und warum? Katja Petrowskajas „Vielleicht Esther“ hat mich tief beeindruckt. Sie erzählt die Geschichte einer Recherche- und Erinnerungsarbeit auf den Spuren der verstreuten Familienmitglieder, die die Erzählerin quer durch Osteuropa und durch das letzte Jahrhundert führt und dabei auch die Gräuel von Babi Jar, einer Schlucht in Kiew, und den Nazi-Lagern in einer unglaublichen beeindruckenden Sprache erzählt. 4. Welches war euer Lieblings-Cover in diesem Jahr und warum? Das ist ganz eindeutig Matthias Zschokkes „Die strengen Frauen von Rosa Silva“. Normalerweise wandert ja kein Buch ohne umfängliche Recherche, ob Inhalt und Sprache mich auch wirklich überzeugen können, in mein Regal. Dazu recherchiere ich ausgiebig auf zahlreichen Blogs, informiere mich noch bei allen auf Perlentaucher gelisteten Rezensionen, schaue dann noch bei den Zeitungen vorbei, die dort nicht gelesen werden, und lese abschließend noch die Verlagsinformationen zum Buch. Bei diesem Buch war es ganz anders: Ich habe das Cover gesehen, kannte weder den Autor noch konnte ich mir einen Reim auf „die strengen Frauen von Rosa Silva“ machen, aber der farblich etwas verfremdete Blick auf die venezianische Häuserfront hinter dem Wasser reichten völlig zum schnellen Kaufreflex aus (ich hoffe, Facebook liest hier nicht mir, sonst bekomme ich ab Januar noch besser auf mich abgestimmte Werbung….). Und ihr könnt euch mein Entsetzen nicht vorstellen, als ich es voller Vorfreude aufklappte – und es war eine Email-Geschichte! Und ich hasse doch Briefe-Romane! Aber es stellte sich dann doch heraus: Der Inhalt ist mindestens so gut wie das Cover. 5. Welches Buch wollt ihr unbedingt in 2015 lesen und warum? Karen Köhlers Erzählungen „Wir haben Raketen geangelt“ liegen auf dem Stapel, da möchte ich ja nun schon wissen, ob die euphorischen Kommentare auf fast jedem Blog auch wirklich stimmen. Sogar solche Rezensenten sind voll des Lobes, die über sich selbst schreiben, sie seien eigentlich keine Liebhaber von Erzählungen. Da muss ich mir unbedingt auch ein Bild machen. Und dann liegt hier noch der Roman-Klotz von Nino Haratischwili. „Das achte Leben (Für Brilka)“ habe ich in Anbetracht der gewaltigen Seitenzahl extra für die Weihnachtsmuße aufbewahrt. Und nun will ich endlich etwas erfahren über das letzte Jahrhundert in Georgien, über die acht Leben und die Schokoladenherstellung. Ich bin gespannt.   Und ich habe hier mal Annas Fragen übernommen, die sie ihrerseits in die Blogparade hineingeschummelt hat, ts, ts, ts. 6. Welches Sachbuch war dir in den letzten zwölf Monaten wichtig? Das ist für mich Jaron Laniers „Wem gehört die Zukunft?“. Die Frage, was mit unseren Daten im Internet nicht nur mit Blick auf die Datensicherheit auf der einen bzw. Rundum-Überwachung auf der anderen Seite geschieht, sondern auch mit Blick auf uns selbst als Produzenten dieser Daten, empfinde ich als eine der wichtigsten Fragen im Moment. Bisher bin ich leider über die ersten dreißig Seiten nicht hinausgekommen, vielleicht schaffe ich das ja im kommenden Jahr (vielleicht ein „guter Vorsatz“ für das neue Jahr?) 7. Welches Buch hast Du in diesem Jahr wiedergelesen? Gezwungenermaßen – aber wirklich nicht ungern – Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ und Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“. 8. Welche Bücher wären spurlos an dir vorbei gegangen, wenn nicht andere BloggerInnen dich darauf aufmerksam gemacht hätten? Ganz viele, die ich jetzt gar nicht alle aufzählen möchte. Ich lese ja gerade die Blogs, um immer wieder Neues und Spannendes zu entdecken. Sylvains Tessons Tagebuch aus der Einsamkeit am Baikalsee hätte ich beispielsweise nie entdeckt und auch „Die Bibliothek der ungeschriebenen Bücher“ wäre ohne die Blogs völlig unentdeckt an mit vorbeigegangen. Petra Hartliebs „Wundervolle Buchhandlung“ hätte ich ohne die lobenden Besprechungen auf den Blogs gar nicht erst in die Hand genommen, das Buchcover hat mich gar nicht angesprochen. Und so füllt sich durch die Blog-Leserei auch noch Regalbrett um Regalbrett mit ungelesener Lektüre. Dafür steht für jede Gelegenheit und Lust und Laune das richtige Buch griffbereit. Nun wünsche ich euch allen ganz wunderbare und erholsame Feiertage – am besten mit vielen neuen Büchern und genügend Zeit zum Lesen – und verabschiede mich bis zum Neuen Jahr aus dem elektronischen Lesesaal. Weihnachten_1

#VerschämteLektüren (14): Nebelschwaden wabern über dem grauen Sofa

Birgit hebt ja nun auf ihrem auch sonst sehr lesenswerten Blog höchst spannende, meistens in eine stille und verschämte Ecke verdrängte Lektüren ans öffentliche Licht, Lektüren, meist der Jugend oder dem jungen Erwachsensein entstammend, über die wir uns heute nur noch wundern können, dass wir sie damals mit so viel Leidensfähigkeit lesen konnten. Und weil es viel mehr Spaß macht, sich gemeinsam zu wundern, sei die Reihe der #verschämten Lektüren nur jedem zu empfehlen :-).

Joshua Cohen: Vier neue Nachrichten

Cohen_2Es stimmt schon, „das Internet“ verändert – zum Teil – unsere Lebensgewohnheiten, greift in unseren Tagesablauf ein, beeinflusst unsere Arbeit und unseren Konsum, wertet unsere persönlichsten und privatesten Daten aus und schafft neue Kommunikationsmöglichkeiten. So haben Hobby-Leser nun ganz andere Möglichkeiten, mit anderen Hobby-Lesern in Kontakt zu treten, wenn sie auf ihren Hobby-Blogs ihre Hobby-Rezensionen veröffentlichen und diese gegenseitig kommentieren. Sie tauschen untereinander Bücher, manchmal verabreden sie sogar ganz anachronistische Treffen. Aber die Technik, die es erleichtert, geografisch weit verstreute Gleichgesinnte auf einem virtuellen (Markt-)Platz zu treffen, um sich auszutauschen, gemeinsam etwas zu organisieren, mithin gesellschaftliche Öffentlichkeit herzustellen, kann natürlich auch anders genutzt werden: als Pranger, an dem jemand öffentlich zur Schau gestellt wird, als Medium zur Verbreitung von Vorurteilen, Verleumdungen und Hass, und Daten können genutzt werden, um Gewohnheiten, Einstellungen, Meinungen einzelner Akteure auszuspähen.

Wie die Technik das Leben verändert, spielt in der Literatur bisher nur in Ansätzen eine Rolle. Nelia Fehn navigiert mit Hilfe ihres Smartphones durch Athen und durch Frankfurt, in Kuhns Roman „Hikikomori“ nutzt der Protagonist den Computer, um den nötigsten Kontakt zur Außenwelt zu halten, Matthias Zschokke schreibt Mails, um seine Freunde und Bekannte an seinem Leben in Venedig teilhaben zu lassen, in einer Erzählung Roman Ehrlichs findet eine Figur ein folgenschweres Dienstleistungsangebot im Internet.

Joshua Cohen geht in seinen Erzählungen noch einen Schritt weiter. Er zeigt nicht nur auf, wie Menschen die Digitalisierung in ihre Welt integriert haben, sondern erzählt vor allem davon, wie die digitalen Dienste das Leben seiner Figuren verändern. Sein Fokus liegt dabei nicht auf den positiven Veränderungen, die sich durchaus auch ergeben können, sondern gerade im genauen Blick auf die Schwierigkeiten und Probleme, die sich aus der Allgegenwärtigkeit des Netzes ergeben können.

Da ist der Kleindealer, der auf einer Studenten-Party unachtsamer Weise – vielleicht ist er ja auch selbst sein bester Kunde? – seinen kompletten Namen nennt – ein Fehler, der ihn schon in der guten, alten analogen Zeit als dümmsten Dealer in die Klatschspalte der lokalen Zeitung gebracht hätte – und der sich in der Folge mit übelsten Verleumdungen auf dem Blog der Gastgeberin konfrontiert sieht. Deren schlüpfrige Erzählung davon, dass er sich damit gerühmt habe, auf einer anderen Party des nachts über einer Schlafenden onaniert und seinem „Gubsch“ in ihrer Hand zurückgelassen habe, ist so recht nach dem Geschmack der Voyeure und Denunzianten auf dem öffentlichen Marktplatz, die nun ihrerseits die Nachricht teilen und teilen und zusammen mit seinem Namen soweit verbreiten, dass unser Kleinkrimineller ernsthaft um seine Zukunft fürchten muss. Je mehr er sich nun wehrt – und er macht es reichlich ungeschickt -, umso übler gerät er in den Internetsumpf.

Da ist der Schriftsteller, der von der Schreiberei nicht leben kann und sich deshalb bei einem Pharmakonzern als Lektor verdingt hat. Pünktlich morgens um 9 Uhr kommt eine Mail mit seiner Arbeit, die darin besteht, die in Fernost, dort sind die Übersetzer zu viel günstigeren Konditionen zu haben, vorgenommenen Übersetzungen von Beipackzetteln auf die gröbsten Fehler und Unverständlichkeiten zu korrigieren. Seine Arbeit ist prekär, jederzeit kann er gekündigt werden, trotz einer universitären Bildung hat er keine adäquate Arbeit, keinen adäquaten Lohn. McJob werden diese Arbeitsverhältnisse auch genannt, und es ist nicht verwunderlich, dass der Namensgeber sich wehrt gegen diese Bezeichnung, die es bis in die Wörterbücher geschafft hat. Der lektorierenden Schriftsteller in Cohens Erzählung bringt es jedenfalls nicht über sich, in seiner Erzählung des Namen des Fastfoodrestaurants zu schreiben, und nun fährt seine Hauptfigur schon seit Monaten mit der Leiche seiner Freundin auf der Rückbank durch die Gegend, immer hungriger werdend, doch sein Erzähler kann einfach nicht weiter schreiben.

Als „radikal und ungewöhnlich“ werden Cohens Geschichten auf dem Klappentext bezeichnet und schüren so eine hohe Erwartung an Unterhaltung – und an Erkenntnis. Ungewöhnlich sind die Erzählungen in der Tat und das nicht nur, weil sie die Wirkmacht des Internets thematisieren. Ungewöhnlich sind sie auch, weil der Autor sprachlich und erzähltechnisch ungewöhnliche Wege geht. Seine vier Geschichten kreisen thematisch zwar alle um das Schreiben und das Internet, sie sind aber sehr unterschiedlich gestaltet: mit Rahmenhandlung die erste vom unglücklich agierenden Kleindealer; durch innere Dialoge, die sich der Möchtegernschriftsteller über seine Schreibprobleme erst mit seinem Vater, dann mit der Mutter vorstellt. In der dritten Geschichte verknüpfen sich verschiedene Zeitebenen miteinander. Hier reist ein Vater aus der Provinz mit seiner Frau und Tochter nach New Yorks, wo die Tochter studieren möchte. Der Vater erinnert sich nun an seine eigene Studienzeit und den genialen Dozenten für kreatives Schreiben, der seine Schüler eben nicht im Schreiben unterrichtet hat, vielleicht, weil er ihnen die Schmach des Scheiterns ersparen wollte, sondern ihnen ganz handfeste Berufe für eine Zukunft vermittelte. Und die vierte, gleichzeitig auch längste Geschichte, verknüpft gleich mehrere Genres: der erste Teil liest sich wie ein Märchen, in dem die Geschichte eines Bettes über die Generationen hinweg erzählt wird, um dann in der Gegenwart und auch im sprachlichen Sumpf von billigen Pornofilmchen für das Internet zu landen – das alte und altersschwach knarzende Bett überlebt diesen verfilmten Akt jedenfalls nicht..

Sind die Geschichten aber wirklich auch inhaltlich ungewöhnlich und radikal, zeigen sie tatsächlich, wie das Internet das Leben verändert, die Liebe, den Sex, die Kriminalität, das Schreiben? Geht es wirklich in unserem Leben immer nur um Drogen, Sex und Pornografie?

Unsere Generation muss nichts unter dem Bett verstecken, Verbotenes nicht in Schränke wegsperren, hinter Schuhe, hinter Socken, die nach Samen riechen, Socken, die nach Schuhen riechen. Stattdessen verfügen wir über eine sehr praktische Pornografie, ohne verstohlene Abstecher zum Zeitungskiosk oder Abos, die erneuert werden müssen – es gibt keine geheimnisse, alles ist erlaubt. Der Computer steht stolz im hellen Tageslicht auf dem Schreibtisch. Hilft einem mit Tabellen und Anleitungen. Wir drücken auf eine Taste et voilá , nackte Damen. (…)Du gewöhnst dich an die Vorstellung, dass alle Frauen ihn sich in den Allerwertesten schieben lassen, Gubsch auf dem Gesicht und im Mund mögen und schlucken und alles freiwillig machen, ohne die geringste Beschwerde (…). (S. 209)

Wir wollen mal für unseren Erzähler hoffen, dass im Büro die IT-Abteilung nicht mitliest und er zu Hause auch das ein oder andere Häkchen in den Browsereinstellung richtig gesetzt hat, und so digital versteckt, was versteckt werden muss. Sonst hat er einen analogen Ärger am Hals, wie einst sein Vater mit der Wichs-Vorlage hinter den Schuhen.

Bieten die Geschichten also Unterhaltung, Erheiterung, vielleicht sogar Erkenntnis? Das kann für zwei Geschichten getrost verneint werden, wenn der Leser nicht gerade Spaß hat an konstruierten, sprachlich sehr unterschiedlich gestalteten Geschichten, die sich offensichtlich vor allem im Ausloten von Denunziation, gesellschaftlichen Abgründen, Pornografie und ihrer sprachlichen Umsetzung gefallen. Die beiden anderen Erzählungen sind die sicherlich lesenswerteren, die sich auf sehr unterschiedliche Weise mit Aspekten der Arbeitswelt beschäftigen. Ob diese Probleme nur etwas mit dem Internet zu tun haben, ist fraglich, hier scheinen auch die gängigen modernen Wirtschaftsmechanismen eine Rolle zu spielen.

Das Internet, die Vielfalt an Daten, die hier entstehen, gesammelt und ausgewertet werden können, hat sicher Auswirkungen auf unser Leben. Joshua Cohen beleuchtet sie in seinen „Vier Nachrichten“ höchstens im Ansatz. Lesen muss man sie nicht unbedingt.

Joshua Cohen (2014): Vier Nachrichten, Frankfurt am Main, Schöffling & Co.

Und hier könnt ihr Jochens Besprechung der „vier Nachrichten“ nachlesen – um auch noch einen ganz anderen Eindruck zu den Erzählungen zu bekommen.

Roman Ehrlich: Urwaldgäste

Ehrlich_2In den Urwald entführt uns Roman Ehrlich mit seinen zehn Erzählungen, so verspricht es der Titel. Und dabei bleibt unklar, ob wir Leser die Gäste sind im Urwald oder doch die Protagonisten seiner Geschichten. Auch die Covergestaltung trägt das Ihre bei zur Einschätzung, einen Ausflugs in eine Natur zu bestreiten, die gänzlich ohne die ordnende Hand des Menschen auskommt: Äste, Blätter und die verschiedenartigsten Blüten einer unbekannten Pflanze wuchern über die Seite, Vögel sind zu sehen, deren Gefieder sich gar nicht so sehr von denen der Pflanzen unterscheidet, ein hölzerner Sessel mit filzartigen Armschonern steht bereit, den Erzählungen zu lauschen. Ein Urwald also, den wir nicht durchschauen, deren Pflanzen und Tiere wir nicht kennen, eine Umgebung, die angesichts der Farbenpracht phantastisch wirkt, aber auch ängstigend, weil wir nicht wissen, ob sich hinter dem nächsten Blatt eine Gefahr verbirgt, der wir uns völlig ahnungslos nähern. Ein Urwald also, der die Menschen, die sich nicht auskennen, auch täuschen kann, sodass sie nicht mehr wissen, was Realität, was – wahnhafte – Vorstellung ist.

So wissen wir, auf was wir uns einlassen, wenn wir die Erzählungen lesen, und haben doch völlig falsche Erwartungen. Im Urwald spielt keine der Geschichten, da haben uns Autor und Verlag auf eine falsche Fährte geführt, schüren ganz falsche Erwartungen. Aber doppelbödig sind die Geschichten, immer an der Grenze zwischen einer Realität, in der wir uns auszukennen meinen, und einer Realität, die ein bisschen verschoben erscheint, so wie ein Foto, das durch eine leichte Bearbeitung ganz leicht verzerrt wirkt.

Ehrlichs Geschichten spielen mitten in unserem Alltag, viele in einer Berufswelt, die wir so auch kennen. Nette Kollegen gibt es überall, sie unterhalten sich auf dem Flur über dies oder das, schicken bei Krankheit Grüße ans Krankenbett, es gibt keine Konflikte, schon gar kein Mobbing, freundlich-anonyme Arbeitgeber sorgen mit Kaffeemaschinen für das Wohl aller. Viele Figuren werden im ganz normalen Alltag gezeigt, sie bringen ein Tier vom Tierarzt nach Hause, wollen unbedingt im Wochenendhaus wohnen, auch wenn die Mücken das Leben dort schwer machen, warten auf die Eltern, gehen in einen Boxverein, obwohl ihnen am Boxen nichts liegt, nur am Fitnesstraining. Und trotz dieser Normalität geraten sie immer wieder in merkwürdige Situationen, führt eine Beobachtung oder ein nicht ganz richtig gewähltes Wort zu verwirrenden Schlüssen und Entwicklungen, finden viele Personen in ihrer Umgebung Merkwürdigkeiten und wirken im Laufe der Geschichten zunehmend desorientiert, ausgeliefert, rat- und schutzlos. So wie der Nachrichtensprecher, der eines Abends in die Verabschiedung und den Abspann hinein nicht mehr aufhören kann zu reden, und laut darüber nachdenkt, warum die Bergbauarbeiter „Kumpel“ heißen und wie trostlos die Hotelzimmer sind, in denen er seine Abende verbringt. Und während er redet und redet, schaltet der Kameramann seine Kamera ab, wird um ihn herum die Kulisse entfernt.

Gleich in der ersten Geschichte verschlägt es den Ich-Erzähler in eine höchst merkwürdige Arbeitssituation bei der Firma Grinello Clean Solution. Zwar läuft das Vorstellungsgespräch noch gut ab, statt viele Fragen beantworten zu müssen, wird er gleich in wesentliche Dinge seiner Arbeit eingewiesen: „Sie werden hier die meiste Zeit alleine sein.“ Dass scheint dem Erzähler, der kaum Kontakte zu anderen zu haben scheint und auch nicht gerne spricht, erst einmal sehr angenehm zu sein. Es gibt die Kaffeemaschine im Büro, einen Laserdrucker, dessen Ausdrucke umgehend im Papierkorb landen, und einen USB-Weihnachtsbaum, für den Fall, dass es ihm doch zu einsam und zu farblos im Büro sein sollte. Tatsächlich ist der Erzähler die meiste Zeit des Tages alleine im Büro, manchmal kommt ein Vorgesetzter für ein paar Stunden vorbei, manchmal erledigen Vertriebler hier ihre Büroarbeit. Das erscheint alles merkwürdig, geheimnisvoll, fast unheimlich.

Schließlich bekommt er eine Aufgabe: Er solle doch bitte anhand der aus der Zweigstelle Düsseldorf übersandten alten Kontaktdatenbank telefonisch überprüfen, ob die dort gelisteten Kunden Interesse hätten am neuen, „unbestreitbar revolutionären“ Produkt der Grinello, nämlich dem Aquionic Transformer. Er bekommt ein paar Informationsmaterialien, um sich einen ersten Eindruck über das Produkt zu verschaffen, weitere Details würde ihm schon jemand aus dem Vertrieb erklären. Und so beginnt er, ausgerechnet er, der doch gar nicht so gerne spricht, die Telefonnummern der Liste zu wählen. Meist meldet sich niemand, manchmal erklärt die Ehefrau, ihr Mann sei schon seit Jahren verstorben. Und bevor er sich eine ganz andere Gesprächsstrategie zu Recht legt, um die Menschen, die er dann doch am Telefon antrifft, nicht komplett zu verschrecken, wird ihm bewusst

dass ich in den Räumen der Grinello Clean Solutions nichts als meine Zeit gegen einen entsprechenden Geldwert anbot und ich infolge dieser Erkenntnis schließlich den Wunsch, es richtig zu machen und mich aktiv am Absatz des Aquionic Transformers zu beteiligen so gut es ging, langsam aufgeben konnte. (S. 22)

In wie vielen Büros werden die Computerarbeiter ihre Arbeit wohl genauso sinnlos finden, wie der Erzähler es hier berichtet, wenn Ausdrucke aus dem Laserdrucker direkt in den Papierkorb wandern? Wie viele Menschen sind wohl in Büros damit beschäftigt, Produkte an Kunden zu bringen, die sie selbst nicht kennen und die Kunden nicht brauchen werden, den USB-Weihnachtsbaum als einzige Aufhellung auf dem Schreibtisch?

Arne Heym, der Protagonist einer anderen Geschichte, leidet an der Belanglosigkeit und Langeweile seines Lebens. Als Diplom-Biologe musste er aber nach seinem Studium noch eine Weiterbildung im Bereich PR, Marketing, Commerce und Customer Care machen, um attraktiv für den Arbeitsmarkt zu werden. Nun ist er verantwortlich für die Produktentwicklung und Produktionsbegleitung täuschend echt aussehender künstlicher Pflanzen. Hat er eine neue Idee für eine Pflanze, so gibt ihm die Geschäftsführung meist freie Hand, auch wenn sich, beispielsweise bei dem Zimbelkraut, für das Arne sich so erwärmt, kaum eine erlöswirksame Verwendung ergeben wird, wer besitzt schon eine Ruinenmauer, die er künstlich mit mediterranen Pflanzen begrünen möchte? Beim Surfen im Internet stößt Arne auf die Werbung der Agentur Lateralis, die mit dem Werbebanner „Lassen Sie sich täuschen“ auf sich aufmerksam macht. Und so nimmt Arne Kontakt zu dieser Agentur auf, vereinbart einen Beratungstermin und spricht schon am nächsten Tag bei dem seriös wirkenden Hernn Leonhard in seinem ebenso seriösen und großzügigen Büro vor. Der stellt die Leistungen seines ganz den Bedürfnissen der Kunden verpflichteten Unternehmens vor:

Im wesentlichen müsse er sich nur entscheiden zwischen einem romantischen Abenteuer, einer Invasion des Fremden oder einer Heldengeschichte, das seien die Basiserzählungen, nicht nur hier, wie Heym ja sicher schon aufgefallen sei beim Fernsehen und im Kino. (…) Für zurückhaltende Menschen sagte, Herr Leonhard mit verständnisvollem Blick, empfehle sich immer die passive Rolle, die Formate Auf der Flucht oder Im Fadenkreuz würden gerne von Leuten gebucht, die bislang noch keine Erfahrung mit dem Angebot der Agentur Lateralis habe.“ (S. 101-102)

Und schon gerät Arne Heym in den Sog von Ereignissen, von denen er bald keine Ahnung mehr hat, ob sie ihm auch ohne die Agentur Lateralis passiert wären und nur, weil die Agentur ihre Finger im Spiel hat. Mehrfach wählt er die Notnummer und bittet um Abbruch seines Programmes, aber, so entgegnet man ihm dort sehr freundlich und geduldig immer wieder, die Handlungen in diesen komplexen Umwelten seien nur schwer aufzuhalten.

Skurrile, merk- und denkwürdige Geschichten erzählt Roman Ehrlich von Protagonisten, die ein wenig fremd zu sein scheinen in ihrem Leben und in unserer durchrationalisierten, durchgestylten, durch und durch nach ökonomischen Erwägungen funktionierenden Welt. Für diese Figuren wird ihre Umwelt zum Urwald, undurchsichtig, undurchschaubar, beängstigend. Und wir schauen ihnen dabei zu, wohl wissend, dass Ehrlich uns mit klarer Sprache und deutlichen Bildern unsere Welt und ihre Widersprüchlichkeiten und Zumutungen schildert. Und auch wenn die Realität manchmal ein klein wenig verschoben, ein klein wenig unglaubwürdig ist, Ehrlich schildert dies alles so überzeugend, dass wir ihm ohne weiteres folgen. Und plötzlich einen Blick entwickeln für den Urwald um uns herum, der so wunderbar wächst und gedeiht; einen Blick für die merkwürdigen, abwegigen und unsinnigen Dinge, mit denen auch wir uns herumschlagen müssen, ein Gefühl dafür, an welchen Stellen wir aus unserer gut einstudierten Rolle fallen können oder könnten, um uns unversehens in Situationen wiederzufinden, wie Ehrlich sie uns hier erzählt.

Roman Ehrlich (2014): Urwaldgäste, Köln, DuMont Verlag

Hier könnt ihr Angelika Overaths Besprechung der Urwaldgäste lesen und hier ein Interview mit dem Autor.

Petra Hartlieb: Meine wundervolle Buchhandlung

Hartlieb_2Dass mit einer Buchhandlung auch scheitern kann, wer eine junge, moderne Idee umsetzt, haben wir in dieser Woche aus dem Börsenblatt des Buchhandels erfahren können. Die Berliner Buchhandlung ocelot, den Bildern nach gestaltet wie ein Wohnzimmer, das zum Verweilen, zum Schmökern und Kaffeetrinken einlädt, hat Insolvenz angemeldet. Auch das akribisch entwickelte Gesamtkonzept mit Bausteinen wie Ladengestaltung, einer Öffentlichkeitsarbeit weit über die Berliner Grenzen hinaus, verschiedenen Veranstaltungen und selbstständigem Internetauftritt hat die bodenständigen betriebswirtschaftlichen Kennzahlen nicht aushebeln können: Die Kosten sind letztendlich höher als die Erlöse, das Kapital wird langsam aber sicher verbrannt, die Liquidität schwindet. Ob damit gleich dem kompletten Geschäftsmodell des stationären Buchandels das Totenglöckchen geläutet werden muss, scheint äußerst fragwürdig, denn es sollte doch zunächst am konkreten Beispiel eine genaue Analyse der finanziellen Schieflage und ihrer Gründe erfolgen, bevor hier munter von einem auf die anderen geschlossen wird, gerade so, als ob alle Buchhändler mit völlig gleichen Rahmenbedingungen zu tun haben und absolut gleiche Entscheidungen treffen.

Petra Hartlieb jedenfalls beschreibt in ihrem Buch einen völlig anderen Weg, eine Buchhandlung zu führen. Sie ist mit ihrem Mann eher zufällig an eine Buchhandlung in Wien gekommen, die Idee entstand beim gemütlichen Abendessen zusammen mit einem Verlagsvertreter, der von der Buchhandlung erzählte, einer Buchhandlung, die in den siebziger und achtziger Jahren sehr erfolgreich gewesen sei, sodass man ihr durchaus das Etikett „Traditionsbuchhandlung“ anhängen könne, für die wohl ein Käufer gesucht werde. Mit 40 qm hat der Laden auch vor zehn Jahren schon nicht mehr die übliche Größe eines Verkaufsraums, mit den Regalen bis zur Decke und ihren Leitern wirkt er auch eher alt, vielleicht gar verstaubt? Die beiden schauen sich den Laden an, von außen, von innen, sie überlegen, was sie wohl hereinstecken müssten, überlegen, wie sie das Geld auftreiben können, schätzen, wie hoch der Umsatz sein könnte – und geben ein Gebot ab. Dann hören sie nichts mehr, keine Rückmeldung darüber, ob ihr Gebot eingegangen ist, wie der Stand des Bieterverfahrens ist, nichts. Bis ein paar Wochen später, sozusagen aus heiterem Himmel, die Mail eintrifft:

„Sie haben den Zuschlag für das Objekt (…) erhalten und somit die Konkursmasse der Firma XY erstanden.“
So fühlt sich also ein Nervenzusammenbruch an. Ich versuche, meinen Mann im Büro zu erreichen. (…) Noch niemals habe ich ihn aus einer Besprechung rausgeholt, selbst damals, als das Kind auf die Welt gekommen ist, habe ich in Ruhe abgewartet, bis er zurückrief. Ich werde durchgestellt. „Du musst sofort kommen. Wir haben eine Buchhandlung gekauft. Scheiße, wir haben eine Buchhandlung gekauft.“ (S. 16-17)

Noch dazu ist die Buchhandlung in Wien, die Familie lebt in Hamburg, arbeitet dort, zwei Kinder gehen noch zur Schule. Innerhalb von ein paar Wochen ist also ein Umzug zu organisieren, zunächst in das Gästezimmer von Freunden, denn die Wohnung über dem Laden muss noch umgebaut werden, die Jobs müssen gekündigt, für die Kinder Kindergarten und Schule gefunden werden. Natürlich gibt es auch notwendige Veränderungen im Laden durchzuführen und zum November muss er fertig sein, denn ohne die Einnahmen des Weihnachtsgeschäftes geht gar nichts.

Wenn es stimmt, was Petra Hartlieb schreibt, dann ist dieses Beispiel einer Unternehmensgründung so vollkommen das Gegenteil von den üblicherweise zu empfehlenden Vorgehensweisen, dass das Projekt eigentlich nur scheitern kann. Zum Zeitpunkt des Zuschlags haben die Hartliebs wohl nicht einmal eine zugesicherte Finanzierung, viele andere in ihrer Situation würden wohl nun über Möglichkeiten der Flucht nach Übersee nachdenken. Hartliebs aber packen an, Schritt für Schritt arbeiten sie sich durch die anstehenden Aufgaben: Und siehe da, alles fügt sich, alles passt, alles klappt, nicht zuletzt, weil sie sich sehr situativ entscheiden können, weil sie auf dem unter ihnen nun sehr kipplig gewordenen Boden doch nie die Balance verlieren.

Personal haben sie beispielsweise auch noch keines. Nun denkt jeder an Zeitungsannoncen oder Anzeigen in entsprechenden elektronischen Portalen, an die Sichtung von Bewerbungsmappen, die Auswertung von Anschreiben, Zeugnissen, Lebensläufen und Motivationen, die Einladung zum Vorstellungsgespräch, die vielen Gespräche und die Überlegung, wer könnte denn besonders gut geeignet sein, wer könnte ins Team passen, wer hat Potenzial sich wie zu entwickeln, wem bieten wir einen Vertrag zu welchen Konditionen an usw. Auch das geht bei Hartliebs ganz anders:

Irgendwann im Trubel [der Renovierung] steht eine blonde Frau vor mir, sie war vor ein paar Tagen schon einmal da, während der heißen Renovierungsphase, und hat gefragt, ob wir einen Job für sie hätten. Sie hat an der Tür gestanden und nach dem Chef gefragt, da klärte ich sie auf, strich sie von meiner imaginären Liste. Ich habe sie weggeschickt, ohne mir ihre Telefonnummer aufzuschreiben.

„Entschuldigen Sie, ich war letzte Woche hier und hab nach einem Job gefragt. Ich wohn hier ums Eck und ich lese so gerne und wollte schon immer in einer Buchhandlung arb…“
„Wann kannst Du anfangen?“
„Montag?“
„Okay, Montag um neun.“
Es geht nichts über eine sorgfältige Auswahl von Mitarbeitern.(S. 33)

Zunächst arbeiten Hartliebs weiter nach dem Management-by-Crisis-Konzept und wursteln sich so durch die Weihnachtszeit. Aber die Buchhandlung läuft, mehr und mehr Kunden entdecken ihren Laden, kaufen, bestellen, manche sind auch ärgerlich, weil der vor drei Jahren erschienene historische Spezialband nicht im Regal steht. In einer späteren Weihnachtszeit, so rechnen sie nachher aus, haben in den Dezemberwochen 700 Käufer den Laden besucht, alle Mitarbeiter haben Überstunden gemacht, Hartliebs selbst packen nächtelang die neu bestellten Bücher wieder in die Regale, sie kommen locker auf einen fünfzehnstündigen Arbeitstag. Aber in dieser Zeit verdienen sie ihr Geld:

Oliver hat mir das eindrucksvoll vorgerechnet: In den ersten elf Monaten geht alles drauf für Miete, Einkauf, Personal, Versicherungen, EDV, Sozialversicherung, und das, was wir im Dezember erwirtschaften, ist das, was wir letztendlich verdienen. (S. 169)

Und die Kunden sorgen sich ja auch um ihre Buchhändler: In der Weihnachtszeit bringen sie Plätzchen mit und Obst vom Markt, manche Kunden bekochen die ganze Belegschaft, einmal lädt ein Kunde sie zum Essen ein, damit sie anschließend mit frischer Kraft ans Büchereinräumen und –einpacken gehen können. Zum Glück ist ja nicht das ganze Jahr Weihnachtszeit.
So kann Petra Hartlieb auch von anderen Aspekten ihrer Buchhandelstätigkeit erzählen, von den Büchertischen, die sie abends bei Lesungen aufbaut, von den Einladungen zu Abendessen mit Autoren, von ihren Aufenthalten bei der Frankfurter Buchmesse, bei der mit einem Bekannten ganz spontan die Idee entsteht, doch gemeinsam einen Krimi zu schreiben. Sie fängt an, sich öffentlich einzumischen. Ein Artikel gegen Amazon erscheint und in ihrer Umgebung beginnt sie, für den Buchhandel zu werben. Wenn sie merken, dass die Kunden wegbleiben, entwickeln Hartliebs eine Kundenzeitschrift, die sie im ganzen Viertel verteilen. Wenn sie sehen und hören, dass immer mehr Bücher im Internet gekauft werden, bauen sie ihren eigenen Internetpräsenz aus, passen einen Webshop in ihre Layout-Konzept, geben viele Empfehlungen.

Und irgendwann gibt es da ja auch diesen sehr netten Laden im 9. Bezirk, für den ein neuer Buchhändler gesucht wird. Natürlich wollen Hartliebs keinen zweiten Buchladen, sie schauen nur so vorbei, aus reinem Interesse und weil er so schön ist. Man kann sich denken, wie es ausgeht… Doch dieses Mal machen sie es anders, sie erarbeiten ein Geschäftskonzept, planen ganz genau, was und wie dort von wem verkauft werden soll und spezialisieren sich auf französische und italienische Bücher, von denen sie – ein bisschen etwas Neues, Unüberblickbares muss ja trotzdem mal ausprobiert werden – überhaupt nicht wissen, wie man sie bestellen kann.

Es scheint wohl geklappt zu haben mit den kleinen, feinen Buchhandlungen in Wien. Vielleicht lässt sich aus dieser Erfolgsgeschichte ja auch ein überzeugender Existenzgründerratgeber schreiben, in dem weniger rationale Planung und aufwendige Entwicklung einer pfiffigen Geschäftsidee im Vordergrund stehen, sondern mehr solche Eigenschaften wie Mut zum Wagnis, Entschlossenheit, Leidenschaft, Intuition, Kreativität – und ganz viel Begeisterung für die Idee des Buches und der vielen Geschichten, die in ihnen erzählt werden.

Aber im Prinzip hat das Buch auch gar nichts mit schwerwiegenden wirtschaftlichen Themen zu tun und gehört im Buchlanden sicherlich nicht in die Ecke mit den Wirtschaftsbüchern. Vielmehr ist es ein Abenteuerbuch, in dem erzählt wird, wie eine Familie es in mehrfach fast neuem Terrain schafft, Fuß zu fassen und Wurzeln zu schlagen, ein Familienbuch, das beschreibt, welche Freude und welches Leid Kinder haben können, die – fast – in einer Buchhandlung leben, es ist auch ein Ehebuch, in dem beschrieben wird, wie es ist, in guten und in schlechten Tagen nicht nur zusammen zu wohnen, sondern auch zu arbeiten – und dabei auch noch in der Arbeit zu leben -, ein Buch über Freundschaften, das zeigt, welche hilfreichen Hände und Ideen immer mit Rat und Tat zur Stelle sind, mithin ein Buch über das ganz normale Chaos des Lebens mit seinem Auf und Ab und warum und wie das gemeistert werden kann. Allein dem Familienhund wird aus meiner Sicht viel zu wenig Platz eingeräumt :-).

Petra Hartlieb (2014): Meine wundervolle Buchhandlung, Köln DuMont-Verlag

Ein Interview mit Petra Hartlieb auf der Frankfurter Buchmesse findet ihr hier.

Marlene Streeruwitz als Nelia Fehn: Die Reise der jungen Anarchistin in Griechenland

Streeruwitz_3Das ist er also, der Roman im Roman. In Marlene Streeruwitz´ „Nachkommen.“ hat Nelia Fehn davon erzählt, wie es einer jungen Autorin ergeht, die mit ihrem Erstling, eben dem Buch über „Die Reise der jungen Anarchistin in Griechenland“ völlig überraschend auf die Shortlist des Deutschen Buchpreis gelangt. Mit großen Augen erlebt sie die Feierstunde des Deutschen Buchpreises – sie geht leer aus -, ebenso staunend läuft sie durch Frankfurt, erlebt die Buchmesse und die wichtig-grotesken Abendessen mit Verlegern und Geldgebern, die merkwürdige Welt der Interviews, die gähnende Langeweile an abgelegenen Ständen, die High Society der Literaturkritiker und andere Absurditäten.

Nun können wir uns also auch ein Bild über den nominierten Roman machen – und natürlich auch Nelias Erfahrungen auf ihrer griechischen Reise nacherleben. Da erzählt eine Neunzehnjährige was ihr passiert auf der Fahrt von Kreta nach Athen, erzählt eine Roadnovel, in die sie durch Evangelos, den übergriffigen Freund des Schwagers, geraten ist, zum Teil aber auch durch ihre unglaubliche Naivität. Diese Naivität, gepaart mit ihren sehr klaren, oder auch altklugen, Lebensweisheiten und Zwängen, sind manchmal schwer erträglich. Schon bei ihren Wanderungen durch Frankfurt, hungernd und frierend, hätte man sie das eine oder andere Mal gerne sanft geschüttelt. Bei ihrer griechischen Reise aber ist die Geduld schneller erschöpft – obwohl diese Geschichte ja vor der Reise nach Frankfurt und vielleicht mehr Langmut gefordert wäre – aber die Fallen, in die sie nun treffsicher tappt, sind vorhersehbarer als die in Frankfurt. Vielleicht ist die ein oder andere Neunzehnjährige so, anstrengend ist es allemal.

Nelia reist von Kreta, dort hat sie ihre Schwester besucht, die ein Ferienresort leitet, nach Athen, wo sie mit Marios verabredet ist, ihrer großen Liebe. Marios ist in Athen politisch aktiv und demonstriert gegen die Regierung, die die Forderungen der Troika zur „Sanierung“ des Staates umsetzt. Die Sanierung führt dazu, dass der Großteil der Bevölkerung, also die Mittelschicht, die sowieso durch die Wirtschaftskrise schon arbeitslos ist, nun auch noch durch überbordende Steuern, z.B. auf das kleine Häuschen, das sie von den Großeltern geerbt haben, ins weitere finanzielle Elend gestürzt wird. Davon erfahren wir immer mal wieder, verabredet haben die beiden sich aber zu einer Demonstration, in der sie für die Rechte von Prostituierten kämpfen wollen, die – zu Unrecht – als ausländische HIV-Infizierte denunziert wurden.

So steht Nelia nun im Hafen auf Kreta, schaut der „davonsegelnden“ Fähre hinterher, auf der Evangelos, der Freund des Schwagers und auch ein Verwandter Marios, nach Athen reist. Er wollte sie mitnehmen nach Athen, hat dann aber die Gunst der Stunde genutzt, sich während der Auffahrt auf die Fähre über den Beifahrersitz geworfen und Nelia geküsst, die sich nur noch durch einen beherzten Sprung aus dem immerhin „rollenden“ Auto in Sicherheit bringen konnte. Nun kann sie Marios nicht mehr informieren, dass sie heute nicht mehr kommen wird, denn der ist für sie per Handy nicht erreichbar, nutzt er doch ständig neue Telefonnummer und Prepaid-Karten, um Polizei und Geheimdienst nicht in die Fänge zu gehen. Sie ruft aber auch nicht die Schwester an, um zu erzählen, was passiert ist, sondern wandert – wir kennen es schon aus „Nachkommen.“ – wieder einmal plan- und ziellos in die Stadt, sucht ein Restaurant, geht an allen vorbei, sucht eine billige Pension, denn viel Geld hat sie auch nicht mehr, und landet im 5-Sterne Hotel, in dem sie sich vor allem wegen der Sauberkeit so wohl und beruhigt fühlt. Aber schon geht der Parforceritt durch die Abgründe der Gesellschaft weiter, denn vor ihrem Zimmer auf dem Balkon stehen zwei masturbierende Männer, die sich auf deutsch mit „Du geile Sau“ anfeuern, sonst aber türkisch miteinander sprechen.

Am nächsten Morgen, wieder am Hafen, lässt Nelia sich von einem Mann überreden, die Überfahrt nach Athen doch statt für 38 Euro auf der Fähre für 25 Euro auf einem Segelboot zu verbringen, zwei Skipper hätten gerne Gesellschaft – und verdienen sich so etwas dazu, wenn sie bei der Überführung der Privatjacht des Auftraggebers Personen mitnehmen. So landet Nelia, auch wenn sie argwöhnt, dass Drogen im Spiel sein könnten, als einzige Passagierin auf der funkelnagelneuen Segeljacht. Anfangs findet sie die Segelei ja sehr angenehm, als die Skipper aber in abgelegenen Buchten Waren mit anderen Männern in Motorbooten tauschen, wird ihr Argwohn immer größer. Später laufen sie den Hafeneiner Insel an, denn ein Sturm zieht auf. Nelia nutzt die Gelegenheit zur Flucht und gerät prompt auf dem dem Wind völlig ausgesetzten Küstenweg in diesen heftigen Sturm. Gerettet wird sie dann doch – von deutschen Urlaubern, einem Regisseur aus Berlin und seinen Freunden.

Bis Athen fährt sie nun wieder auf Fähren – woher nun das Geld kommt, wird nicht erzählt. Und als sie dann abends in Athen ankommt, zur U-Bahn geht, mit ihr in die Stadt fährt, sieht sie dort Demonstranten. Die müssen doch Marios kennen und wissen wo er ist, denkt sie sich, und hält ihnen gleich mal das Handy unter die Nase. Und so gerät sie, sie weiß nicht wie, ganz zufällig in die vorderste Reihe, ganz zufällig in ein Handgemenge mit der Polizei, sie verliert das Handy, ihre Auskunftei mit allen Telefonnummern und Adressen, und wird dann auch gleich festgenommen. Und so können wir Leser auch noch erfahren, wie es zugeht auf Athener Polizeistationen, bzw. in deren Kellern, in denen die Demonstranten verwaltet und verängstigt werden. Und auch hier stehen Nelias Gedanken nicht still:

Ich hatte im Lieferwagen schon mein iPhone vermisst. Das war weg. Das war verschwunden. Wahrscheinlich war es mir beim ersten Schlag auf die Schulter aus der Hand gefallen. Ich schämte mich, dass ich mich so widerstandslos niederschlagen hatte lassen. Ich setzte mich an die Wand und ärgerte mich (…). Ich hatte mich selbst wehrlos gemacht. Ich fühlte mich restlos dadurch gekränkt. Es war richtig peinlich, was für ein Mädi ich da wieder gewesen war. Es war aber alles so schnell gegangen. (S. 158/159)

Natürlich bietet Nelias Reise auch in diesem Roman viele literarische Anknüpfungspunkte: Die Reise als Metapher für Nelias Suche nach der ganz eigenen Identität, die sie in Abgrenzung zur konservativen Familie ihrer verstorbenen Mutter noch sucht; für ihre Suche nach dem Glück, das für sie darin besteht mit Marios zusammen für mehr Gerechtigkeit in seinem Land zu kämpfen, z.B. bei einer Demonstration gegen die Verunglimpfung und Vorverurteilung von angeblich HIV-positiven ausländischen Prostituierten. Die Reise bietet auch viele Gelegenheiten, unterschiedliche Menschen kennenzulernen, und so die verschiedenen Facetten der Gesellschaft zu beschreiben: die reichen Deutschen, die ihren Urlaub auf den griechischen Inseln verbringen und für die Einheimischen zur fast einzigen Einnahmequelle werden; die Skipper, die keine Gelegenheit verstreichen lassen, sich bei – vielleicht sogar illegalen – Überführungsfahrten von Segeljachten griechischer Bürger etwas dazuzuverdienen; überall Menschen, die ihre Häuser verlieren werden, weil sie die hohen Immobiliensteuern nicht mehr zahlen können; Menschen ohne jede Krankenversicherung, die in ehrenamtlich errichteten Krankenhäusern von Ärzten versorgt werden, die selbst auch arbeitslos geworden sind.

Trotzdem: Richtig überzeugend ist Nelias doppelter Suchprozess nicht. Ihre Stimme ist ermüdend, wenn sie ihre Handlungen und Beobachtungen erzählt, dann wieder Deutungen dessen, was sie sieht und hört, wenn wir also dieses ständige Hin und Her, das ihr durch den Kopf geht, lesend nachvollziehen. Alles scheint gleich bedeutsam zu sein, die Suche nach Essen, die Suche danach, ob Coca-Cola den veganen Bedingungen genügt, steht auf derselben Bedeutungsstufe wie die Entscheidung, auf dem Segelboot mitzufahren oder nicht; die Demonstration zum Schutz der angeblichen HIV-Prostituierten hat dieselbe Bedeutung wie die Demonstrationen des Großteils der Bevölkerung gegen Steuererhöhungen und Rentenkürzungen. Das ist schade, denn es werden viele Chancen vergeben, genauer über die Missstände zu erzählen, die Nelia in Athen und in den Begegnungen mit den Menschen dort hätte erfahren können. Offensichtlich geht es hier doch mehr um die Reise einer jungen Frau als die einer mehr politisch denkenden und beurteilenden Anarchistin. Und das ist, nun können wir die Entscheidung der Buchpreisjury aus dem Roman „Nachkommen.“ gut nachvollziehen: nicht buchpreiswürdig.

Marlene Streeruwitz als Nelia Fehn (2014): Die Reise der jungen Anarchistin in Griechenland, Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag

LLL 2014 – Esther Kinsky: Am Fluss

kinsky-af_g„sie lernte das Licht“Ein Gastbeitrag von Thomas Molitor
Esther Kinskys Roman „Am Fluß“ ist am River Lea im Nordosten Londons angesiedelt. Die namenlose Ich-Erzählerin wählt diesen zunächst bedeutungslosen, fast vergessenen Ort, um sich vom großstädtischen Leben, aber auch von ungenannten Beschädigungen ihrer eigenen Existenz zu verabschieden: „Ich hatte mich nach Jahren aus dem Leben, das ich in der Stadt geführt hatte, herausgeschnitten wie einen Schnipsel aus einem Landschafts- oder Gruppenfoto.“ Mit diesem sezierenden Schritt in einen ihr unbekannten Stadtrandbezirk Londons will sie sich einerseits von Vergangenem lösen, zugleich aber längst verschüttete Erinnerungen aufsuchen, um so eine neue Zukunftsperspektive aufzubauen.
In diesem Außenbezirk Londons, der schon bessere Zeiten gesehen hat, geht die städtische Dichte über in eine Art Grenzgebiet. Auch die dort lebenden Menschen sind von der pulsierenden Urbanität an den Rand gespült worden. Neben frommen Juden leben hier Menschen unterschiedlichster Herkunft. Sie alle sind hier gestrandet, weil sie sich im städtischen Labyrinth und damit in ihrem eigenen Leben nicht mehr zurechtgefunden haben.

So zieht die Erzählerin in eine kleine, eher zufällig gewählte Wohnung. Dort bleiben ihre Umzugskartons unausgepackt und mit ihren Möbeln vermeidet sie es, sich häuslich einzurichten. Hausrat zum Leben ersteht sie bei einem kroatischen Trödler im Viertel, denn sie will zunächst auch ihre Kartons nicht auspacken. Soziale Beziehungen scheinen nicht zu existieren. Sie sucht geradezu Isolation und Einsamkeit. Wie eine kühl kalkulierte Versuchsanordnung zur Ich-Erforschung wirkt diese Ausgangssituation, in der ein vertrautes, aber beschädigtes Leben gegen ein provisorisches getauscht wird.

Schließlich beginnt die Protagonistin damit, ihr zufällig gewähltes, fremdes Umfeld zu erkunden, indem sie täglich ausgedehnte Spaziergänge in ihrem Stadtteil und seiner Umgebung unternimmt. Sie stößt dabei auf den River Lea, der Londons Nordosten vom dahinter liegenden Marschland trennt. Sie entdeckt dabei, dass das Durchwandern dieses unbekannten Grenzgebiets, in dem städtische Strukturen mit ihren geschichtlichen Gebrauchsspuren durch einen Fluss aufgehalten werden, um dann in eine weite natürlich Landschaft auszuufern, in ihr Erinnerungen an Vergangenes, an ihre persönliche Geschichte wach rufen. Schließlich bemerkt sie, dass in ihrem bisherigen Leben Flüsse immer schon eine besondere Rolle gespielt haben.

Der Fluss war für sie immer schon „Bewegung, Unordnung und Unberechenbarkeit in einer Welt, die nach Ordnung strebte“. Er repräsentiert eine Grenze, an deren Bruchstelle etwas erkennbar wird: „das Hier und das Dort.“ Es stoßen unterschiedlich Räume und Welten aneinander, die etwas sichtbar machen, was ansonsten unsichtbar ist.

An der Lea zeigt sich eine vergangene industrielle Kultur in Form von verlassenen und zerfallenden Produktionsanlagen, heruntergekommenen Arbeitersiedlungen, überwuchertem Industriegelände und verwahrlosten Stadtrandbezirken, in die sich das multikulturelle Prekariat der Großstadt zurückgezogen hat und um sein Überleben kämpft, ebenso wie die Natur, die durch vielerlei Pflanzen- und Vogelarten und ungeplante Renaturierung Lebensräume zurückerobert.
Zugleich gibt es aber auch immer die andere Uferseite, die als hoffnungsvolle Perspektive erscheint, „unscharf zu erkennen und ein vages Gelände verschwimmender Formen und zerfließender Farben“, und natürlich den Fluss selbst, der vielerlei Dinge anschwemmt und Vieles auch mitreißt. Der Erzählfluss folgt dabei dem natürlichen Verlauf: „Mich interessierte nur noch, was flußabwärts ging, auf diese lichtere Weite zu, in der man irgendwann ans Meer stoßen würde.“ Das aufmerksame Durchwandern einer solchen Flusslandschaft als Erzählanlass bietet so der Erzählerin die Möglichkeit, das gerade Wahrgenommene mit Erinnerungen aus der Vergangenheit zu verbinden. So fädelt sie bei ihren täglichen Gängen entlang der Lea scheinbar zufällig erinnerte Geschichten auf einen Erzählfaden, der am Ende so etwas wie ein „Ganzes“, einen Lebensrückblick ergibt. Dies sind vor allem Flussgeschichten, die vom Rhein bis zum Ganges reichen.
Und noch mehr entdeckt sie bei ihren neun Monate währenden täglichen Sreifzügen entlang des River Lea zwischen August und April: „sie lernte das Licht“. Das Licht der verschiedenen Jahreszeiten, das wechselnde Tageslicht, das Licht unterschiedlichster Witterungsverhältnisse. Aber auch die Brechung des Lichts an den verschiedensten Gegenständen, den Pflanzen, Mauern, Dämmen, Landschaften und Fundsachen.

Die Farben und Schatten mit all ihren Zwischentönen präzisieren die Wahrnehmung, schärfen den Blick für das Objekt, das buchstäblich in neuem Licht erscheint. Unermüdlich müht sich die Erzählerin, Licht und Farben differenziert und sprachlich genau zu fassen, wissend, dass dies ein unmögliches Unterfangen ist. Es ist kein neuplatonisch transzendent-metaphysisches Licht der Erleuchtung, das sie inspiriert, sondern ein in bestem Sinne frühromantisches Licht der Aufklärung. An solchen Stellen ist die sprachliche Konkretion der Lyrikerin Kinsky oft besonders spürbar und – gepaart mit dem sensiblen Sprachbewusstsein der Übersetzerin – sind einige Passagen geradezu sprachgewaltig.

Neben der wortgewandten Erzählweise greift sie zusätzlich auf eine Reihe von Fotografien als Lichtmedium zurück, die die Protagonistin scheinbar zufällig erstellt: „Ich fotografierte, was ich sah.“ Sie benutzt dazu eine alte Sofortbildkamera für Schwarzweißaufnahmen. Auch hier lassen die entwickelten Bilder durch ihre verfremdete Darstellung weitere Wirklichkeitsebenen durchscheinen: „Unter der abgezogenen Entwicklungsfolie kam auf dem Schwarzweißfoto mit seinen unzähligen Grauabstufungen eine Erinnerung zum Vorschein, von der ich noch gar nicht gewußt hatte, dass ich sie besaß. Es waren Bilder von etwas, das hinter den Dingen lag, auf die das Objektiv gerichtet gewesen war und die der Auslöser einen unmerklichen Augenblick lang beiseite gestreift haben mußte.“ In diesem Sinne ist wohl auch die „alte, sepiabraune “ Widmungsfotografie mit dem Vermerk „dem blinden Kinde“ am Anfang des Romans zu verstehen, die ein elfjähriges Mädchen zeigt, das „trotz der ahnenden Wachheit ihres Blickes“ nicht blind, sondern „unsehend“ erscheint.

Hier liegt auch der Reiz dieses von melancholischer Leere handelnden Romans. Er verführt Unsehende zum Sehen und unversehens schlägt freundlicher werdende Leere in Fülle um. Zusammen mit der Erzählerin begibt man sich auf zahllose Wanderungen entlang des River Lea und wird mehr und mehr in den Fluss als Reflexionsmedium hineingezogen. Dem Flusswasser entspricht bei Kinsky die Sprache. Immer wieder umspült sie das Wahrgenommene und Erinnerte sprachmächtig, paraphrasierend, Wortneubildungen erfindend. Satzstrudel ziehen zuweilen den Leser in den Erzählstrom, wenn z.B. vom Ganges und dessen mystischer Nutzung erzählt wird. Umgekehrt tastet sie Wahrgenommenes wie langsam fließendes Wasser mit vorsichtigen, klaren Worten ab. So wird der bewanderte, mäandernde Fluß zu einer Chiffre für ein sehendes, wahrnehmendes, erinnerndes und reflektierendes Sprechen, das flussabwärts bei Sherness „in der Mündung, zwischen Meer und Fluß“ eine nie stillstehende „Mitte“ findet, in der nichts anfängt und nichts aufhört.

Esther Kinsky (2014): Der Fluß, Berlin, Matthes und Seitz

LLL 2014 – Michael Köhlmeier: Zwei Herren am Strand

Köhlmeier_ZW_2Schon in Köhlmeiers Novelle „Idylle mit ertrinkendem Hund“ hat ein schwarzer Hund eine ganz besondere Rolle. Einmal trifft ihn der Lektor beim Spaziergang und – obwohl er eigentlich sehr von Hundeangst geplagt ist– teilt er mit diesem sein Brot. Ein anderes Mal treffen Lektor und Erzähler genau diesen Hund am See wieder, der Hund droht ins Eis einzubrechen, der Erzähler hält ihn, selbst bald in Gefahr, ins kalte Wasser zu rutschen, solange, bis der Lektor mit der Hilfe eintrifft.

Nun, in seinem neuen Roman von den beiden Herren am Strand, spielt ein schwarzer Hund wieder eine gewichtige Rolle. Er geht nämlich ein und aus bei Charlie Chaplin und bei Winston Churchill, den beiden Protagonisten des Romans. Immer wieder, in unregelmäßigen Abständen, manchmal absehbar, manchmal aus heiterem Himmel, kratzt er an die Tür der beiden, findet Einlass und stürzt die Besuchten durch Heulen und Zähneklappern, manchmal auch nur durch stummes Anstarren, in eine unendlich große Schwermütigkeit. Dann wird Churchill, der begnadete Rhetoriker, innerhalb weniger Stunden zu einem ängstlichen Stammler, kann die Tage überhaupt nur überstehen, wenn er sich mit Malen oder Schreiben ablenkt und weil er weiß, dass er eine Waffe hat, die er zur äußersten Not auch gebrauchen kann. Und Chaplin, den der Hund besonders gerne besucht, wenn er gerade einen Film fertiggestellt hat, überfallen solche Ängste, dass auch er sprachlos wird und schlaflos, das üble Gefühl des „völligen Vernichtetseins“ mehr und mehr die Oberhand gewinnt und er sich nicht anders zu helfen weiß, als dass er die schlechtesten Szenen aus dem fertigen Film herausschneidet, solange, bis aus dem Spielfilm ein Kurzfilm von nur noch einigen Minuten Länge geworden ist.

Chaplin und Churchill treffen sich zufällig 1927 bei einer Party in Hollywood, beide stehen etwas verloren auf der Terrasse herum, kommen ins Gespräch und beschließen, einen Strandspaziergang zu machen. Churchill fragt Chaplin ganz unverblümt, ob er krank sei und ergänzt auf Chaplins ungläubige Nachfrage, dass er aussehe wie jemand, der über den Freitod nachdenke. Chaplin ist erstaunt darüber, was Churchill so alles sehen kann, noch dazu in der Dunkelheit, doch sie kommen hier am Strand von Santa Monica ins Gespräch über Möglichkeiten des Suizides und vor allem darüber, dass dieser Gedanke sie schon begleite, seit sie Kinder seien, Chaplin habe mit sechs Jahren zum ersten Mal daran gedacht, genauso Churchill.

Ist dieses vertrauliche Gespräch in der Dunkelheit noch in einer Atmosphäre der Anonymität verlaufen, beide haben es vermieden, sich vorzustellen, lädt Churchill Chaplin am nächsten Tag zum Essen ein. Dort redet er über den schwarzen Hund, dem sie sich beide zu stellen hätten, gegen den sie doch beide kämpfen müssten. Das Bild des schwarzen Hundes stamme von Samuel Johnson, der auf knappen fünf Seiten die Depression so prägnant beschreiben habe, dass er, Churchill, sich darin ganz wiederfinden könne. An diesem Abend schmieden die beiden ein Abkommen:

Wir wollen einander versprechen, dass, wann immer einer Hilfe benötigt, der andere, wo immer auf der Welt er ist, alles liegen und stehen lässt und kommt. (S. 54)

Immer wenn sie sich treffen, wenn sie gemeinsame Spaziergänge unternehmen oder beim anderen am Bett sitzen oder über die Staffelei hinweg aufs Meer schauen, sprechen sie über ihre Arbeit, entwickeln witzige Szenen und Ideen für Filme, zum Beispiel einen Film über Napoleon, in dem es einen Doppelgänger gebe. Vor allem aber sprechen sie über den schwarzen Hund und wie sie ihn berwinden können. Churchill erzählt, dass er male, wenn er unter Depressionen leide, Malen helfe ihm, denn dazu müsse er genau beobachten, was er male, genau schauen, wie die Landschaft, wie der Himmel ausschaue, damit er die richtigen Farben mischen könne. Auch Chaplin hat eine Methode, dies sei die Methode des Clowns und er habe sie von Buster Keaton und der wieder habe sie von Harold Lloyd: Er lege sich nackt auf ein Papier, das seine Körpergröße habe, und beginne einen Brief an sich selbst zu schreiben, außen anfangend schreibe er immer im Kreis, die Kreise immer enger werdend. Und er erklärt:

Gegen den Gedanken, ich könnte verrückt werden, hilft nur, etwas Verrücktes zu tun. Das ist etwas sehr Ernstes, Winston. Das ist die Methode des Clowns. Es gibt keinen Menschen auf der Welt, der ernster wäre als ein Clown. (S. 59)

Churchill und Chaplin halten ihr Abkommen, in den nächsten dreizehn Jahren zumindest, von denen dieser Roman erzählt. Und indem ihre Treffen erzählt, ihre Lebensumstände in den Zwischenzeiten berichtet, ihre Arbeit geschildert und die historischen Bezüge – der Krieg in Europa, die politische Situation in Hollywood – hergestellt werden, entstehen auch knappe Biografien über die beiden in diesen Jahren, so wie sie waren, so wie sie sein könnten, manchmal belegbar, manchmal fiktiv.

Köhlmeier erzählt diese historische Geschichte mit einem wunderbaren Kniff: Er erfindet sich einen Erzähler, der wiederum auf das gesammelte Material seines Vaters zurückgreifen kann, Briefe, die ihm der „sehr private“ Privatsektreär Churchills zur Verfügung gestellt habe, Biografien, Zeitungsartikel, Korrespondenzen mit anderen Historikern, Aufsätze. Damit führt der Sohn fort, was dem Vater am Herzen gelegen, was ihm über die eigene große Trauer wegen des zu frühen Todes seiner Frau hinweggeholfen habe: eine Biografie über Churchill zu verfassen. Und den Sohn hat immer schon Chaplin interessiert; schon als Junge hat er seinen Vater abends mit Clownereinen erfreut.

Ich interessierte mich für Clowns, mein Vater sagte, Clown sei ein ehrenwerter Beruf. Er besorgte mir Bücher mit Biografien berühmter Komiker und mit Sketches und Anleitungen zu Pantomime, und ich probierte, die Nummern nachzuspielen. Wir hatten schöne Abende. Er erzählte mir, was er gelesen hatte und was er zu schreiben gedenke, ich spielte ihm vor, was mir an Komischem eingefallen war. Er lachte über meinen Clown, wie ich ihn nie hatte lachen sehen. (S. 18)

Mittlerweile lebt der Erzähler davon, als Weißclown aufzutreten, mit einer Puppe, die seinem Vater aufs Haar gleicht, sitzt er am Tisch und unterhält sich – das Publikum lacht so viel, dass das Programm schnell mal zwanzig Minuten länger dauert als geplant.

Churchill und Chaplin, Vater und Sohn, Weißclown und dummer August – Köhlmeier konstruiert geschickt eine Geschichte, in der sich die Protagonstenpaare mehrfach spiegeln: Churchill, der Staatsmann, der Rationalist, derjenige, der mit den Waffen der Diplomatie und des Krieges gegen Hitler kämpft und mit dem Schreiben und Malen gegen seinen schwarzen Hund, und Chaplin, der Tramp, der in den abgerissenen Kleidern und übergroßen Schuhen eine neue Version des dummen August gibt und mit dem Waffen der Komik, mit der Methode des Cowns, Hitler entlarvt und mit seiner Arbeit versucht, den schwarzern Hund in Schach zu halten; der Vater, der versucht, dem Sohn Halt zu geben und seine große Traurigkeit bekämpft, indem er sich einen Traum erfüllt und historisches Material über Churchill sammelt, und der Sohn, der sich um den Vater sorgt und ihn mit Clownereien zum Lachen bringt; der Weißclwon, der in seidige Gewänder gekleidete Chef im Zirkus, der seriös und ernsthaft aufzutreten versucht und sein Partner, der dumme August, der mit Glatze, großer Fliege, lachhafter Kleidung und übergroßen Schuhen die Tölpelhaftigkeit in Person ist, über den die Zuschauer so herzhaft lachen können, dem aber trotzdem alle Sympathie zufliegt.

Ein ganz großartiger Roman ist Köhlmeier da gelungen, großartig erzählt, großartige konstuiert, in dem er, nebenbei fast, auch noch eine Geschichte der Theorie des Komischen entwickelt, eine Methode, die nicht nur hilft, die Traurigkeit zu besiegen, sondern auch hilft, die verrückte Welt zu ertragen. Und auch wenn es, auf den ersten Blick, eine Geschichte des 20. Jahrhunderts ist, so ist die Methode des Clowns doch immer noch ein ganz probates Mittel, um sich mit den eigenen Gespenstern und der Unfassbarkeiten des Weltgeschehens abfinden zu können.

Und sein Erzähler, der Weißclown? Der, dem kein schwarzer Hund begegnet, den er füttern kann oder retten muss, der nicht einmal davon spricht, dass ihn der schwarze Hund der Depression jemals begegnet sei? Der trägt wohl mit sich, was sein Vater ihm einst gesagt hat:

Wenn ein Mensch sehr traurig ist (…), sei es ratsam, dass er sich von sich selbst ablenke. Es gebe einige Beispiele, denen gelinge es, so zu tun, als wären sie ein anderer; sie schauen sich selbst an, schütteln den Kopf über sich selbst oder nicken beifällig, sie nehmen sich ernst, aber nicht allzu ernst; auf diese Weise gelingt es ihnen, ohne Schaden über die Traurigkeit hinwegzukommen. (S. 17)

Michael Köhlmeier (2014): Zwei Herren am Strand, München, Carl Hanser Verlag

Eine weitere Besprechung des Romans, die auch im Zusammenhang mit dem Longlistlesen 2014 entstanden ist, könnt Ihr bei Kai lesen. Ich empfehle sie vor allem, weil er die Methode der Clowns im Selbstversucht erprobt hat und über Nebenwirkungen und Schwierigkeiten dabei berichtet. Außerdem findet Ihr bei seiner besprechung eine kleine Linksammlung zu weiteren Artikeln zum Roman und zu Matthew Johnstones Buch „Mein schwarzer Hund“.

Mara hat sich der „Zwei Herren“ angenommen, genau wie Atalante.

LLL 2014 – Lukas Bärfuss: Koala

Bärfuss_2Der Bruder hat seinen Suizid genau geplant. Erst hat er seinen letzten Willen formuliert, seinen Besitz unter Freunden und Familie verteilt, bestimmt, wie er beerdigt werden möchte. Sechs Wochen später dann hat er sich in eine Badewanne gelegt und eine Überdosis Heroin gespritzt. Die Wohnung hat er vorher aufgeräumt, die Wohnungstür unverschlossen gelassen, damit sie nicht unnötig aufgebrochen werden muss, die geliehenen Gegenstände mit Zetteln versehen, sodass sie schnell zurückgegeben werden können. In die Wanne hat er sich gelegt, weil er keinen Schmutz hinterlassen will. Der Ich-Erzähler reist, als er die Nachricht vom Tod des Bruders erhält, zurück in seine Heimatstadt, die er vor vielen Jahren verlassen hat. Abends sitzt er mit Freunden des Bruders zusammen, alle sind überrascht, denn vor ein paar Tagen noch haben sie zusammen gesessen, so erzählen die Freunde, zusammen gewürfelt. Bestimmt habe er sich da von ihnen verabschiedet „im Geheimen, er für sich alleine, ohne sich zu offenbaren“. Und dann, später am Abend, als sie sich gefasst haben, beharren die Freunde darauf, dass ein Erstaunen über die Tat nicht richtig sei, denn der Bruder sei offensichtlich entschlossen gewesen zum Suizid, habe ihn genau geplant, und dieses Vorgehen entspreche doch seinem Charakter.

Der Tod des Bruders, des Halbbruders, beschäftigt den Ich-Erzähler mehr und mehr und er findet keine Erklärungen. Erst rekonstruiert er, was sie beim letzten Treffen gsprochen haben – bei einem Abendessen im Zusammenhang mit einem Vortrag ausgerechnet über Kleist, den der Ich-Erzähler in der Heimatstadt gehalten hat – und ob er damals Zeichen hätte erkennen können. Er überlegt, was er an dem Tag gemacht hat, als der Halbbruder sein Testament verfasst hat, was am Geburtstag des Bruders, was in den Tagen und Wochen bis zu dessen Tod. Er beginnt zu recherchieren, was Menschen zum Suizid treibt, sucht Antworten in Berichten von Nervenärzten, in archäologischen Funden. Er findet keine.

Und er beobachtet genau, welche Empfindungen der Suizid bei ihm auslöst, nämlich Schuldgefühle, die er seinem Bruder gegenüber wohl schon immer hatte, er findet in seiner Erinnerung keinen „Moment, da ich mich in seiner Gegenwart frei und unbefangen gefühlt habe.“ Er st sich aber auch seines Hasses auf den Bruder bewusst, der ständig geschmollt habe, aber sich nie wirklich darum gekümmert, etwas Vernünftiges aus seinem Leben zu machen, der gar „seine Arbeitskraft weggeworfen [hatte], sinnloserweise.“

Nichts Gerades hatte er zustande gebracht, aber hielt sich gerade deswegen für etwas Besonderes, war eingebildet bis zur Eitelkeit. Nichts war ihm gut genug, nie war es mir gelungen, ihm eine Freude zu machen, alles war zu wenig, nichts wurde seinem Anspruch gerecht. (S. 40)

Er erkennt eigene Fehler, die seinen Bruder vielleicht vor den Kopf gestoßen haben, und manchmal wächst auch eine „Zärtlichkeit, das Bedürfnis, meinen Bruder in die Arme zu nehmen, etwas, was ich mir vorher nicht gewünscht hatte.“ Aber er findet keinen Weg mehr zu seinem Bruder, im Gegenteil, die Erinnerungen fangen an sich zu verwischen, zu Anekdoten zu werden, die die Schuld am Tod alleine ihm zuschreiben. Aber der Ich-Erzähler vermutet auch, dass der Bruder nicht so sehr einen Kampf gegen sich selber verloren habe, sondern vielmehr einen gegen Gesellschaft, die ein Leben wie der Bruder es geführt habe, nicht akzeptiere, vielleicht gar gegen die Art des Menschen, der immer strebt, verändert, etwas weiter entwickelt.

So beginnt der Ich-Erzähler, sich dem Tod des Bruders anders zu nähern, nämlich mit der Methode der Archäologen, die sich den Menschen, die vor 3000 Jahren gelebt haben, auch eher über Vermututngen und Vergleiche nähern, um eine stringente Erzählung der Lebensverhältnisse in diesen Gesellschaften zu erhalten.

Ein Anknüpfungspunkt ist der Koala, das Tier, das der Bruder bei den – merkwürdigen – Riten der Pfadfinder als Totem bekommen hat. Der Ich-Erzähler beginnt sich zu fragen, wie der Bruder sich wohl gefühlt habe, mit seinem Totem-Tier. Und er beginnt seine Geschichte der Vermutungen: Was mag passiert sein, wenn der Bruder angefangen hat, sich ernsthaft mit dem Koala zu beschäftigen, wenn er herausgefunden hat, dass der Koala eben kein Kuscheltier ist, sondern ein Tier, das keine Bestrebungen nach Veränderungen hat, das sich eingerichtet hat mit einer Nahrung, die nicht nahrhaft ist – eigentlich unverdaulich -, das eher faul ist, an einen Ort gebunden und die meiste Zeit des Tages verschläft? Vielleicht hat der Bruder sich dann erst zu einem Koala entwickelt, weil er erkannt hat, dass er dem Lebensentwurf des Kolas viel mehr abgewinnen kann als dem der Menschen:

Den Menschen war nicht zu trauen, wer an das Gute glaubte, war dumm. Jeder wollte etwas, und jeder wollte es lieber heute als morgen. Es ging ihm plötzlich auf, dass darin der Grund für das Elend der Menschen liegen könnte: im Ehrgeiz der Menschen. In der Schule hatte man ihm gesagt, dies sei die Kardinaltugend, wenn er etwas erreichen wolle im Leben, dann werde er sich anstrengen müssen. Aber hieß das nicht, in einen Wettstreit zu treten mit jenen, die nach demselben begehrten, hieß das nicht, einen Kampf aufzunehmen? Nur wer kämpfte konnte gewinnen (…) Mit jedem Sieg schaffte man sich einen Feind. (S. 74/75)

Vielleicht hatte der Bruder tatsächlich solche Gedanken und hat sich entschieden, zu leben wie ein Koala, ist jedem Wettstreit aus dem Weg gegangen, hat sich mit einem Baum begnüngt, das gegessen, was vor seiner Nase hing – auch wenn es giftig war – und versucht, keinen anderen gegen sich aufzubringen. Trotz dieser Entscheidung hat ihn dann aber doch eines Tages nichts mehr im Leben gehalten.

Auch die Koalas haben es schwer zu überleben. In der nun, nach etwas mehr als einem Drittel des Romans, beginnenden Kulturgeschichte der Koalas, die unmittelbar verknüpft ist mit der Geschichte der Besiedelung Australiens durch die Sträflingskolonien der Engländer, wird letztendlich deutlich, dass auch die niemandem im Wege stehenden Koalas nur durch Zufall überleben können, weil sie lange – von gottesfürchtigen Menschen! – als minderwertig angesehen werden:

zu faul um zu fliehen – wofür sollte der Herr sie geschaffen haben, als zur Ernte eines ordentlichen Fells? (…) Wenn der Schöpfer etwas einzuwenden hatte, dass man sie von den Bäumen pflückte, hätte er ihnen Kampfgeist gegeben, schnelle Beine oder wenigstens eine Tarnung, aber sie waren so einfach zu finden wie zu töten. (S. 163)

Lukas Bärfuss erzählt die Erforschungsgeschichte eines Suizides, die Besiedelung Australiens und der Fast-Ausrottung der Koalas. Der Leser folgt ihm auch bei den starken thematischen Übergängen bereitwillig, weil er einfach gut und packend erzählt. Dabei kennzeichnet die einzelnen Teile ein jeweils sehr passender Erzählstil – stark reduziert die Konfrontation des Ich-Erzählers mit dem Suizid des Halbbruders, abenteuerlich, manchmal magisch-mystisch, die Besiedlungsgeschichte Australiens, knappe christlich inspirierte Rationalitätsargumente bei der Geschichte der Koala-Jagd. Die Betroffenheit des Ich-Erzählers und das Nachdenken über den allgemein akzeptierten Wert der Arbeit, noch dazu in einer Wettbewerbsgesellschaft, beschäftigen den Leser weit über die Lektüre hinaus.

Trotzdem: die Verbindung der Teile des Romans, vor allem ihre Verbindung mit der Frage nach dem Suizid des Bruders, wirken nicht stimmig, die Gewichte der einzelnen Teile lenken von der Ausgangsfrage eher weg. Fraglich vor allem, ob die Bedeutung der Arbeit tatsächlich als Erklärung für den Suizid gelten kann, wenn doch doch immer wieder zu lesen ist, dass die meisten Suizide – in einem Artikel in der ZEIT der letzten Woche zum Thema Depression ist von 90 % die Rede – auf psychische Erkrankungen zurückzuführen sind. Und was ist mit den Fällen, in denen Menschen angesichts einer schweren physischen Erkrankung den Beschluss fassen, ihr Leben zu beenden? Fraglich auch, ob es in unserer Gesellschaft, in der es zahlreiche Nischen für Aussteiger gibt, nicht doch möglich ist, den Ehrgeiz und das Streben zurückzustellen und einfach anders zu leben.

Lukas Bärfuss (2014), Koala, Göttingen, Wallstein Verlag

Weitere Rezensionen, die im Zuge des Longlistlesens 2014 entstanden sind, könnt ihr bei Anna und Birgit nachlesen.

Experiment im Lesesalon der Süddeutschen Zeitung

AndersenIn der letzten Woche hat die Süddeutsche Zeitung ihre Leser in ihren – virtuellen – Lesesalon eingeladen. Dort können sich 100 Leser treffen, um gemeinsam ein Buch zu lesen, sie können es dort gemeinsam diskutieren, sie können Fragen zu stellen, Anregungen geben, also alles das tun, was wir tun können, wenn wir uns in der realen Welt mit anderen Lesern um einen Tisch versammeln und über die gemeinsame Lektüre ins Reden kommen.

Nur, dass wir oft in unserer unmittelbaren Umgebung gar keine Mitleser finden, also gar kein Gegenüber haben für spannende Diskussionen. Wir Blogger haben dafür schon einen anderen Weg gefunden, versuchen nämlich Gleichgesinnte in der virtuellen Welt zu finden, und manchmanl, wenn alles richtig gut läuft, dann kommt auch eine Diskussion zu einem Buch zustande, dann findet ein richtig guter Austausch über auch kontroverser Blickwinkel, verschiedener Perspektiven und Deutungen statt. Ich erinnere mich an diese Sternstunden im Zusammenhang mit Wolfgang Herrndorfs Buch „Struktur und Arbeit“ und in jüngerer Zeit hat es beim gemeinsamem Lesen von Longlist-Tieln ganz toll geklappt mit den Diskussionen. Dann ist es fast so, als säßen wir gemütlich beeinander und tauschten uns vis-á-vis über das Gelesene aus.

Dirk von Gehlen, Initiator des virtuellen Lesesalons der SZ, möchte nun ausprobieren, ob sich die Lesesalonatmosphäre noch erweitern lässt. Und so sollen sich die nun per Los ausgewählten 100 Leser in dem virtuellen Lesesalon nicht nur zum Gespräch, sondern auch zum gemeinsamen Lesen treffen. Er ist gespannt, ob sich daraus eine ganz besondere „soziale Dynamik“ entwickelt, so wie früher, wenn die Menschen um das Lagerfeuer herum saßen.

Dirk von Gehlen, der bei der SZ für Social Media und Innovationen verantwortlich ist, experimentiert seit einigen Jahren mit den Änderungen, die sich durch die digitale Welt ergeben können. Sein Buch „Eine neue Version ist verfügbar“ haben gleich 350 Leser erworben, bevor noch ein Buchstabe getippt war. Dafür haben sie nicht nur den Entstehungsprozess dieses Buches in Echtzeit begleiten, sondern sich auch an der Gestaltung beteiligen können. Die Leser werden so zu Mit-Autoren, Mit-Gestaltern, zu echten Mit-Spielern wie in einem Fußballspiel, so von Gehlen, die etwas bewegen, etwas verändern können, die Einfluss nehmen auf den Schaffensprozess. So lotet von Gehlen aus, welche Chancen aus der Digitalisierung erwachsen können, probiert und testet und sammelt – empirische – Erfahrungen.

In seinem neuen Projekt steht nun das gemeinsame Lesen eines Buches im Vordergrund. Entstehen soll zum Ende eine gemeinsame erstellte Besprechung des Buches, die dann wiederum in der SZ veröffentlicht wird. So können auch beide Seiten der SZ, der digitale Bereich und der Printbereich, kooperieren und voneinander profitieren.

Zur Diskussion steht Chris Andersens Buch „Makers“. Andersen ist Wissenschaftsjournalist und seit 2012 CEO des Unternehmens 3D Robotics. Seine These ist, dass das Internet uns nun, nachdem wir gelernt haben, uns dort umfassend zu informieren, miteinenader zu kommunizieren und selbst Texte, Bilder und Filme zu veröffentlichen, nun die Möglichkeit bietet, unsere eigenen Produkte zu gestalten. Personalisierung und Individualisierung, die sich natürlich bei digitalen Gütern viel leichter realisieren lassen, werden nun also zunehmend in die Welt der physischen Güter übertragen.

Beispiele, die es jetzt schon gibt, sind die nach eigenen Ideen gestalteten Ringe, das selbstgemischte Müsli, die nach eigenen Maßen gefertigte und endlich passende Bluse, die Schuhe, die nicht mehr drücken. Mit intelligenter Prozesstechnologie werden Aspekte der Handwerksfertigung also so umgesetzt, dass individuelle Güter zu bezahlbaren Preisen entstehen können. Ob wir demnächst vielleicht auch noch alle einen 3D-Drucker zu Hause stehen haben und dann tatsächlich alle Produkte, so wie wir sie haben möchten, selbst produzieren, hört sich im Moment noch ziemlich fantastisch an. Mit Blick auf den Namen von Andersens Unternehmen und den Titel seines Buches könnte das aber genau seine Vision sein.

Ich werde mich überraschen lassen. Ein Lesesessel steht für mich im Lesesalon der SZ bereit und ich werde hier weiter berichten, wie sich das Experiment anlässt, wie es ist, gemeinsam zu lesen, wie sich die Diskussion entwickelt, natürlich auch, was Andersons in seinem Buch über die nächste industrielle Revolution schreibt.

Und wie ich gelesen habe, werde ich dort auch Mara von Buzzaldrins treffen.

Chris Andersen: Das Internet der Dinge: die nächste industrielle Revolution, Hanser Verlag

 

Antonio Fian: Das Polykrates-Syndrom

polykrates_779Ein Gastbeitrag von Tina aus Stuttgart

Ich-Erzähler Artur ist Historiker. Er verdient aber in einem Copyshop, als freiberuflicher Sketchschreiber und Nachhilfelehrer seinen Lebensunterhalt. Schnell wird dem Leser klar, dass Artur bisher ein recht monotones Leben hatte und in seiner Ehe mit Lehrerin Rita, die kurz vor der nächsten Karrierestufe steht, nicht den Ton angibt.

Mit einem Mal ändert sich alles: Eine gewisse Alice („Aließ“) taucht im Copyshop auf und hinterlässt Artur eine Nachricht. Er hat nun die Wahl, dieser mysteriösen Unbekannten zu folgen oder eben nicht.

Das war die letzte Handlung in meinem alten Leben, von dem ich heute weiß, dass es kein Leben war, und in das ich doch, wenn das möglich wäre, ohne zu murren zurückkehren würde.

Seine Entscheidung trifft er schnell. Er folgt ihr. Nach und nach wird dadurch sein Leben auf den Kopf gestellt.

Im Laufe der Geschichte hadert Artur immer wieder mit sich, denn impulsive Entscheidungen widersprechen seinem eigentlichen Wesen. Der „alte“ Artur wollte sein Glück nie herausfordern. Um das Schlimmste zu umgehen hat er beispielsweise eine Reihe Versicherungen abgeschlossen, die er wahrscheinlich nie brauchen wird. Der Abschluss der Versicherungen an sich garantiere jedoch, dass nichts passieren wird.

Ich war kein Betrüger, und ich hasste Versicherungen. Die ich hatte, hatte ich nur aus Aberglauben. Die Unfallversicherung, um keinen Unfall zu haben, die Hausratversicherung, damit niemand einbrach…

Artur benennt diese „Krankheit“ nach einem griechischen Tyrann, der sein Glück allzu sehr strapazierte und am Ende sterben musste: das Polykrates-Syndrom.

Ich brauchte zu Beginn ein wenig, um in die Erzählung einzusteigen. Längere Dialoge, Gedankengänge und Beschreibungen, wenig Handlung.
Doch dann kommt die Geschichte in Fahrt: Der Leser wird hineingezogen in Arturs Entscheidungen und ihre Folgen. Alice, so unberechenbar sie ist, sorgt für Dynamik und viel Unerwartetes. Die beiden bilden die perfekten Gegensätze: Der Grübler, der aber ganz klischeehaft eben auch nur ein Mann ist, und Alice, die Durchgeknallte, die sich über nichts Gedanken zu machen scheint. Als es dem verheirateten Artur schließlich zu heiß wird, geschieht das Unvermeidbare: Rita und Alice treffen aufeinander.

Eine etwas skurrile Geschichte, bei der ich mich nach dem Lesen fragte: Wie wäre sie anders verlaufen? Sollte Artur sich glücklich schätzen, mit dem langweiligen Leben, das er hatte oder war es die Opfer wert, die ihm diese Abwechslung kosteten? Es ist wie im realen Leben: Man weiß es nicht. Im Polykrates-Syndrom stellen sich die Folgen als sehr krass und teils auch absurd dar. Dadurch gewinnen sie aber an Anschaulichkeit. An einigen Stellen wird Antonio Fian sogar so anschaulich, dass man das Gefühl hat, man säße direkt neben Artur, schaue ihm bei jedem seiner Handgriffe zu. So mancher Tatortfan, Mediziner oder Kriminalautor hätte da sicher seine helle Freude.

Antonio Fian: Das Polykrates-Syndrom, Graz, Literaturverlag Droschl

Und noch eine – ganz persönliche – Shortlist

ShortlistBärfuss und Köhlmeier sind schon erlesen, aber ich komme und komme nicht dazu, eine Besprechung zu schreiben.

Es ist nämlich so, dass ich noch eine andere Shortlist nicht auf dem Nachttisch, sondern auf dem Schreibtisch liegen habe. Für einen Prüfungsaufgalopp Anfang Oktober. Und die sind nicht so richtig spannend, die Bücher dieser Shortlist. Und sie müssen einfließen in Entwürfe und Konzepte, Verlaufsplanungen, Motivationsgründe, Ziele und Entwicklungsideen, Kompetenzumsetzungen und Förderansätze, zusätzliche Angebote und langsfristige Strategien, in Analysen und Evauationen, in Beratung und Beurteilung, in Transparenz, konstruktivistische Arbeitsanregungen, in Outputorientierung und Effektivitätssteigerung, in Messbarkeit unf Zählbarkeit – und natürlich alles unter dem großen Ziel der Qualitätssicherung und -verbesserung. (Wer nun meint, es gehe hier um eine neue Fertigungstechnologie, der ist nur ein wenig auf dem Holzweg….)

Ich nehme dabei vieles mit, was ich aus dem „Koala“ und den „Zwei Herren am Strand“ gelernt habe: trotz allem auch an Faulheit denken und ein bisschen wenigstens erholsam im Baum schaukeln und immer die Methode des Clowns anwenden: „Der Irrsinn kann nur mit Irrsinn geheilt werden.“ (Köhlmeier: Zwei Hrren am Strand, S. 214). Beides sehr hilfreich…

Das LongListLesen 2014 aber geht natürlich weiter. Auf der Extra-Seite (siehe Quer-Menü unter dem Header) verlinke ich alle Beiträge, die zu „meinen“ Longlist-Büchern bisher veröffentlicht wurden und veröffentliche natürlich auch auf meinem Blog die Gastbeiträge. Und ich freue mich sehr, dass es auf den verschiedenen Blogs bisher schon zu schönen Diskussionen über die Bücher gekommen ist: Schaut also mal vorbei und diskutiert mit!

LLL 2014 – Gertrud Leutenegger: Panischer Frühling

Leutenegger_2Weil der Vulkan auf Island so einen unaussprechlichen Namen ha, über den auch die Nachrichtensprecher der Reihe nach gestolpert sind, können wir uns noch ganz gut erinnern an seinen Ausbruch im April 2010. Wegen der vielen Aschepartikel, die er in die Luft gespuckt hat, musste tagelang der Flugverkehr eingestellt werden und viele Fluggäste strandeten auf irgendeinem Flughafen. Für diejenigen, die nichts aufs Fliegen angewiesen waren, gab es ein paar Tage blauen Himmel ohne Kondensstreifen und ohne Fluglärm.

In diesen Tagen streift die Ich-Erzählerin – wir erfahren ihren Namen nicht, erfahren nur etwas über ihre Kindheit in der Schweiz und können auf ihr Alter schließen, da sie den Mauerbau in Berlin als Kind erlebt hat – durch London. Sie lebt für einige Monate in einer kleinen Wohnung im East End, neben ihren hauptsächlich pakistanischen Nachbarn, die Bars betreiben, Esslokale, Basare, die Hochzeiten feiern und mit einer gewissen Verwunderung im Fernsehen verfolgen, wie Großbritannien die eigenen in Europa gestrandeten Bürger mit Schiffen nach Hause holt, gerade so, als müssten sie aus einer schweren Katastrophe befreit werden.

Die Erzählerin wandert durch London, durch die Innenstadt, die Gärten, immer wieder zur Themse und zur London Bridge, manchmal fährt sie an den Stadtrand. Sie erzählt von der Üppigkeit der blühenden Bäume, „der verschwenderischen Blütenpracht, als hätte man Kirschbäume in königsblaue Tinte getaucht“, von der Themse, die sie ihrer Gezeiten wegen immer wieder verwundert und sie magisch anzieht, erzählt von den Parks und der Landschaft am Stadtrand. Als typische Flaneurin beweist sie ein genaues Auge, dem auch merkwürdige Dinge und Zusammenhänge nicht entgehen. Sie erzählt von dem bengalischen Markt und den Produkten, die dort ausgestellt werden, den unbekannten Früchten, den Gewürzen, ja, der Unterwäsche, die „etwas höher gehängt über den Ständen hin und her flatterte, bunt, grell, glitzernd, in kleinen, wie in jedes denkbare Maß übertreffenden Größen, voller Spitzen und Rüschen, mit verführerischen Schlitzen versehen.“ Sie erzählt vom pittoresken Charme des alten Fischmarktes, hört immer wieder den Glockenschlag von Big Ben „grün und golden in der Dunkelheit“.

In dieser Zeit des Wanderns und Flanierens trifft die Erzählerin einen jungen Mann, der auf der London Bridge steht und dort die Obdachlosenzeitung verkauft. Sie ist angezogen von seiner Schönheit, im Profil wirkte sein Gesicht wie ein Renaissancebildnis. Als sie näher kommt, sieht sie mit großem Schreck, dass die eine Seite des Gesichtes durch eine Krankheit völlig entstellt ist.

Mit diesem jungen Mann, Jonathan ist sein Name, wie die Erzählerin später erfährt, beginnt sie nun Geschichten auszutauschen, eine Geschichte von ihm gegen eine Geschichte von ihr. Jonathan erzählt von seiner Kindheit in Cornwall, sein Vater einer der Fischer, der morgens mit dem Boot nach Hause kommt und dann noch schnell im Hafen die Uhr einstellt, auf der die Gezeiten abzulesen sind. Vom Tod des Vaters erzählt er, von der Großmutter, die ihn zu sich holt, ihm abends Geschichten über die jüdischen Kinder aus dem East End erzählt, die in den Kriegsjahren an die Küste evakuiert wurden. Die Großmutter weiß um Jonathans Probleme mit den anderen Kindern, die ihn ausschließen und hänseln, und sie hilft ihm immer wieder, die Anerkennung der anderen zu gewinnen.

Auch die Erzählerin taucht ab in ihre Kindheit, erzählt von dem Haus, in dem sie glücklich gewesen ist, von den Sommern im Pfarrhaus ihres Onkels, vom Waldzimmer, in dem der Vater wohnte, vom blauen Kabinett, dem Zimmer des Onkels, dem roten Salon, in dem sie mit ihrer Schwester und der Mutter schläft und den ständigen Geräuschen vom Dach, die sie nachts schrecken.

So entspinnt sich eine ganz besondere Beziehung zwischen den beiden, eine Beziehung, die eine ganz besondere Tiefe, eine ganz besondere Intensität, ja eine Intimität bekommt, auch wenn sie sich nie berühren. Häufiger spricht die Erzählerin davon, dass doch die Erlebnisse durch die Erinnerungen lebendig bleiben, die Menschen so fortbestehen. So helfen und stützen sich beide durch ihre Erzählungen, und irgendwann erzählt ihr Jonathan seine schlimmste Geschichte. Die Erzählerin will sich revanchieren, endlich darüber sprechen, was sie so lange in sich vergraben hat – aber Jonathan ist nicht mehr da.

Um Nähe und Distanz kreisen die Bilder, die Gudrun Leutenegger ihrer Geschichte vom „panischen Frühling“ mit auf den Weg gibt, um Schönheit und Anmut auf der einen, um Hässlichkeit und Vergänglichkeit auf der anderen Seite, um Mitfühlen und Mitmenschlichkeit, aber auch um Gewalt und Terror. In knapp formulierten Sätzen kann die Autorin immer wieder viele verschiedene Facetten zusammenbringen, ganz assoziativ scheint das und verfolgt doch ein genaues Ziel:

„Im Getöse des Verkehrs, das unter den Brückenbogen der Themse widerhallte, kehrte ich zur Underground zurück. War da wirklich ein Winken gewesen? Etwas zerstreut blickte ich um mich. Die Tulpenknospen in der schmalen Gartenanlage sprangen in so grellen Farben auf! Leuchtende Bänder, schlängelten sie sich zwischen dunklem Buchs hindurch, schneeweiß, flackernd orange, violett, kanariengelb. Hinter der Gedenktafel an die Terrorattentate vom Juli 2005 schlief jemand, unkenntlich zusammengerollt in einem schwarzen Plastiksack, es roch nach verschüttetem Bier und Hyazinthen.“ (S. 12-13)

Leuteneggers Sprache, ihre Gedankenführung, ist lyrisch. Das ist großartig, wenn, wie in einem Gedicht, über wenige Zeilen hinweg ganz komplexe Bilder im eigenen Kopfkino entstehen, wenn der Schönheit der Natur nicht nur die Erinnerung an den Terroranschlag entgegengestellt wird, sondern auch, quasi einen Schritt weiter, die ganz aktuellen Abgründe einer Großstadt gezeigt werden. Sie versteht es, auf so knappem Raum so vielfältige und so verschiedene Geschichten von London zu erzählen, dass auch die Stadt selbst zu einer Figur im Roman wird.

Es ist aber auch anstrengend, wenn so viele Dinge eine Bedeutung zu haben scheinen, die sich aber eben nicht immer erschließt, wenn so viele Dinge offenbleiben, dass der Leser am Ende recht ratlos auf das gelesene Buch schaut. Hier seien auch die vielen Tiere erwähnt, die immer wieder eine Rolle spielen: Schleiereulen, Katzen, ein freches Eichhörnchen, ein Rochen, eine Ente.

Vielleicht soll es aber genau so sein, vielleicht will Leutenegger eine Lebenssituation zeigen, die ganz offen für die Zukunft ist, eine Protagonistin, die sieht und assoziiert, Hoffnung zuspricht, nie aber wertet. Vielleicht spielt die Autorin genau mit unseren Erwartungen an Literatur, mit unserer ständigen Suche nach Bildern, Metaphern, Symbolen, die es zu enträtseln gilt, weil wir gelernt haben und meinen, damit eine literarische Geschichte noch besser verstehen zu können. Vielleicht will sie genau diese Erwartung brechen. Unser Leben lässt sich so ja auch nicht lesen.

Gertrud Leutenegger (2014): Panischer Frühling, Berlin, Suhrkamp Verlag

Eine weitere Besprechung zu Leuteneggers Roman im Rahmen des LongListLesens 2014  findet ihr bei Anna.

Meinungen des Buchhandels zum Buchpreis (4): Jacqueline Masuck

masuko_1Heute beantwortet Jacqueline Masuck, Literaturbloggerin und Buchhändlerin im KulturKaufhaus Dussmann in Berlin, meine Fragen zur Longlist und zum Buchpreis.

Die Longlist des Deutschen Buchpreises 2014 ist seit ein paar Wochen bekannt. Sind Sie überrascht von Titeln auf der Liste, vermissen Sie den ein oder anderen Titel oder sind Sie insgesamt zufrieden?

In wenigen Tagen wird bereits die Shortlist veröffentlicht und ich frage mich, warum nicht direkt damit starten? Das funktioniert im Frühling, wenn es um den Preis der Leipziger Buchmesse geht, auch immer sehr gut. 5-7 Titel fände ich super – und dann am Ende den Sieger. Den 20 Titeln der Longlist in dem kurzen Zeitraum angemessen Aufmerksamkeit zu schenken, ist kaum möglich. Weder als Käufer, noch als Buchhändler. Parallel zur Longlist erscheinen außerdem unzählige neue Romane, denen dann noch weniger Aufmerksamkeit geschenkt werden kann.

Ob ich überrascht war von der Liste? Nein, ich war weder überrascht noch zufrieden. Eher enttäuscht. Sie widerspiegelt für mich lediglich eine subjektive Auswahl einer kleinen Gruppe von Jury-Mitgliedern.
Eine große Anzahl der Titel sind vom Frühjahr 2014. Das finde ich wirklich schade!
Es finden sich nur wenige Romane aus dem aktuellen Herbstprogramm – aus einem Programm, das unzählige spannende und wundervoll literarische Romane von Autoren wie Nino Haratischwili, Steven Uhly, Judith W. Taschler, Olga Grjasnowa, Susanne Schädlich, Lisa Kränzler, Kerstin Preiwuß, Regina Scheer, Ricarda Junge und Bodo Kirchhoff vereint. Diese Autoren beispielsweise vermisse ich auf der Liste.

 

Andreas Platthaus hat in der FAZ zur Longlist gesagt, die Juroren hätten vor allem auf das „Bewährte“ gesetzt, so sei ungewöhnlichen und wagemutigen Projekten kein Platz auf der Longlist eingeräumt worden und es sei auch nur wenig Bereitschaft zu sehen, auch mal den Roman eines unbekannteren, kleineren Verlags zu nominieren. Hat Platthaus mit seiner Einschätzung nicht recht?

Doch, ich stimme Andreas Platthaus unbedingt zu. Auch ich würde gern mehr unabhängige Verlage auf der Liste sehen.
Im Verlag Secession beispielsweise finde ich Uhlys Projekt über Displaced Persons im Europa der 40er und 50er Jahre unglaublich spannend. Sein Roman „Königreich der Dämmerung“ hat mich fasziniert, aufgerüttelt und viele Fragen beantwortet. Ich wünsche dem Roman unzählige Leser.
Genauso ging es mir mit „Das achte Leben“ von Nino Haratischwili – einem Roman, der ein ganzes Jahrhundert in Georgien und der ehemaligen Sowjetunion umspannt. Mit dieser sehr jungen und unglaublich klugen Autorin sowie dem Autor Bodo Kirchhoff hat die Frankfurter Verlagsanstalt gleich zwei Kandidaten, die ich mir bei den Nominierten gewünscht hätte.

 

Der Deutsche Buchpreis tritt, seinen Leitsätzen zufolge, mit dem Ziel an, „den besten Roman“des Jahres auszeichnen zu wollen. Über einzelne Titel kann man ja lange streiten. Gibt es für Sie bestimmte Kriterien, die den „guten“ Roman, um nicht zu sagen: den „besten“ Roman, ausmachen?

Wenn im Oktober der Deutsche Buchpreis verliehen wird, dann wünsche ich mir als Buchhändlerin, dass dies ein Roman ist, der einen großen Publikumskreis interessiert. Männer und Frauen gleichermaßen. Junge und ältere LeserInnen. Ich möchte als Buchhändlerin zu 100 % hinter dem Roman stehen können und mit Leidenschaft und Begeisterung sagen können, „das ist DER deutsche Roman des Herbstes 2014“.
Aber auch über unsere Grenzen hinweg sollte er Leser in anderen Ländern begeistern. Ich messe diesen Preis gern an dem Kriterium, ob die Story auch einen Leser in Frankreich, Spanien, Japan oder den USA interessieren könnte.

 

Der Deutsche Buchpreis wird ausgelobt vom Börsenverein des Buchhandels. Steht da nicht, den Kriterien des „guten Romans“ zum Trotz, viel mehr der Verkauf der Bücher im Vordergrund des Interesses? Die Marketingmaschine, die nun angeworfen wird, spricht doch dafür.

Ich glaube, beide Kriterien können gut „Hand in Hand“ gehen. Was ich meine ist, dass wir alle (Autor, Verlag, Buchhändler, …) uns doch nichts so sehr wünschen, als dass „Der gute Roman“ schließlich auch gelesen wird. Die mediale Aufmerksamkeit unterstützt diesen Wunsch.

 

Wie ist denn Ihre Erfahrung in diesen ersten Tagen dieses Jahres, wie aus den letzten Jahren: Bringt der Buchpreis mit seiner medialen Aufmerksamkeit mehr Kunden in den Buchhandel, werden mehr Bücher verkauft, insbesondere die Titel der Long- und Shortlist, des Gewinners, die auch in jedem Laden an prominenter Stelle ausgestellt werden?

Es gibt ein ganz großes Interesse und ich finde das toll. Die Stimmung ist knisternd und voller Spannung. Sehr beliebt ist neben den Verkaufstischen mit den nominierten Titeln bzw. dem Gewinner im Oktober aber auch das Heft mit den 20 Leseproben, das es für den Kunden umsonst in der Buchhandlung gibt. Was für ein schönes Bild: Leute kommen in den Laden, um sich zu orientieren, zu diskutieren und schließlich zu kaufen.
Wenn man die Abverkäufe der nominierten Titel vergleicht, stellt man fest, dass es einen leichten Anstieg gibt gegenüber der Zeit vor der Nominierung. Ich freue mich über jeden zusätzlich verkauften Roman, egal ob von Stanisic, Nawrat, Poschenrieder oder Klüssendorf.
Mit der Verkündung der Shortlist steigern sich die Abverkäufe erfahrungsgemäß.
Autoren wie Lutz Seiler oder Thomas Hettche hätten meiner Meinung nach aber auch ohne Longlist eine große Aufmerksamkeit bekommen. „Kruso“ und „Pfaueninsel“ sind sowohl inhaltlich als auch sprachlich interessant. Genauso, wie Nino Haratischwilis Roman ohne die Nominierung bereits ein ganz großes Leserinteresse weckt. Weil Presse und Buchhandel „Das achte Leben“ einstimmig für außergewöhnlich und großartig befinden.
Wir haben in der Buchhandlung beispielsweise zusätzlich einen Tisch gestaltet – „Wen wir gern auf der Longlist gesehen hätten“. Diese Aktion hat viel Zuspruch gefunden. Dort liegen neben Haratischwili und Uhly die Romane von Seethaler, Scheer, Grjasnowa, Sander und Kirchhoff.

 

Der Schriftsteller Michael Lentz hat vor ein paar Jahren gefordert, den Preis sofort abzuschaffen. Er würde die nominierten zwanzig Titel so stark in den Vordergrund stellen, sodass alle nicht nominierten Romane nicht mehr wahrgenommen werden. Mit unserem Blogprojekt tragen wir ja zu genau dieser Sichtweise auch bei. Sehen Sie das auch so kritisch?

Ich denke, man muss nicht gleich den Preis abschaffen. Warum nicht einfach mit Gelassenheit die Longlist anschauen und sich inspirieren lassen. Vielleicht entdeckt man einen Roman, der in der Fülle der Titel untergegangen wäre.
Andererseits werde ich ein Buch, das ich schon im Februar nicht lesen wollte, bestimmt nicht lesen, nur weil es auf der Longlist steht. Ich sehe das ganz entspannt. Und vor allen Dingen sehe ich gern beide Seiten.
Weshalb ich finde, dass der Deutsche Buchpreis unbedingt weiterhin verliehen werden sollte.
Und es sollte über die 20 Titel gesprochen und diskutiert werden (in Presse, Blogs, e.t.c.), ohne übertrieben hohe Bewertungen. Denn auch die Titeln jenseits der Longlist haben unsere ganze Aufmerksamkeit verdient. Ich mag deshalb das Blogprojekt zu Haratischwilis Roman, bei dem ich selbst mitmache, sehr.

 

Haben Sie einen persönlichen Favoriten auf der Liste?

Nein, momentan habe ich keinen, denn meine Favoriten stehen leider nicht auf der Liste. Das erspart mir eine Menge Aufregung. Ich lasse mich einfach überraschen.

 

VIelen Dank, liebe Jacqueline, für die Antworten.

Meinungen des Buchhandels zum Buchpreis (3): Daniela Dobernigg

cobo_1In meiner kleinen Reihe mit Beiträgen aus dem Buchhandel hat mir heute Daniela Dobernigg von der Buchhandlung cohen + dobernigg in Hamburg Rede und Antwort zur Longlist 2014 und zum Deutschen Buchpreis gestanden:

 

Die Longlist des Deutschen Buchpreises 2014 ist seit ein paar Tagen bekannt. Sind Sie überrascht von Titeln auf der Liste, vermissen Sie den ein oder anderen Titel oder sind Sie insgesamt zufrieden?
Ehrlich gesagt ist es wie jedes Jahr: Viele Bücher habe ich noch nicht gelesen, da kann man keine Meinung haben. Ich finde den Buchpreis aus persönlicher Sicht nicht sehr spannend, und erstelle lieber meine eigenen, sehr variablen Listen.
Für unsere Buchhandlung ist der Buchpreis auch nicht wahnsinnig relevant. Die Longlist hatte auch in den letzten Jahren kaum Auswirkungen. Selbst bei der Shortlist reagieren die Kunden kaum. Das hat meiner Meinung nach zwei Gründe:
1. Wir machen keine Sonderpräsentation, Werbung usw.
2. Die Bücher, die in den letzten Jahren gewonnen haben, waren für viele durchschnittliche Leser nicht besonders attraktiv.
Wir hadern immer wieder mit dem Deutschen Buchpreis, nicht weil wir unzufrieden sind mit der Qualität der Gewinnerbücher!!!, sondern weil es anfangs hieß, dass es ein Preis sein soll, der Aufmerksamkeit auf den Buchhandel, die Verlage und selbstverständlich die Autoren lenkt. Ein Preis, der die Leute ans Lesen erinnern soll.
Nun ist es aber so, dass viele das eine oder andere Mal ein ausgezeichnetes Buch gekauft, und … oft nicht zu Ende gelesen haben. Klar kann man sich streiten warum, aber ich wage die These, dass es manchmal an Leichtigkeit und Spaß fehlt (nein, ich rede nicht von Klamauk). Gerade bei diesem Preis ist das fatal. Um so schlimmer, dass Kollegen aus der Branche das gleiche feststellen. Ich vermute, ich werde es nicht erleben, dass einmal ein „lustiges“ Buch den Gewinn einfährt. Ein Publikumspreis wäre da wohl die Lösung?

Andreas Platthaus hat in der FAZ zur Longlist gesagt, die Juroren hätten vor allem auf das „Bewährte“ gesetzt, so sei cobo_2ungewöhnlichen und wagemutigen Projekten kein Platz auf der Longlist eingeräumt worden und es sei auch nur wenig Bereitschaft zu sehen, auch mal den Roman eines unerkannteren, kleineren Verlags zu nominieren. Hat Platthaus mit seiner Einschätzung nicht recht?
In unserer Buchhandlung legen wir seit der Gründung Wert auf kleine, besondere Verlage, gerade die liegen uns sehr am Herzen. Und mich persönlich wundert es dann schon, wie wenig Beachtung sie in der Öffentlichkeit und beim Buchpreis bekommen.
Aber: ich sitze nicht in der Jury, werde es nie tun – und deren Tun nicht hinterfragen. Wie gesagt, in unserer Buchhandlung haben wir unsere eigene Auswahl.

Der Deutsche Buchpreis tritt, seinen Leitsätzen zufolge, mit dem Ziel an, „den besten Roman“ des Jahres auszeichnen zu wollen. Über einzelne Titel kann man ja lange streiten. Gibt es für Sie bestimmte Kriterien, die den „guten“ Roman, um nicht zu sagen: den „besten“ Roman, ausmachen?
Sehr kurz gesagt: Ein Buch muss mich packen, muss mir etwas erzählen, muss mich mitnehmen, entführen, sich in meinem Kopf festsetzen und mich beschäftigen. Und wenn es einen Teil davon schafft, dann sind wir auf einem gutem Weg. Ich bin kritische Buchhändlerin, aber keine Literaturkritikerin.

Der Deutsche Buchpreis wird ausgelobt vom Börsenverein des Buchhandels. Steht da nicht, den Kriterien des „guten Romans“ zum Trotz, viel mehr der Verkauf der Bücher im Vordergrund des Interesses? Die Marketingmaschine, die nun angeworfen wird, spricht doch dafür.
War das nicht der Auslöser für diesen Preis? Eine Liste wird kaum reichen für Aufmerksamkeit. Will man Berichte im Radio, Presse, ggf. sogar TV … muss es mehr als eine Liste haben.

Wie ist denn Ihre Erfahrung in diesen ersten Tagen dieses Jahres, wie aus den letzten Jahren: Bringt der Buchpreis mit seiner medialen Aufmerksamkeit mehr Kunden in den Buchhandel, werden mehr Bücher verkauft, insbesondere die Titel der Long- und Shortlist, des Gewinners, die auch in jedem Laden an prominenter Stelle ausgestellt werden?
Nein. Der Buchpreis bringt nicht mehr Kunden in unseren Laden, wir werden aber ab und an angesprochen auf die Liste, später auf den oder die Gewinner/in.
Mich persönlich freut aber das mediale Interesse trotzdem. Besser als nichts.

Der Schriftsteller Michael Lentz hat vor ein paar Jahren gefordert, den Preis sofort abzuschaffen. Er würde die nominierten zwanzig Titel so stark in den Vordergrund stellen, sodass alle nicht nominierten Romane nicht mehr wahrgenommen werden. Mit unserem Blogprojekt tragen wir ja zu genau dieser Sichtweise auch bei. Sehen Sie das auch so kritisch?
Das ist immer schwierig. Eigentlich bin ich auch gegen diese Liste, ganz egal wie lang oder kurz sie ist. Jedoch, wie schon gesagt: Mediale Präsenz ist für die Bücherlandschaften, also auch uns, nie schlecht.
In unserer Buchhandlung werden nicht nominierte Romane und Autoren sehr wohl wahrgenommen. Die Kunden vertrauen uns, und nicht den Listen.

Haben Sie einen persönlichen Favoriten auf der Liste?
Nein, noch nie. Nur aus Jux für das ladeninterne Tippspiel.

 

Vielen Dank, liebe Daniela, fürs Mitmachen und Fragen beantworten!

LLL 2014 Kurzporträts (6): Charles Lewinsky: Kastelau

dbp_longlist_2014Letzter Autor in meiner kleinen Reihe zur Longlist ist wiederum ein mir bisher ganz unbekannter Schriftsteller, von dem aber schon im Begleitheft zum Buchpreis viel Interessantes, Ungewöhnliches, manchmal durchaus auch Witziges berichtet wird.

Die harten Fakten zuerst: Geboren wurde Charles Lewinsky 1946 in Zürich, ging dort zur Primarschule, musste dann aber zum Gymnasium jeden Tag nach Luzern reisen, denn die Zürcher Schulen nahmen nun einmal keinen Schüler auf, der aus religiösen Gründen samstags nicht schreiben durfte. Nach der Schule studierte er Germanistik und Theaterwissenschaften, arbeitete dann als Dramaturg und Regisseur an verschiedenen Bühnen in der Schweiz und in Deutschland, ehe er als Ressortleiter beim Schweizer Fernsehen für die „Wort-Unterhaltung“ zuständig war.

Seit 1980 arbeitet er als freier Autor und hat in dieser Zeit bemerkenswert unterschiedliche Dinge geschrieben: die Bühnenprogramme für „Mary“, ein paar Geschichten für die „Traumschiff-Serie“, Drehbücher für Sitcoms im Schweizer Fernsehen, sogar als Ghostwriter für Harald Juhnkes Show „Musik ist Trumpf“ – falls sich da noch jemand der Leser erinnern kann – ist Lewinsky tätig gewesen, so wie er auch einen Titel zum Grand Prix der Volksmusik beigesteuert – und damit gewonnen – hat. Im Leseproben-Heft zur Longlist wird er mit dem Satz zitiert: „Ich schrieb zuerst mal alles, was verkäuflich war“.

Er ergänzt, dass er im Laufe der Jahre dann mit der „bestellten Ware“ so erfolgreich geworden sei, dass er Zeit finden konnte, am Anderes, um „Anspruchsvolleres zu probieren“. Und so erschienen Romane wie „Johannistag“ (2000), „Melnitz (2006), „Doppelpass“ (2009) und „Gerron“ (2011). In seinen Romanen setzt er sich immer wieder mit der Geschichte, oft auch mit jüdischer Geschichte, auseinander.

So reisen wir auch in seinem Roman „Kastelau“ in die Vergangenheit zurück, ins Jahr 1944, dem Jahr, in dem Berlin von den Alliierten beschossen wird und jeder, der weggehen kann aus der Stadt, froh darüber ist. Da kommt der Auftrag zum Drehen des Nazi-Films „Das Lied der Freiheit“ in einem bayrischen Bergdorf für einige UFA-Schauspielerinnen und Schauspieler gerade recht. Und auch wenn nur ein Teil der Crew in Kastelau ankommt, so entscheiden diese sich dafür, den Film unter allen Umständen drehen zu wollen, auch wenn sie dazu Dorfbewohnern und Nazi-Spitzel ordentlich etwas vorspielen müssen, Hauptsache, sie müssen nicht zurück nach Berlin.

Charles Lewinsky macht uns in seinem Roman Glauben, dass sein Roman um die Geschehnisse in Kastelau auf die Unterlagen von Samuel Anthony Saunders zurückgehe, der ein umfassendes Werk von Briefen, Listen, Notizen Tonbändern usw. hinterlassen habe, als er erst 49-Jährig in Hollywood verstorben sei, Vorarbeiten wohl zu einer Dissertation und, als die abgelehnt wurde, zu einem Roman über die Geschichte des Schauspielers Arnie Walton. Er habe, so schreibt Lewinsky erklärend, diesen Schatz ganz zufällig gefunden im Film & Television Archive der UCLA, ansässig an der East Melnitz. Und auf seiner Webseite erzählt er dieeinfach  wunderbare Geschichte, welche Beziehungen es zwischen dem Straßennamen, seinem Roman „Melnitz“ und dem neuen Roman gibt (scrollen bis „Zufälle gibt´s“).

Saunders hat wirklich akribisch recherchiert, hat den Weg des Schauspielers Arnie Walton, der immerhin mit einem Stern auf dem Walk of Fame geehrt wird, zurückverfolgt nach Deutschland, hat mögliche Geburtsorte gefunden, seine Karriere Schritt für Schritt nachvollzogen, überprüft, ob das, was Walton über sein Leben in Deutschland erzählt, über seine Haltung zu jüdischen Kollegen beispielweise, auch tatsächlich stimmt.

Natürlich hieß er nicht wirklich Arnie Walton. Marilyn Monroe hieß auch nicht Marilyn Monroe, und John Wayne hieß nicht John Wayne. Vielleicht hat er sich den Namen nicht einmal selber ausgedacht, hat nur nicht widersprochen, als die Werbeabteilung des Studios damit ankam. Anpassungsfähig ist er immer gewesen. Arnie Walton war die Amerikanisierung des Namens, unter dem er in Nazideutschland Karriere gemacht hatte. Und auch der war schon ein Pseudonym gewesen. (…) Die wirkliche Erklärung für die abrupte Beendigung seines Vertrags fand ich im Thüringischen Staatsarchiv Greiz, wo die (nach einem Vernichtungsbefehl vom Februar 1945 sehr unvollständigen) Akten der obersten Polizeibehörde Gera aufbewahrt werden. Im handschriftlich geführten Journal vom November 1933 lässt sich unter dem 18. des Monats in der Rubrik «Festnahmen» der Name «Arnold, Walter» entziffern, mit dem Vermerk «wg. 175». Es kann sich hier nur um den berüchtigten Paragraphen 175 des deutschen Reichsstrafgesetzbuches handeln, der «die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Tieren verübt wird» mit Gefängnis von sechs Monaten bis zu vier Jahren bedrohte.“ (S. 21/ S. 23)

Wer hat Lust, die sehr spannend erscheinende Geschichte um Samuel Anthony Saunders, Charles Lewinsky und Arnie Walton, alias Walter Arnold, den es ja bestimmt nach Kastelau verschlagen hat, zu lesen und zu besprechen? Schreibt einen Kommentar oder eine Mail!

Einen längeren Ausschnitt aus „Kastelau“ könnt Ihr hier und eine erste Rezension hier lesen. Empfohlen sei in jedem Fall auch Lewinskys Homepage.

Gewinnerin ist dieses Mal Eva aus Wien.

LLL 2014 Kurzporträt (5): Esther Kinsky: Am Fluß

dbp_longlist_2014Esther Kinsky ist wiederum eine Autorin, die ich bisher nicht kannte, von der ich noch nichts gelesen habe. Über die Autorin etwas zu erfahren, ist auch ähnlich schwierig, wie bei Gertrud Leutenegger. Es sind kaum Interviews zu finden, kaum Artikel, die ein wenig Aufschluss gewähren über die Autorin selbst. So können hier nur ein paar biografische Daten genannt werden: geboren ist sie 1956 in Engelskirchen, aufgewachsen in Bonn, lebte einige Jahre in London, dann in Berlin und seit 2004 auch im südungarischen Battonya. Seit 1986 arbeitet sie als Übersetzerin russischer, polnischer und englischer Literatur und hat in dieser Zeit auch immer wieder Kurzprosa veröffentlicht, Gedichte und Kinderbücher. Erst 2009 hat sie ihren ersten Roman „Sommerfrische“ veröffentlicht, dann 2010 „Banatsko“, der in der Landschaft in Ungarn spielt, in der sie selbst auch wohnt.

Und nun also hat sie sich in ihrem neuen Roman wieder einer Landschaft zugewendet: einer Flußlandschaft, die sich die Ich-Erzählerin erwandert. Flüsse spielen auch in ihrem Leben eine wichtige Rolle, der Rhein ihrer Kindheit zum Beispiel, die Themse bei ihrem Aufenthalt in London. Kinsky nähert sich auch in ihrem neuen Roman einer Landschaft, setzt sich wandernd, beobachtend, schreibend mit der Landschaft auseinanderz, erkundet die Menschen, die dort leben, und ihre Geschichte. Es scheint ein ganz ähnliches Erzählkonzept zu sein, wie es auch bei Gertrud Leuteneggers „Panischer Frühling“ zu finden ist, denn auch dort erwandert sich eine Erzählerin ihre Umgebung. In der Verlagsvorschau ist über Kinskys Roman zu lesen:

Alte Fabriken, ärmliche Häuser, aber auch unverhoffte Streifen von Wildnis: eine Landschaft an der Grenze zwischen Stadt und Land, bevölkert von aus ihren Ordnungen gefallenen Menschen, wie sie das wahre Leben am Rande jeder Metropole prägen.
In neun Etappen eines Spaziergangs in der Gegend um den River Lea im Osten Londons verfolgt Esther Kinsky die sich überlagernden Spuren persönlicher Geschichte und urbaner Historie dieser Flusslandschaft und nutzt die Wildnis des Marschlands als Freiraum für Erinnerung und Reflexion. Der River Lea wird zur Grenzmarkierung und zugleich zu einem Wegweiser: Erfahrung und Wahrnehmung finden an ihm eine Schranke und ein Ziel.

Die Randlage ist hier also offensichtlich gerade nicht die Gegend, in der sich Erfolgreichen niederlassen, die, die es sich leisten können, außerhalb der Stadt zu wohnen, die beides wollen, sowohl das Angebot der Stadt in der Nähe, vor der Haustüre aber auch die Landschaft, die Weite, das Ländliche. Die Randlage in Esther Kinskys Roman ist vielmehr die Gegend, in die diejenigen vertrieben oder gedrängt werden, die es „in der Stadt“ gerade nicht geschafft haben.

Im Radiointerview erzählt Esther Kinsky, dass Grenzen und Übergänge für sie wichtig seien, so wie es diese Grenzen eben in der Landschaft am Fluss – hier und dort – zu beobachten gebe. Grenzen und Übergänge hat sie auch bei ihrer Arbeit als Übersetzerin kennen und zu überwinden gelernt und dabei, so sagt sie, ihre eigene Sprache gefunden. Gerade die besondere sprachliche Gestaltung ist bei den letzten Romanen immer wieder besonders gelobt worden. Die Autorin hat dem Roman auch Bilder hinzugefügt, Polaroids, denen man bei der Entwicklung, sozusagen bei der Bildwerdung, zuschauen kann, und die so auch den Übergang symbolisieren.

Wie wird Esther Kinsky von Landschaften und ihren Menschen erzählen, wie diese Erzählung verbinden mit den Beobachtungen der Natur, wie eigene Erinnerungen darin einbinden und alles in die Form des Romans bringen? Der Beginn jedenfalls ist viel versprechend, denn die Erzählerin trifft tatsächlich einen König:

In der Zeit meiner Abreise aus London begenete ich dem König. Ich sah ihn abends, im türkisen Dämmer. Er stand am Eingang des Parks und schaute nach Osten, dorthin, wo bereits ein tiefes, dunstiges Blau aufstieg, während in seinem Rücken der Himmel leuchtete. Aus dem Schatten der Büsche am Tor kam er mit lautlosen Schritten an den Rand der Rasenfläche, über den um diese Tageszeit die vielen Raben des Parks aufgeregt kreisten.

Wer von Euch möchte gerne mehr über diesen geheimnsivollen König erfahren? Schreibt, kommentiert, vielleicht könnt Ihr dann bald mit der Ich-Erzählerin die Flusslandschaften erwandern. Und hier klickt, wer vorher schon einmal Esther Kinsky lesen hören möchte (aus dem Roman „Banatsko“), und hier klackt, wer das ganze Radiointerview hören möchte.

 

Eine Reise zum Fluß hat Dana gewonnen. Herzlichen Glückwunsch und viel Spaß beim Lesen!

Meinungen des Buchhandels zum Buchpreis (2): Samy Wiltschek aus Ulm

Samy Wiltscheck führt in Ulm die Kulturbuchhandlung Jastram und schreibt auch auf seinem Blog. Zur diesjährigen Longlist und zum Buchpreis  hat er diese Überlegungen „zu Papier“ gebracht:  

 

„Oh, was soll ich bloß über die Longlist des Deutschen Buchpreises 2014 schreiben? Alle großen Zeitungen, KuBuHa_2Fachmagazine und Blogger haben sich schon geäußert und jeder hat seine eigene Meinung. Über etwas zu schimpfen und zu kritisieren ist natürlich nicht so schwer. Eine Idee nicht gut zu finden und es selbst anders machen zu wollen, oder erst gar nicht, liegt in der Sache selbst.

Vor Jahren ging mir diesbezüglich ein Licht auf. Auf die Fragen, wer denn nun dieses Jahr den Literatur Nobelpreis bekommen solle und danach, wie ich denn die Wahl finde, habe ich mich immer sehr schwer getan. Mittlerweile ist mir klar, dass natürlich nicht die beste Schriftstellerin, der beste Schriftsteller des Jahres gewählt worden ist, sondern es die Auswahl einer kleinen, überschaubaren Jury ist, deren Diskussionen im Verborgenen bleiben. Haben wir nicht während der Fussball-WM gefühlte 12 Millionen Schiris und Trainer vor den Fernsehapparaten? Wissen wir nach dem Spiel nicht so vieles besser, und wäre es nicht doch sinnvoller gewesen, den Spieler doch nicht zu bringen und warum denn diese Aufstellung?

Genauso geht es mir mit der Longlist 2014. Einige Bücher habe ich gelesen, einige Autoren kenne ich von ihren Vorgängerbücher, in manche Bücher habe ich schon reingeschaut, oder beim Bachmann Wettbewerb daraus gehört. Aber es gibt einige Bücher, die mir noch gar nichts sagen. Ob ich sie vor Bekanntgabe noch zu lesen schaffe, wage ich zu bezweifeln (Nur gut, dass es Blogs gibt, die sich da durchlesen und mir dann wunderbare Inhaltsangaben und Meinungen dazu liefern). So erscheint mir die Diskussion, ob hier Mainstream begünstigt wird, doch sehr fragwürdig, wenn ich die Bücher von Angelika Klüssenberg, Esther Kinsky und Matthias Nawrat anschaue. Warum dann Herr Stanisic wieder auf der Liste auftaucht, ist wohl Sache des Verlages. Fast scheint es mir, dass die Jury einen Kessel Buntes präsentiert und von vielen Sparten etwas dabei hat.

Für mich in meiner kleinen Buchhandlung werde mich mit dieser Liste noch nicht aus dem Fenster lehnen. Wir verkaufen weiterhin am Besten, was wir selbst gelesen haben. Und der Tisch mit den Neuheiten ist krachend voll mit tollen Büchern, die wir gerne unseren Kundinnen empfehlen. Spannender wird sicherlich die Shortlist mit den verbleibenden sechs Titeln. Wir hatten im Vorfeld des Leipziger Buchpreises die Diskussion ausgenutzt und im Rahmen unserer monatlichen Veranstaltungsreihe: „Die erste Seite“ statt aus vier Neuheiten, aus den Büchern der Shortlist vorgelesen und frecher Weise die ZuhörerInnen abstimmen lassen. Das machte allen sehr viel Spaß und hatte eine Langzeitwirkung bis über die offizielle Bekanntgabe hinaus. So werde ich es auch dieses Mal halten und mit einer ordentlichen Prise Humor die Bewertungen der Shortlist betrachten und das Gewinnerbuch gebührend präsentieren. Diese Auszeichnung belebt natürlich das Buchgeschäft und wenn ich mich nicht nur auf die Titel der Long- bzw. Shortlist beschränke, kann ich weiterhin meine internen Favoriten verkaufen und nehme diesen Wettbewerb gerne mit, zumal ich natürlich auch selbst davon profitiere und in Bücher hineinschnuppere, die ich sonst eventuell links liegen gelassen hätte.

Ich freue mich über fast jede Werbung für das Lesen, für Bücher und hoffe, dass wir dadurch ein paar Menschen mehr dazu bekommen, sich ein Buch zu schnappen. Was besseres kann uns doch gar nicht passieren, wenn ich sehe, was viele Wartende an den Bushaltestellen in der Hand halten. Meistens kein Buch.“

 

Vielen Dank, lieber Samy, fürs Mitmachen.

LLL 2014 Kurzporträt (4): Michael Köhlmeier: Zwei Herren am Strand

dbp_longlist_2014Michael Köhlmeier immerhin – mit Blick auf meine sechs Longlistpatenbücher – ist ein Autor, von dem ich schon zwei Bücher hier auf dem grauen Sofa gelesen und vorgestellt habe. „Idylle mit ertrinkendem Hund“, die Novelle um einen Schriftsteller und seinen Verleger, ihr Arbeitsverhältnis, ihr persönliches Verhältnis und ihre gemeinsamen Versuche, einen Hund zu retten, der im Eis eingebrochen ist, ist meine erste Begegnung mit Köhlmeier gewesen – und wurde angeregt, ach was: erzwungen, bei meinen Bloglesereien (eine winkende Hand in Richtung Kai :-)). Und dann folgte im letzten Jahr das Erlesen des Lebens Joel Spazierers, des Helden, der seine Mitmenschen so gut durchschaut, dass es sie nach eigenem Gusto für sich und seine Ziele einspannen, also manipulieren, und sich so als Hochstapler, aber einem deutlich unangenehmeren als Felix Krull, recht bequem und ohne jeden moralischen Skrupel durch die Zeitläufte bewegen kann. Was soll auch der einzelne eine Moral haben, wenn die große Politik um ihn herum sie nicht hat?

Zur Biografie Köhlmeiers ist dies festzuhalten: Geboren wurde er 1958 in Hard in Vorarlberg, er studierte von 1970 bis 1978 Germanistik und Politikwissenschaft  und dann auch Mathematik und Philosophie in Marburg, Gießen und Frankfurt. In dieser Zeit hat er mit Reinhold Bilgeri, auch einem Autor und Filmemacher, ein Kabarett-Musik-Duo gegründet und ist mit einigen Titeln sogar über die Grenzen Vorarlbergs bekannt geworden – und manchmal stehen sie auch heute noch musizierend auf der Bühne (klick und  klack). Seit den 1980er Jahren schreibt Köhlmeier Romane, Erzählungen, Hörspiele und einige wenige Stücke. Dabei ist bisher nicht nur ein sehr umfangreiches Werk zustande gekommen, sondern auch eines, das insofern besonders ist, als dass Köhlmeier sich neben den Stoffen, die er in seiner eigenen Prosa verarbeitet, auch immer wieder mit dem „alten“ literarischen Kanon auseinandersetzt, mit den Nibelungen, den alten Sagen, den Geschichten aus der Bibel, auch mit Shakespeare, und diese Geschichten neu erzählt.

Und so erzählt er uns also in seinem neuen Roman „Zwei Herren am Strand“ auch eine alte Geschichte in neuer Form. Tatsächlich haben Churchill und Chaplin sich gekannt. Köhlmeier malt uns nun aus, wie sich diese Bekanntschaft, diese Freundschaft, entwickelt, wie die beiden sich immer wieder treffen, lange mit miteinander sprechen, sehr vertrauensvoll – und absolut verschwiegen: „Die Protagonisten hatten einander in Pfadfinderart geschworen, niemandem über ihre Spaziergänge und Gespräche zu berichten.“ (S. 13) Die Gespräche umkreisen dabei natürlich die politischen Entwicklungen, aber auch Persönliches wird besprochen und besonders treibt sie jeweils die Sorge um den Gemütszustand des anderen um, denn beide leiden immer wieder unter Depressionen, beide müssen sie umgehen mit diesem „schwarzen Hund“. So haben sie sich versprochen, wenn einer Hilfe brauche, komme der anderes sofort.

Am Weihnachtstag 1931, gegen Mittag – so erzählte mir mein Vater –, stand ein Mann auf den Stufen zum Eingang des Hauses 119 East 70th Street in Manhattan, New York. Er wollte Mr. Winston Churchill besuchen, der hier vor­übergehend bei seiner Cousine weilte.
Der Besucher war nicht angemeldet, das Personal kannte ihnnicht, weder der Butler noch die Krankenschwester, und dass er behauptete, Charlie Chaplin zu sein, wies ihn in ihren Augen als einengefährlichen Irren aus. Sie drohten mit der Polizei, der Butler schließlich sogar mit einer Brown Bess Muskete, die allerdings nicht funk­tionstüchtig war, sondern für gewöhnlich als eines von zwei Erin­nerungsstücken aus dem Unabhängigkeitskrieg über der Garderobein der Lobby hing. Erst als der Mann, die Hände zu einem Trichter anden Mund gelegt, so laut er konnte – er konnte nicht laut –, durch den Türschlitz, in dem sein Knie klemmte, rief: »Winston, Winston, ich bin es, Charlie. Ich bin da, Winston. Ich bin gekommen!«, und Churchill, dessen Zimmer sich glücklicherweise im Parterre befand, seinerseits, so laut er konnte – auch er konnte in diesen Tagen nicht laut–, zurückrief – »Glad tidings you bring!« –, ließ man ihn ein­treten. (S. 11)
Wenn Ihr mehr vom Anfang des Romans lesen möchtet, könnt Ihr das hier tun, wenn Ihr Köhlmeier aus seinem Roman selbst lesen hören möchtet, dann solltet Ihr diesem Link folgen. Und hier gibt es die erste Zeitungsbesprechung.
Mich haben die ersten Seiten jedenfalls sehr neugierig gemacht, darauf, wie es weitergeht und was es auf sich hat mit der sich hier schon andeutenden besonderen Erzählkonzeption. Freut Ihr Euch auch auf die Lektüre? Erzählt, warum Ihr unbedingt Köhlmeiers „Zwei Herren am Strand lesen wollt“ – vielleicht gewinnt Ihr ja ein Buch.
Die „Zwei Herren“ möchten  zu Atalantes wandern, wahrscheinlich bis dahin nicht komplett am Strand entlang. Eine gute Lektüre!

LLL 2014 Kurzporträt (3): Gertrud Leutenegger: Panischer Frühling

dbp_longlist_2014Und noch eine Autorin, von der ich bisher noch nichts gelesen und mit deren Roman es mir so ähnlich ergangen ist wie mit Bärfuss´ „Koala“. Im Verlagsprospekt entdeckt, wollte ich den „Panischen Frühling“ schon im Frühjahr lesen, habe ihn dann aus den Augen verloren und nun durch die Nominierung wiederum eine zweite Lesechance bekommen.

Mich der Autorin zu nähern, ist gar nicht so einfach. Natürlich gibt es die wichtigsten biografischen Daten in einschlägigen Quellen nachzulesen: geboren 1948 in Schwyz, dann ein Regiestudium an der Zürcher Schauspielakademie und die Arbeit als Regieassistentin ab 1978 in Hamburg, später Reisen und Aufenthalte in Florenz, Berlin und in Tokio. Nun hat sie sich in Zürich niedergelassen.

Viel mehr aber ist kaum über Gertrud Leutenegger zu erfahren. Es gibt zwar viele Rezensionen in den Zeitungen zu ihrem Roman „Panischer Frühling“, aber keine Interviews, keine Fernsehauftritte, keine weiteren Möglichkeiten, etwas mehr zu erfahren über die Autorin und was sie umtreibt. Und so ist auch in der ZEIT zu lesen, dass sie „keinerlei Lärm“ verursache, sondern eine Autorin sei, die es vorziehe, ihre Bücher wirken zu lassen, ohne ständig selbst in den Medien präsent zu sein. Weiter ist dort zu lesen, ihr hefte die Eigenschaft an, schwierig zu sein. Und dabei beziehe sich diese Eigenschaft auf ihre Art zu schreiben. So erzähle die Autorin weniger Geschichten, die sich über ihre Handlungen entwickeln, als vielmehr Texte, die aus der Beschreibung von Bildern bzw. Wahrnehmungen der Protagonisten entstehen, aus denen sich dann ganz assoziativ Erinnerungen, (historische) Verknüpfungen, andere, kleine Geschichten ergeben. Das rücke die Prosa in die Nähe zur Lyrik und mache das Lesen manchmal nicht ganz einfach.

Ein Blick auf Leuteneggers Werk zeigt dann auch eine Mischung aus Romanen, Geschichtensammlungen und Gedichten. Und bei den Romanen scheint sie immer Situationen zu (er)finden, in denen ihre Protagonistinnen in einer Situation erzählt werden, in denen sie als Passanten, als Flaneure ihre jeweiligen Umgebungen beobachtend erkunden, dabei Ungewöhnliches berichten, Zusammenhänge herstellen und beim Beobachten auch ganz oft eigenes Erleben erinnern. So wandert zum Beispiel in Leuteneggers erstem Roman „Vorabend“ (1975) eine junge Frau die Straßen entlang, die am nächsten Tag von einer Demonstration passiert werden. Im letzten Roman der Autorin, vor immerhin schon sechs Jahren erscheinen, verschlägt es eine Kunst-Kustodin einen Monat lang in die fast klösterliche Umgebung eines Vogelfängerturms im Luganer See. Und so sind auch hier die Landschaftsbeobachtungen Anlass, eigenes Erinnern anzustoßen.

Auch im „Panischen Frühling“ hat Leutenegger sich eine Ich-Erzählerin erschaffen, die durch die Straßen schlendert, dieses Mal sind es die Straßen Londons, die Natur anschaut, die Bauwerke beschreibt, Menschen beobachtet und ihre Reaktionen. Auch hier wieder ist eine Flaneurin unterwegs, die einen sehr genauen Blick auf ihre Umgebung hat – und durchaus auch einen besonderen auf merkwürdig-kuriose Dinge – und uns auch immer wieder erzählt, was los ist mit dem isländischen Vulkan mit dem unaussprechlichen Namen, der den Flugverkehr über Europa lahmlegt.

Ich habe schon ein paar Seiten des „Panischen Frühlings“ gelesen und mag diese Art des assoziativen Erzählens sehr:

Im Getöse des Verkehrs, das unter den Brückenbogen der Themse widerhallte, kehrte ich zur Underground zurück. War da wirklich ein Winken gewesen? Etwas zerstreut blickte ich um mich. Die Tulpenknospen in der schmalen Gartenanlage sprangen in so grellen Farben auf! Leuchtende Bänder, schlängelten sie sich zwischen dunklem Buchs hindurch, schneeweiß, flackernd orange, violett, kanariengelb. Hinter der Gedenktafel an die Terrorattentate vom Juli 2005 schlief jemand, unkenntlich zusammengerollt in einem schwarzen Plastiksack, es roch nach verschüttetem Bier und Hyazinthen. (S. 12-13)

Und wer mag auch noch Leuteneggers Roman lesen? Wenn Ihr mir erzählt, was Euch reizt an der Lektüre, könnt Ihr wiederum einen Band gewinnen.

 

Zu Maren reist der „Panische Frühling“. Ich bin schon neugierig auf Deine Lektüreeindrücke.

Meinungen des Buchhandels zum Buchpreis (1): Hauke Harder aus Kiel

In meiner kleinen Interviewreihe möchte ich wissen, was Buchhändler von den Noinierungen auf der Longlist in diesem Jahr und vom Buchpreis ganz allgemein halten. Als erster der Buchhändler steht Hauke Harder von der Buchhandlung Almut Schmidt in Kiel Rede und Antwort.

 

Die Longlist des Deutschen Buchpreises 2014 ist seit ein paar Tagen bekannt. Sind Sie überrascht von Titeln auf der Liste, vermissen Sie den ein oder anderen Titel oder sind Sie insgesamt zufrieden?Buha_AS_HH
Insgesamt zufrieden, denn die Liste ist eine gute und bunte Mischung.
Dennoch fehlen mir persönlich einige meiner Favoriten. Aber es werden wohl immer individuelle Buchtitel nicht nominiert, die einen persönlich begeistert haben.
Als kleine Kritik würde ich sagen, daß die Liste den Lesegeschmack vieler Buchliebhaber nicht immer spiegelt. Ich denke, daß die Liste am Leser, der nicht beruflich mit dem Medium Buch zu tun hat, leicht vorbei gehen könnte. Die Auswahl ist eine künstlerische und anspruchsvolle Auswahl, die aber eventuell dadurch die sogenannte „Hemmschwelle“ eines Buchliebhabers zum stationären Buchhandel aufbauen könnte… Wir, die beruflich mit dem Medium „Buch“ arbeiten, sind alle Geschichtenerzähler und deren Verkäufer. Dies geht meist Hand in Hand mit Emotionen. Mir ist die Liste aus diesem Grund etwas zu „kopflastig“.

Andreas Platthaus hat in der FAZ zur Longlist gesagt, die Juroren hätten vor allem auf das „Bewährte“ gesetzt, so sei ungewöhnlichen und wagemutigen Projekten kein Platz auf der Longlist eingeräumt worden und es sei auch nur wenig Bereitschaft zu sehen, auch mal den Roman eines unbekannteneren, kleineren Verlags zu nominieren. Hat Platthaus mit seiner Einschätzung nicht recht?
Ist es denn so „Bewährtes“? Die Frage muß ich eigentlich unbeantwortet lassen, denn bis auf wenige Titel habe ich die Bücher auf der Liste noch nicht durchgelesen. Ich arbeite aber daran 😉 Ich denke die Juroren sollten unabhängig von dem Bekanntheitsgrad und der Größe eines Verlages ihre Auswahl treffen. Hier geht es ja nun wirklich um Inhalte. Schön und wünschenswert wäre es, daß auch unbekannte Verlage und Ihre Autoren eine Chance bekämen. Wie bereits gesagt, lese ich auch viele Novitäten, die es nun nicht auf dieser Liste geschafft haben, denen ich es persönlich aber sehr gegönnt hätte.

Der Deutsche Buchpreis tritt, seinen Leitsätzen zufolge, mit dem Ziel an, „den besten Roman“ des Jahres auszeichnen zu wollen. Über einzelne Titel kann man ja lange streiten. Gibt es für Sie bestimmte Kriterien, die den „guten“ Roman, um nicht zu sagen: den „besten“ Roman, ausmachen?
Individuell ganz einfach beantwortet, er muß mir gefallen 
Er sollte mich emotional packen und eine gute Geschichte beinhalten, die mir eine ganze neue Welt öffnet. Ein Buch kann ein Leben verändern. Wir wissen aus der Physik und den spirituellen Lehren, daß unsere äußere Welt der Inneren gleicht. So kann eine neue Sicht mein Umfeld verändern. Ich kann nicht die Welt verändern, ich kann nur mich ändern.
Meistens reicht ein kleiner Anstoß. Diese Anregung kann ich durch einen schönen, klugen Satz finden oder durch ein ganzes Buch, denn jeder Text birgt in sich die Möglichkeit, meine Sicht auf die Dinge zu erneuern.
Die Sprache ist mir wichtig, aber wenn es Titel sind, die mit einer wunderbaren Sprache geschrieben, aber wenig Inhalt haben, bin ich auch gelangweilt. Es muß stimmig sein.

Der Deutsche Buchpreis wird ausgelobt vom Börsenverein des Buchhandels. Steht da nicht, den Kriterien des „guten Romans“ zum Trotz, viel mehr der Verkauf der Bücher im Vordergrund des Interesses? Die Marketingmaschine, die nun angeworfen wird, spricht doch dafür.
Warum? Wir, der vertreibende und herstellende Buchhandel lebt nun mal vom Verkauf seiner Bücher und daran misst sich schließlich auch der Erfolg eines Titels. Daher ist es doch gut, wenn auch wirtschaftlich gehandelt wird. Es ist doch leicht schräg, wenn jemand den Erfolg nicht möchte. Ich denke kein Autor schreibt, um ewig als Geheimtipp gehandelt zu werden. Man ist doch stolz auf sein Werk und wünscht sich viele Leser, also Käufer.

Wie ist denn Ihre Erfahrung in diesen ersten Tagen dieses Jahres, wie aus den letzten Jahren: Bringt der Buchpreis mit seiner medialen Aufmerksamkeit mehr Kunden in den Buchhandel, werden mehr Bücher verkauft, insbesondere die Titel der Long- und Shortlist, des Gewinners, die auch in jedem Laden an prominenter Stelle ausgestellt werden?
Die große Aufmerksamkeit bekommt leider meist nur der Gewinner-Titel. Aber dennoch ist für Gesprächsstoff gesorgt und die Kunden zeigen immer mehr Interesse.
Aber wir arbeiten in einer Buchhandlung, in der wir eine enge Kundenbindung haben, dadurch sind unsere Favoriten und Lesetipps mehr gefragt. Aber die Berichtserstattung in der Presse und allen weiteren Medien rund um die Buchmesse und den Buchpreis ist toll und rückt das Kulturgut „Buch“ in den Vordergrund und schafft ein Bewusstsein für die Freude am Lesen.

Der Schriftsteller Michael Lentz hat vor ein paar Jahren gefordert, den Preis sofort abzuschaffen. Er würde die nominierten zwanzig Titel so stark in den Vordergrund stellen, sodass alle nicht nominierten Romane nicht mehr wahrgenommen werden. Mit unserem Blogprojekt tragen wir ja zu genau dieser Sichtweise auch bei. Sehen Sie das auch so kritisch?
Dem stimme ich als Buchhändler nicht zu. Denn wir erleben etwas anderes im Handel. Dies mag bei Menschen und Lesern zu treffen, die sich selbständig im Internet mit der Literatur versorgen und informieren. Uns Buchhändler zeichnet die Beratung aus. Wir sind kein generierter Code, der Verkaufsvorschläge macht. Unsere Kunden möchten unsere Meinung zu den Titeln wissen. Wenn ich ein Buch nicht mochte, sei es ein Preisträger oder nicht und ich persönlich gefragt werde, sage ich meine persönliche Meinung, denn diese möchten unsere Kunden hören. Ebenso verkaufe ich mit viel Freude Bücher, die gänzlich unbekannt sind, mich aber begeistert haben.
Haben Sie einen persönlichen Favoriten auf der Liste?
Ich kann mich ad hoc nicht festlegen… Ich tippe aber auf: „Kruso“ von Lutz Seiler. Ein literarisches Werk. Klug und unglaublich toll geschrieben. Man verweilt und liest einige Sätze mehrfach. Langsam versinkt man im Text und strandet in einer neuen, alten Welt….
Aber auch Michael Köhlmeier mit „Zwei Herren am Strand“ würde ich als einen meiner Favoriten aus der Liste benennen.

LLL 2014 Kurzporträt (2): Lukas Bärfuss: Koala

dbp_longlist_2014Auch Lukas Bärfuss ist mir als Autor unbekannt, keinen seiner bisherigen drei Romane habe ich gelesen. Immerhin haben einige Blogger-Kollegen im Frühjahr schon „Koala“ gelesen und den Roman so vorgestellt, dass er mir als sehr lesenswert erschien. Aber irgendwie sind wir doch noch nicht zusammengekommen, der „Koala“ und ich. Nun gibt es also – zum Glück – eine zweite Chance.

Lukas Bärfuss ist ein Schweizer Autor, der Dramen und Romane schreibt. Schaut man auf die Themen, denen er sich widmet, so wird deutlich, dass Bärfuss immer wieder einen genauen Blick sucht auf die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Fragen und Probleme. In seinem Theaterstück „Zwanzigtausend Seiten“ (2012) zum Beispiel beleuchtet er die Beziehungen der Schweiz zum Nazi-Regime in den 1930er und 1940er Jahren und fragt danach, wie wir heute mit diesen Erinnerungen, mit dem Wissen über das, was in der Vergangenheit passiert ist, umgehen. Die Rezensenten erklären, dass Bärfuss in seinem Stück zeige, dass immer dann, wenn das Wissen nicht nützlich ist, immer dann, wenn es nicht dazu beitrage, finanziellen Gewinn zu erzielen, es gesellschaftlich opportun zu sein scheint, das Wissen zu vergessen.

In seinem Roman „Hundert Tage“ (2008) schaut Bärfuss wiederum auf ein politisch brisantes Thema: Ein Entwicklungshelfer gerät in den Völkermord in Ruanda. Über dessen Erlebnisse dort kann auch der Frage nachgegangen werden, welchen Beitrag auch die Entwicklungshilfe zur politischen Entwicklung in Ruanda und letztendlich zum Völkermord geleistet hat.

In  „Koala“ blickt Bärfuss wiederum auf ein gesellschaftliches Tabu, den Selbstmord nämlich, und spannt von dort den Bogen nach Australien, zu den Koalas. Der Selbstmord des Bruders treibt den Ich-Erzähler um, er fragt sich, welchen Anteil er hat an dem Entschluss des Bruders, nicht mehr leben zu wollen und fühlt sich schuldig, weil er das Gefühl hat, nicht genug geholfen, dem Bruder sozusagen nicht genügt zu haben. Und er merkt, dass das Thema Selbstmord kein gesellschaftlicher Gesprächsgegenstand ist, er trifft immer wieder auf ein Schweigen, obwohl doch, so hat Bärfuss recherchiert, Selbstmord die häufigste Todesursache der 20- bis 40-Jährigen ist.

Bei der Beschäftigung mit dem Bruder, mit seinem Motiven, mit seinem Leben, stößt der Ich-Erzähler wieder darauf, dass der Bruder als Kind den Spitznamen „Koala“ bekommen hat und fragt sich, ob dieser Spitzname dem Bruder gegeben wurde aus einem tiefen Wissen heraus, dass damit genau ein wichtiger Wesenszug beschrieben wird, oder ob sich, gerade andersherum, der Bruder im Laufe seines Lebens in Richtung auf das Wesen dieses Tieres entwickelt habe. Koalas nämlich leben so ziemlich genau ein unserem Lebensstil entgegengesetztes Leben: Sie sind wenig aktiv, kennen keinen Ehrgeiz, Leistungsprinzipien sind ihnen gar völlig fremd. Trotzdem sind sie bis heute, wo sie nun doch kurz vor dem Aussterben stehen, eine recht erfolgreiche Spezies gewesen. Und so beginnt der Erzähler sich auch für die Geschichte der Koalas in Australien zu interessieren und ist mittendrin in der Besiedlungsgeschichte des Kontinents und in der Geschichte, wie der Mensch mit seiner Umgebung, mit Natur, mit Tier, mit anderen Menschen, umgeht.

Wenn Ihr etwas über den Autor erfahren möchtet, könnt Ihr einen Blick auf seine Homepage werfen, ihr könnt die Seite des Wallstein Verlags besuchen, ihm in einem Interview auf dem Blauen Sofa bei der Leipziger Buchmesse lauschen oder Euch hier einen Überblick verschaffen über die durchaus kontroverse Sicht des Feuilletons auf den Roman.

Ich bin jedenfalls  gespannt, wie Bärfuss diesen Übergang gestaltet, von der Brudergeschichte zur Geschichte der Koalas und stelle mir die Frage, welche „Gedanken für das Leben“, so steht es im Verlagsprospekt, sich aus der Lektüre ergeben.
Und warum möchtet Ihr den „Koala“ lesen? Ich bin gespannt auf Eure Antworten, verlose wieder ein Buch und warte auf Euer Lesefeedback.

Und die Gewinnerin ist Birgit von SätzeundSchätze. Viel Spaß beim Lesen!

LLL 2014 Kurzporträt (1): Antonio Fian: Das Polykrates-Syndrom

dbp_longlist_2014Da habe ich mich so gefreut, auch in diesem Jahr wieder beim Erlesen und Erschreiben der LongList des Deutschen Buchpreises mitmachen zu können, da es doch im letzten Jahr so einen Spaß gemacht hat. Und dann fing es schon an, das Bangen darüber, welche Autoren und welche Titel mir zufallen werden – es wird bestimmt ganz schwierig, bestimmt kenne ich keinen der Autoren, und dann sind das bestimmt alles ganz dicke Wälzer, in kleinster Schrift, und ganz schlimm zu lesen – das sind so meine Gedanken gewesen, fast hätte ich abgesagt.

Und dann steht auch noch Antonio Fian auf meiner Liste, von dem Autor habe ich ja noch nie gehört, und auch noch so ein sperriger Titel und ein merkwürdig knalliges Buchcover. Was soll denn, bitteschön, ein Polykrates-Syndrom sein?! Ich habe es ja gewusst, man soll sich doch wirklich nie zu früh freuen, das dicke Ende folgt auf dem Fuß. Vielleicht sollte ich jetzt noch absagen?

Also gegoogelt – und da wurde mir der Autor doch schon viel sympathischer. Er ist Österreicher, in Klagenfurt geboren, der Stadt, die ja nicht nur wegen des Bachmann-Lesewettbewerbs bekannt ist, sondern mir auch noch deshalb so vertraut, weil sie am östlichen Rand des Wörther Sees liegt, da, wo meine schönsten Kindheitssommerurlaubserinnerungen zu verorten sind. Das ist doch schon einmal toll.   – Aber, als ich erwachsener wurde, habe ich auch gelernt, dass Klagenfurt auch etwas Provinzielles hat und den ein oder anderen Politskandal.

Antonio Fian, der heute in Wien lebt, setzt sich genau mit diesen politischen Themen und Skandalen auseinander, in einer parodistischen und satirischen Art und Weise. Das mag auch der Grund sein, warum er in Deutschland ein unbekannterer Autor ist. Ein Blick in seine Werkliste zeigt, dass er literarisch höchst vielfältig arbeitet, denn er schreibt Dramen und Hörspiele, Gedichte, Erzählungen, Romane – und Dramolette. Ein ganz aktuelles könnte Ihr hier lesen (ein Tipp an die nur hochdeutsch sprechenden Leser: am Besten laut vorlesen), ein älteres mit Haider als Protagonist hier.

Und was hat es nun mit dem Polykrates-Syndrom auf sich? Der Begriff geht zurück auf die von Herodot überlieferte Geschichte über den höchst glücklich agierenden Tyrann Polykrates von Samos, dem einfach alles in seinem Leben gelingt. Sein Freund, der Pharao Amasis, dagegen misstraut diesem Glück. Und so legte Schiller ihm in seiner Ballade „Der Polykrates-Ring“ diese Worte in den Mund: „Mir grauet vor der Götter Neide, | des Lebens ungemischte Freude | ward keinem Irdischen zuteil“. Und so kommt es auch knüppeldick: Herodot berichtet, dass Polykrates so erbärmlich gestorben sei, dass er es nicht wiedergeben könnte.

Amasis Prophezeiung ist das Grundmotiv in Fians Roman: Artur, einen Akademiker, der im Copy-Shop arbeitet, treibt doch die Sorge um, dass es mit dem Glück in seinem Leben nicht ewig so bleiben könne. Sein Leben, das die Leser wohl als gar nicht so umwerfend glücklich empfinden, wird dann in eine neue Richtung gelenkt, als Alice in den Copy-Shop kommt. Die Geschichte, die zunächst noch ganz komisch daherkommt, entwickelt sich wohl immer grauenhafter – bis zu einer Zerstücklungsszene. Diese Szene, so ist zu lesen, habe Fian Elfriede Jelinek mit der Bitte um kritische Durchsicht vorgelegt. Jelinek war zufrieden, war sich aber unsicher, ob man mit drei Stunden auskäme, um eine Leiche zu zersägen. So wurde als Experte noch ein Pathologe hinzugezogen, der beschied: Drei Stunden sind ausreichend.

Na, der Roman scheint es ja in sich zu haben. Ich glaube, ich habe doch Glück gehabt mit der Zulosung dieses Titels, es ist also noch einmal gutgegangen.

Und wie haltet Ihr es: ist für Euch auch das Polykrates-Syndrom eine wichtige Lebensrichtschnur, achtet ihr alos darauf, bloß nicht zu gkücklich zu sein, um die Götter nicht zu erzürnen, oder seht ihr es eher so, wie in der im Rheinischen sehr verbreiteten Lebensweisheit: Et hätt noch emmer joot jejange (und für die nur Hochdeutsche sprechenden Leser: bisher ist immer alles gut gegangen)?

Achtung: Eine Antwort (per Kommentar oder Mail an dasgrauesofa(at)web.de) kann zu einem Buchgewinn des „Polykrates-Syndroms“ führen!

Infos zum Roman findet Ihr hier beim Verlag.

 

Je einen Roman gewonnen haben die Buchmacherin und Tina aus Esslingen.

LongListLesen 2014 auf dem Grauen Sofa

dbp_longlist_2014Nun ist ja bereits eine Woche vergangen, seit die Longlist veröffentlicht ist und ist gibt zahlreiche Diskussionen um die Nominierten, die Repräsentanz von unabhängigen Verlagen, den Anteil der Frauen bei den Nominierten und den Preisträgern usw, usw. Wer da weiterlesen möchte, der klicke hier oder hier oder hier.

Es wird also langsam einmal Zeit, sich auch den Inhalten zuzuwenden und mit dem Ziel sind wir ja auch unter dem Titel LongLIstLesen 2014 gestartet. Die Bücherliebhaberin hat ja schon gepostet, wie sie sich den regen Austausch über die Romane vorstellt. Ich möchte es hier ein wenig anders machen, aber natürlich könnt Ihr auch hier Bücher der Longlist gewinnen und auch ich hoffe auf eine spannende, kontroverse Diskussion über Themen, literarische Gestaltung, ob sie „gut“ sind und gar preiswürdig.

Und so habe ich mir das Longlistlesen auf dem Grauen Sofa vorgestellt:

Ich möchte Euch in den nächsten Tagen die sechs Romane und ihre Autoren,die ich von der langen Liste betreue, in kleinen Porträts vorstellen. Wer also einen der Romane gewinnen, lesen und besprechen möchte, sei herzlich eingeladen sich bei mir zu melden (im Kommentarfeld und natürlich auch per Mail). Sollte es tatsächlich wider Erwarten und wider jede Vernunft mehrere Interessenten geben, muss ausgelost werden. Dazu konnte ich zwar keine Notare gewinnen, dieOLYMPUS DIGITAL CAMERA sich von dem ordnungsgemäßen Ablauf der Auslosung überzeugen, aber immerhin diese zwei interessierten Beobachter, die aufpassen, dass die Auslosung ohne Manipulationen durchgeführt wird – es sei denn, es ist Wurst im Spiel 🙂  (und vielen Dank an Jochen für das schöne Bild!).

Aber – stopp, ganz so leicht ist es mit der Verlosung ja doch nicht: Zum einen müsst Ihr manchmal für die Verlosung auch etwas mehr oder weniger Kreatives schreiben (mal schauen, was mir einfällt). Und dann wünsche ich mir zweitens ein Feedback über Eure Leseerfahrungen in einer knappen, mittellangen oder auch einer sehr, sozusagen: episch  langen Besprechung. Eure Besprechungen möchte ich gerne als Gastbeiträge veröffentlichen, vielleicht werden so auch mehrere Besprechungen zusammengeführt (und die, die einen eigenen Blog haben, können dort natürlich rebloggen). Es ist, die Bücherliebhaberin hat es ja schon geschrieben, auch ein Experiment, ob es möglich ist, über die Blogs in eine gute Auseinandersetzung über Bücher zu kommen, ob alsoein digitales „Literarisches Quartett“ möglich ist.

Neben dem Lesen der Longlistromane interessiert mich auch, was Buchhändler, also diejenigen, die tatsächlichen Kontakt mit den Lesern haben, von der Longlist in diesem Jahr und von der Institution des Buchpreises überhaupt halten. Die Interviews, die ich mit einigen, wenigen führen werde – es wird also keinesfalls eine in irgendeiner Form repräsentative Umfrage sein -möchte ich hier auch veröffentlichen. Vielleicht regt uns das ja an, mal darüber nachzudenken, über welche Kennzeichen eigentlich so ein richtig guter Roman verfügen soll, immerhin will der Deutsche Buchpreis ja „den besten Roman“ auszeichnen.

Soweit ist meine Planung, vielleicht gibt es ja noch das ein oder andere im Laufe der Zeit hinzuzufügen.

Morgen geht es auf jedem Fall mit dem ersten kleinen Porträt los: mit Antonio Fian und seinem Roman „Das Polykrates-Syndrom“.

LongListLesen 2014

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Kaum ist die Longlist des Deutschen Buchpreises 2014 veröffentlicht, schon gibt es Diskussionen off- und online (zum Beispiel hier und hier und hier.  Genau bei diesen Diskussionen wollen wir dieses Jahr mit unserem Bloggerprojekt LongListLesen 2014 einhaken.

Wir, das sind in diesem Fall Mara von buzzaldrin , die dieses Projekt gemeinsam mit der Bücherliebhaberin vom glasperlenspiel13 und mit mir in Angriff nimmt.

Im letzten Jahr gab es bereits eine Bloggeraktion: 5 lesen 20 . Bei dieser haben 5 Blogger die 20 Bücher der Longlist des Deutschen Buchpreises gelesen und vorgestellt.

2014 möchten wir, dass die nominierten Bücher von möglichst vielen Literaturbegeisterten gelesen werden. Dadurch erhoffen wir uns noch mehr Austausch und Stoff zum Diskutieren.

Was wir uns genau überlegt haben, erfahrt ihr, wenn ihr in den nächsten Tagen unsere Blogs im Auge behaltet. Dort berichten wir, was jeder von uns sich unter LongListLesen 2014 genau vorstellt und wie ihr eins der 20 Bücher gewinnen könnt. Viele Aktionen erwarten Euch!

LongListLesen 2014 ist zwar eine Kooperation des Deutschen Buchpreises mit den drei oben genannten Blogs, aber keine spezielle Auftragsarbeit. Wir bloggen, weil wir Bücher lieben und die deutsche Gegenwartsliteratur für uns eine Herzensangelegenheit ist.

Und dies sind sie nun also, die nominierten Romane, zu einigen findet Ihr schon Rezensionen auf meiner Seite.

Lukas Bärfuss: Koala (Wallstein, März 2014)
Ulrike Draesner: Sieben Sprünge vom Rand der Welt (Luchterhand, März 2014,)
Antonio Fian: Das Polykrates-Syndrom (Droschl, Februar 2014)
Franz Friedrich: Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr (S. Fischer, August 2014)
Thomas Hettche: Pfaueninsel (Kiepenheuer & Witsch, September 2014)
Esther Kinsky: Am Fluß (Matthes & Seitz Berlin, August 2014)
Angelika Klüssendorf: April (Kiepenheuer & Witsch, Februar 2014)
Michael Köhlmeier: Zwei Herren am Strand (Hanser, August 2014)
Martin Lechner: Kleine Kassa (Residenz, Februar 2014)
Gertrud Leutenegger: Panischer Frühling (Suhrkamp, März 2014)
Charles Lewinsky: Kastelau (Nagel & Kimche, Juli 2014)
Thomas Melle: 3000 Euro (Rowohlt.Berlin, August 2014)
Matthias Nawrat: Unternehmer (Rowohlt, März 2014)
Christoph Poschenrieder: Das Sandkorn (Diogenes, Februar 2014)
Lutz Seiler: Kruso (Suhrkamp, September 2014)
Saša Stanišić: Vor dem Fest (Luchterhand, März 2014)
Heinrich Steinfest: Der Allesforscher (Piper, März 2014)
Marlene Streeruwitz: Nachkommen. (S. Fischer, Juni 2014)
Feridun Zaimoglu: Isabel (Kiepenheuer & Witsch, Februar 2014)
Michael Ziegelwagner: Der aufblasbare Kaiser (Rowohlt.Berlin, März 2014)

Weitere Informationen zum Buchpreis findet Ihr hier:
Website des Deutschen Buchpreises 2014
Facebookseite des Deutschen Buchpreises

Bei buzzaldrin findet ihr schon Besprechungen zu Saša Stanišić, auch ein Interview mit ihm könnt ihr dort nachlesen, und eine weitere Rezension zu Matthias Nawrat.

Wir wünschen euch uns uns nun viel Spaß mit der Longlist und hoffen auf anregende und kontroverse Diskussionen!

Rainald Goetz: Johann Holtrop

Goetz_1Dieser Tage berichten die Zeitungen über die neue, wohl wissenschaftlich belastbare Erkenntnis, dass Psychologen erst gar nicht mehr lange Fragebögen entwickeln müssen, wenn sie herausfinden wollen, ob ihr Gegenüber eine narzisstische Persönlichkeit hat. Die Frage „Ich bin ein Narzisst. Wie sehr stimmen Sie dieser Aussage zu?“ reiche völlig aus, um das herauszufinden, denn die Betroffenen geben offen zu und seien geradezu stolz darauf, sich selbst ganz großartig zu finden und zu meinen, viele Dinge besser zu können als andere, während ihnen Selbstkritik völlig fremd sei, ebenso wie Mitgefühl.

Wenn dieses Erkenntnis stimmt, dann ist Johann Holtrop Narzisst. Er ist prominenter Manager eines Medienunternehmens, der Vorstandsvorsitzende der Assperg AG, erfolgreich zur Jahrtausendwende, zur aufregenden und aufgeregten Zeit der New Economy, die zum Ende der 1990er Jahre viele Fantasien befördert und die ersten „Investoren“ steinreich gemacht hat. Holtrop verkauft in der Boomphase einen Unternehmensteil und spült damit eine richtig große Summe Geld ins Portefeuille seines Arbeitgebers – und ins eigene. Und weil er so erfolgreich ist, sind natürlich die Journalisten hinter ihm her, fragen nach Interviews, wollen ein Porträt schreiben. Und Holtrop findet diese Nachfragen angenehm, denn er

ließ sich gerne von anderen, speziell jüngeren Menschen dabei beobachten, wie er war und was er machte, denn er fand selbst, auch wenn er vor langer Zeit einmal gespürt hatte, dass das eine fundamental unzulässige Empfindung war, zuletzt unweigerlich doch: erstaunlich gut gelungen, ein besonders geglücktes Exemplar Mensch. (S. 98-99)

Und wenn er dann so ins Erzählen kommt, seine Großtaten darstellt, seinen „Triumphzug“ in allen Facetten darlegt, dann kann ihm auch eine kritische Nachfrage nach Fehlern nicht aus dem Konzept bringen. Dann sind es wohlfeile Worthülsen, die er von sich gibt. Fehler machen ja schließlich alle, und wo gearbeitet werde, da entstehen auch Fehler. Und wenn die Frage nach Grenzen konkretisiert wird, dann spricht er über die unendlichen Grenzen, die die Politik den Unternehmern setze, „mindestens 98 Prozent (…) völlig schwachsinnige, für den Wirtschaftsstandort Deutschland obendrein unbeschreiblich schädliche Grenzen.“ Und innere Grenzen, ob es denn keine inneren Grenzen gebe, Grenzen der eigenen Begabung? „Der Begabung, ja, (…) so arrogant das klingt, aber die Wahrheit ist tatsächlich, ich würde Ihnen gerne etwas anderes sagen, aber: an solche inneren Grenzen meiner Begabung bin ich, bisher jedenfalls, noch nicht gekommen.“

So sieht sich also Johann Holtrop. Menschen, die ihm nicht so nah stehen, die nicht mit ihm zusammenarbeiten müssen, scheint er beim ersten, vielleicht auch noch beim zweiten Blick für sich gewinnen zu können, Vorgesetzte, entfernte oder neue Mitarbeiter (besser: Untergebene), Journalisten, Unternehmer oder reiche Pensionäre, die ihm bei Vorträgen ergriffen lauschen. Für seine direkten Mitarbeiter ist er eine Zumutung: Seine Sekretärin, die ihn jeden Morgen freundlich anlächelt, wenn sie ihm Unterschriftsmappe, Kaffee und Obstschale bringt, mault er an, seinem persönlichen Referenten, der alles auf das Wunderbarste für ihn organisiert, kann er nur mit Verachtung behandeln, wenn er ihn nervt, lässt er gleich von der Personal- und Rechtsabteilung prüfen, wie man ihn legal und fair, aber bitte SOFORT entlassen kann, andere Führungskräfte, die er innerhalb von 5 Minuten entlässt, weil sie ihm lästig werden, lässt er durch Sicherheitsunternehmen nach schönster Mafiamanier überwachen, Zahlungen dafür erfolgen ganz stilecht in Kuverts.

Mit einem betriebswirtschaftlichen Plan, überhaupt mit betriebswirtschaftlichen Kenntnissen, kann dieser Holtrop nicht überzeugen. Er sieht sich auch mehr als Visionär, als genialen Entscheider; für betriebswirtschaftliche Kennzahlen, für finanzwirtschaftliche Erfordernisse gar, hat er kein Interesse. Stattdessen schließt er Verträge, gewährt Kredite, egal, was es kostet. Das kann nicht ewig gut gehen, die New Economy Blase ist gerade auch schon mit lautem Knall geplatzt. Wenn es eng wird, muss Finanzvorstand Ahlers, der Mann im Vorstand, der vor lauter Spezialwissen und weil er den ganzen Tag über nichtssagenden Zahlen brütet, überhaupt nicht mehr über den Tellerrand schauen kann, der, der sich doch so ohne jeden Geschmack kleidet, dessen gerundete Gesundheitsschuhe zu allem Überfluss den Teppich in Holtrops Büro auf das Übelste beleidigen, ihn ein ums andere Mal mit geschickten Finanztransaktionen aus der drohenden Insolvenz heraushauen. Aber das nützt alles nichts, Holtrops Stern bei Assperg sinkt, die Bilanzen, die er doch letztendlich verantwortet, sind fehlerhaft (die Kuverts!), das Unternehmen gerät insgesamt in eine Schieflage, eine neue Strategie ist trotz – oder wegen?- seiner manischen Aktivitäten nicht erkennbar und so werden die Stimmen, die sich immer dann zu Wort melden, wenn der Erfolg nachlässt, immer lauter. Mit einer üppigen Abfindung wird er aus den Diensten Asspergs entlassen. Und erfährt nun den Katzenjammer des Nicht-Mehr-Gebrauchtwerdens am eigenen Leib, den er ja, ohne mit der Wimper zu zucken, anderen auch zugefügt hat.

Aber nicht nur Holtrop erscheint uns hier als Gegenteil eines Sympathieträgers, es gibt im ganzen Roman keine Figur, die Identifikationsanlässe geben könnte. Egal wohin der Blick fällt, auf die feine Schönhausener Gesellschaft, die sich so gerne bei Asspergs versammelt, in die Schreibstuben der wichtigen Nachrichtenmagazine der Republik, die Versammlungen der Banker, ganz am Rande auch auf die Politik – es sind die Jahre der rot-grünen Regierung – und natürlich auf die Frauen dieser Männer: Es wird ein durch und durch negatives Bild unserer feinen Eliten gezeichnet, das Sittengemälde einer durch und durch verlotterten, einer zutiefst unsozialen Gesellschaft. Im Grund ist Holtrop hier nur einer von vielen Spielern, nicht einmal ein richtig gewichtiger, gemessen am Privatvermögen gar ein kleiner Fisch, der doch so gerne mit den richtig großen Fischen mit schwimmen möchte. Überall sind sie unterwegs die Speichellecker und Günstlinge, die voneinander Abhängigen – weil der eine etwas Brisantes über den anderen weiß –, die über die kleinen Gefallen, die später auf Heller und Pfennig zurückgefordert werden, auf ewig Verbundenen. Um begründete ökonomische Entscheidungen geht es in diesem Personenkarussel meistens nicht.

Warum soll man solch einen Abgesang auf unsere Führungskräfte lesen? Weil es mehr als eine klammheimliche Freude macht, die manchmal ironisch, manchmal auch mit großem Furor dargestellten Zusammenhänge, die eng angelehnt sind an die Geschichte Thomas Middelhoffs bei Bertelsmann und später Arcandor, nachzulesen, einen Einblick ins Innere zu bekommen, nicht nur ins Innere der Chefetagen, sondern auch ins Innere der handelnden Personen. Weil es außerdem Spaß macht, dem Autor bei seiner auf die Spitze getriebenen Erklärung, seiner manchmal kabarettistisch anmutenden Ausarbeitung der Zusammenhänge zu folgen. Wunderbar die Szene einer Ausstellungseröffnung, bei der der Maler die geladene Haute-Volée im November mit Strandkleidung beehrt, vom strengen Körpergeruch einmal abgesehen; wunderbar, wie der alte Binz, ein großer Filmehändler und Herrscher über einen Fernsehmedienkonzern, Holtrop wie einen dummen Jungen aussehen lässt, wunderbar die Beschreibung einer Beerdigung, bei der Holtrop nicht einmal jetzt ein gutes Haar lässt an dem Toten. Natürlich ist Goetz´ Sicht einseitig, seine Spieler kommen mit reichlich schlichten Persönlichkeiten aus, funktionieren ganz einseitig, sind nur getrieben durch das Ausleben ihrer Macht, das Erlangen von Macht, die Gier nach Anerkennung, die sie eben nicht über Kenntnisse, Fähigkeiten oder einen freundlichen Charakter erwerben, sondern nur über ihre Stellung im Hierarchiegefüge.

Und kennen wir alle nicht aus unseren Büros, Labors und Werkstätten diese vor allem in sich selbst verliebten Machttypen, die hereinkommen und den Raum füllen, auch wenn es nur Unverschämtheiten oder Dummheiten sind, die sie von sich geben? Die mit ihren Heer von Günstlingen durch die Etagen schweben und meinen, nur von ihnen sei der Erfolg des Projekts, der strategischen Ausrichtung, ach, der Erfolg des gesamten Unternehmens abhängig? Und sitzen diese Typen nicht häufig genug an wichtigen Stellen in den Unternehmen, dass sich jeder mit normalem Verstand nur ratlos am Kopf kratzen kann, wie das passieren konnte?

Vor ein paar Tagen berichtete die Presse, dass Thomas Middelhoff nach einem Termin beim Gerichtsvollzieher das Essener Landgericht auf ungewöhnlichen Wegen verlasen habe: „Ich bin wie die Katze übers Dach. Ich musste drei Meter tief auf eine Garage springen, noch einmal drei Meter auf die Straße. Dann habe ich fröhlich pfeifend ein Taxi gewunken (…).“ Er wolle damit, so erklärt er seinen Abgang später gegenüber Journalisten (!), den Journalisten entgehen, die vor dem Eingang auf ihn warteten, weil sie ihn „mit ihren Fotoapparaten abschießen wollten wie Freiwild. Das wollte ich mir und vor allem meiner Familie nicht antun.“ Wenn Rainald Goetz uns diesen Angang Holtrops erzählt hätte, wir hätten sie ihm, Fiktion hin, Roman her, nicht abgenommen.

Rainald Goetz (2012): Johann Holtrop, Berlin, Suhrkamp Verlag

Leonardo Padura: Ketzer

Padura_Ketzer_1Wer einen Schmöker sucht für verregnete – oder gerade auch sonnige – Ferientage, einen üppigen Roman, der den Leser über die Kontinente und durch die Jahrhunderte entführt – in das Havanna von heute und das der 1930er bis 1950er Jahre, nach Amsterdam und bis nach Osteuropa zur Mitte des 17. Jahrhunderts, in Rembrandts Atelier, die Behausungen der Einwanderer und auf die alte Prachtstraße Calle G in Havanna – dem sei Paduras „Ketzer“ empfohlen. Der kubanische Schriftsteller, der sich auch mit kritischen Reportagen über die Missstände in seinem Land einen Namen erworben hat, schickt wieder seinen Ermittler Mario Conde ins Rennen, den ehemaligen Polizisten und jetzigen Jäger bibliophiler Schätze. Doch dieses Mal geht es nicht um einen Mord, sondern um die Suche nach einem Bild Rembrandts, das seit 1939 verschollen ist, nun aber bei einer Auktion in London plötzlich wieder auftaucht. Und nebenbei – oder doch: vor allem – geht es um die Frage, wie viel Freiheit verschiedene Gesellschaften ihren Mitgliedern zugestehen, um individuelle Entfaltungsmöglichkeiten wahrnehmen zu können- und welchen hohen Preis diese Freiheit haben kann.

Zusammengehalten wird diese Zeitreise durch ein Bild Rembrandts, das Porträt eines jungen Juden, das jeder sofort als das Abbild Christus´ erkennt. Indem wir Elias Ambrosius Montalbo de Ávilas durch die Straßen Amsterdams folgen, erfahren wir, unter welchen außergewöhnlichen Umständen das Bild im Amsterdam des Jahres 1648 zustande gekommen ist: Elias Ambrosius ist begeistert von den Bildern Rembrandts. Er kennt sie alle, kann ihre künstlerische Genialität erfassen, erkennt sofort, welche neue Technik Rembrandt angewendet hat, um eine ganz neue Wirkung, einen ganz neuen Eindruck bei den Betrachtern entstehen zu lassen. Und Elias Ambrosius hat den großen Wunsch, selbst Maler zu werden, experimentiert mit ersten Zeichnungen, will selbst lernen, wie es geht, so ein großartiges Bild malen zu können. Aber er ist Jude und seine Gebote verbieten ihm das Malen: „Du sollst dir kein Bildnis machen“. Das stürzt Elias in einen massiven inneren Konflikt, immer wieder setzt er sein tiefes Drängen und Wünschen und sein Talent ins Verhältnis zu dem religiösen Verbot, das ihm immer merkwürdiger vorkommt, immer einengender.

Elias hat in Menasse ben Israel einen unkonventionellen Lehrer, der, seiner modernen Ideen wegen, vom Rabbinerrat, dem er allerdings auch weiterhin als gemäßigte Stimme angehört, in die zweite Reihe zurückbeordert worden ist. So findet ben Israel nicht nur, dass jeder Tag ein „außergewöhnliches Geschenk sei“, das man „Stück für Stück genießen müsse“, sondern ist auch der Meinung, dass ein Nachlassen der Wünsche und Sehnsüchte zum Tod führe, während das Leben es erfordere, im Hier und jetzt zu leben und sich der Fülle der Möglichkeiten und der Einzigartigkeit des Lebens immer bewusst zu sein. Und über die Freiheit des Menschen, über seine Möglichkeit, sich zwischen verschiedenen Alternativen entscheiden zu können, sagt er, dass sie das

oberste Recht des Menschen sein (müsse), da es ihm vom Schöpfer von Anbeginn der Welt verliehen wurde, zu seiner Rettung oder zu seinem Verderben, aber immer zu seinem Gebrauch. (…) Der Weise muss stets so handeln, wie es ihm seine Intelligenz vorschreibt, denn nicht umsonst hat der Schöpfer dem Menschen diese Fähigkeit verliehen. (S. 260/S. 262)

Natürlich findet Elias bei Menasse ben Israel, dem modernen Denker – oder dem ketzerischen? -, der ja schon Kants Leitspruch „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ vorwegnimmt, Unterstützung für sein Vorhaben, nicht nur religionsphilosophisch, sondern auch ganz tatkräftig, denn durch ben Israels Vermittlung bekommt Elias tatsächlich einen Platz als Schüler bei Rembrandt. Und im Laufe der nächsten Jahre lernt er dort nicht nur die Künste des Malens, sondern sitzt seinem Lehrer auch Modell, als der nämlich ein Christusbild, „der Natur nach“ malen möchte.

So offen die Amsterdamer Gesellschaft in dieser Zeit ist, so frei wie Juden hier in der Stadt ihrer Religion und ihren Geschäften nachgehen können, Juden, die in Spanien und Portugal konvertieren mussten, mit dem Tode bedroht oder – meistens mittellos – ins Exil vertrieben wurden, so exakt wacht der Rabbinerrat darüber, dass alle Mitglieder der Gemeinde die Gesetze streng befolgen; er befürchtet, dass die Verlockungen der liberalen Amsterdamer Gesellschaft das ein oder andere Mitglied der jüdischen Gemeinschaft auf den falschen Pfad leiten könnte. In dieser Umgebung muss Elias schließlich seine Entscheidung treffen: Will er ein Leben leben, das seinen Talenten entspricht, seinen Möglichkeiten, sich zu verwirklichen, ein erfüllendes aber unsicheres Leben, ein Leben als Ketzer? Oder will er sich in die Gemeinschaft fügen, den Geboten folgen, Miriam heiraten, die Druckerei seines Vaters übernehmen und in Sicherheit leben?

Viele Jahre später steht 1939 Daniel Kaminsky, ein neunjähriger Junge, an der Hand seines Onkels Joseph am Hafen von Havanna und blickt auf die St. Louis, das Schiff, das aus Hamburg kommend über 900 Juden nach Kuba und in Sicherheit bringen soll. Eine Woche liegt das Schiff vor der Insel, Delegationen fahren zum Schiff und wieder weg, Verhandlungen werden geführt über weitere Zahlungen, damit die Passagiere, die schon in Berlin ein Visum gekauft haben, doch endlich an Land gehen können, Verhandlungen zwischen der kubanischen und us-amerikanischen sowie der kanadischen Regierung werden geführt. Am Ende hat alles Hoffen und Bangen, hat alles Beten in der Synagoge nichts genützt, die St Louis wird nach Europa zurückkehren, an Bord auch die Eltern Daniels und seine Schwester. Über dieses Erlebnis verliert Daniel seinen Glauben und ein paar Jahre später trifft er sogar die Entscheidung, sich von dem jüdischen Glauben und der jüdischen Gemeinde auch ganz öffentlich lossagen zu müssen.

Und dann ist da noch Judy, eine junge Kubanerin zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Auch sie trifft eine Entscheidung, wie sie leben will, jedenfalls nicht so, wie die aus ihrer Sicht gescheiterte sozialistische Gesellschaft es von ihr verlangt. Sie wird Emo, auch eine Art Ketzerei, gefällt sich im Depremiertsein und in ihrer auffälligen Kleidung, liest Nietzsche und probiert Drogen und dann verschwindet sie plötzlich und es wird Mario Condes Aufgabe, sie wiederzufinden.

Padura erzählt uns die Schicksale verschiedener Menschen aus drei Jahrhunderten und lotet dabei die Möglichkeiten und Gefahren der Freiheit aus. Das liest sich manchmal wie ein philosophischer Diskurs, viele Ideen der Aufklärung sind schon zu erkennen. Zusammengehalten werden die drei Geschichten über das Bild Rembrandts, das Porträt eines Juden, der aussieht wie Christus, das Bild, bei dem ganz offensichtlich ein Ketzer Modell gesessen hat. Dieses Bild geht abenteuerliche Wege, gelangt schon Mitte des 17. Jahrhunderts nach Krakau und dort in die Hände der Familie Kaminsky, die es jahrhundertelang unter Verschluss hält, und dann im 20. Jahrhundert schätzen lässt. Als die Eltern Daniels sich zur Auswanderung entschließen, ist das Bild ihre Versicherung, denn es ist so wertvoll, dass ein Verkauf jede Türe öffnen sollte. Dass das Bild dann tatsächlich mit der St Louis nach Havanna gekommen ist, die Eltern aber zurückgeschickt worden sind, das erfährt Daniel erst fast zwanzig Jahre später durch Zufall. Und dann taucht das Bild wieder 2007 auf, in London. Bei den Ermittlungen zur Frage, wie das Bild 1939 nach Kuba und nun nach London gelangt ist, erfährt Conde die Geschichte der Familie Kaminsky.

Paduras Roman ist sicherlich kein Krimi, dafür ist er thematisch zu vielschichtig, aber er ist mit Blick auf die Figurenkonzeption und die Art des Erzählens auch keine ganz große Literatur. Trotzdem ist der Leser nicht nur sehr gut unterhalten, sondern taucht auch noch einmal tief ein in die Diskussion darüber, wer weiß, was gut und richtig ist für den Einzelnen (die religiösen Führer, die sich mit ihren Ideologien bis heute immer wieder lautstark zu Wort melden, oder auch politische Ideologien?). Es gelte doch, so schreibt Elias Ambrosius in einem Brief an Rembrandt – und es liest sich fast wie Kant kategorischer Imperativ – „die Menschen toleranter gegenüber dem freien Willen anderer zu machen, solange diese Freiheit dem Nächsten nicht schadet.“

Leonardo Padura (2014): Ketzer, Zürich, Unionsverlag

Weitere Besprechungen findet Ihr bei auch bei Vera und Gérard.

Marlene Streeruwitz: Nachkommen.

Streeruwitz_2Was soll Literatur leisten in Zeiten der wirtschaftlichen Krise? Hat sie eine besondere Aufgabe in einer bedrängenden Situation, die Finanzkrise genannt wird, tatsächlich aber Familien bis zur Mittelschicht in ausweglose Armut stürzt, so als ob ein Krieg herrscht, Reich gegen Arm? Nelia Fehn, die zwanzigjährige Protagonistin dieses Romans, hat die Auswirkungen der Krise in Griechenland besichtigt, sie hat in einer Athener Familie gesehen, wie schnell der wirtschaftliche Abstieg gehen kann, durchaus unter tätiger Mitwirkung von nationaler und internationaler Politik und der Verwaltung:

Die Ohnmacht, wie die eigenen Politiker einen morden. Das Schleichende an den Morden. Langsam und stetig. Die himmelschreienden Ungerechtigkeiten. Die Polizei, die den Eliten alles ermöglichte und den Bürgern die Füße zerschlug. (…) Es war eine ungeheure Schnelligkeit in diesem zähen Niedergang. Jede Stufe hinunter. Da blieb gar keine Zeit. Nicht einmal Zeit für wirklich lautes Schreien. Ein kurzer Ausruf und schon der nächste Schmerz. Das ist also mein Leben, musste man da rufen und schon den nächsten Verlust verbuchen und um Luft ringen. (S. 92)

Über ihre Reise nach Griechenland hat Nelia einen Roman geschrieben („Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland“) und sie hat es damit auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis geschafft. Nun reist sie zur Buchpreisverkündung nach Frankfurt, durchaus mit gemischten Gefühlen. Sie hofft und wünscht, den Preis zu bekommen, denn dann könnte sie die Operationen bezahlen, die notwendig sind, damit Marios, ihr Freund in Athen, dessen Füße bei einer Demonstration von der Polizei zertrümmert wurden, wieder laufen kann. Sie ängstigt sich aber auch davor, den Preis – wahrscheinlich ja – nicht zu bekommen und wie eine Verliererin dazustehen, eine, die es nicht wert ist, ausgezeichnet zu werden, die nur aus marketingopportunen Gründen vorgeführt wird, als Fräulein-Wunder und als Tochter der verstorbenen Schriftsteller-Mutter. Und sie hat, nicht zuletzt durch den genau sezierenden Blick ihrer Mutter, die die Mechanismen der Buchbranche genau durchschaut hat, längst erkannt, was der Rummel um den Buchpreis und die Buchmesse für ein Panoptikum ist: Unter dem Deckmantel der Hochkultur ist eben doch vor allem ein Markt der Eitelkeiten, der Selbstgefälligkeiten, der Angeberei und sogar des unverhohlenen Hasses zu besichtigen. Trotz ihrer Kritik an dieser Veranstaltung nimmt sie aber teil, sie will sich die Chance auf den Sieg, auf jeden Fall das Preisgeld für die Nominierung auf der Shortlist, erhalten – das sei, so erklärt sie es, ihre Art von freier Entscheidung.

Die Buchmesse und die Erlebnisse rundherum, die immer wieder als kontrastreiche Folie ihrer Erinnerungen an die so ganz anderen Verhältnissee in Athen dienen, sind aber nur eine Facette des Romans. So lässt sich der Roman viel mehr noch als Kritik am Buchpreis- und Buchmessegewese – auch wenn der biografische Bezug zur Autorin Streeruwitz für manche ein willkommener Anlass ist, diesen Bezug deutlich herzustellen – als Entwicklungsroman lesen. Diese Tage in Frankfurt, dessen ist sich Nelia deutlich bewusst, sind eine Art Scharnier zwischen ihrem „alten“ Leben als ungewolltes und spätes Enkelkind, das nach dem Tod der Mutter in der (Großeltern-)Familie in Kaiserbad bei Wien Aufnahme findet, dafür aber mit den gleichen Ressentiments zu kämpfen hat, wie schon ihre Mutter, deren Lebensstil eben nicht gefiel. Der Großvater, derjenige, der zwar nicht herzlich und liebevoll gewesen ist, immerhin aber dafür gesorgt hat, dass sie zum Gymnasium gehen konnte – und das ist für eine Halbwaise mit nicht mehr zahlendem Vater wohl nicht selbstverständlich – und ihr außerdem immer wieder Geld zugesteckt hat, ist gerade gestorben. Unter dem Regime der verhärmten Großmutter und der missgünstigen Tanten und Onkel wird das Leben in Zunkunft noch unerträglicher werden, zumal sie sich nun ja entschieden hat, zur Feier des Buchpreises nach Frankfurt zu fahren, statt am gleichen Nachmittag zur Beerdigung des Großvaters zu gehen. Zu dieser Familie will Nelia nicht zurück, sie weiß aber auch noch nicht genau, wie es für sie weitergehen soll nach der Buchmesse, was sie anfangen soll mit dem „neuen“ Leben, das momentan auch von finanziellen Problemen gekennzeichnet ist.

Die Buchmesse, diese Zwischenzeit, wird für sie aber auch noch einmal eine Reise zu den Wurzeln ihrer Identität, denn immer wieder wird sie hier, wo ihre Mutter auch gewesen ist, konfrontiert mit den Erinnerungen der Kritiker, Verleger und Leser, immer dann, wenn sie Nelia sagen möchten, wie sehr sie die Arbeit der Mutter geschätzt haben. Dann steigt ihr das Schluchzen so unmittelbar vom Bauch in die Kehle, dann rinnen die Tränen, dann werden ihr ihr großer Verlust und ihre Einsamkeit deutlich bewusst – und sie muss ganz schnell fliehen, um nicht vor ihrem Gesprächspartner die Fassung zu verlieren.

Und es meldet sich auch ihr Vater, ein Professor, den sie nur als denjenigen wahrgenommen hat, der monatlich bis zu ihrem 18. Geburtstag Geld überwiesen hat; ihre Mutter hat alles Erdenkliche unternommen, um die beiden fern voneinander zu halten. Nun will er Nelia treffen, lotst sie in sein Haus, versucht mit ihr ins Gespräch zu kommen. Die Versuche des Redens, des Kennenlernens scheitern erwartungsgemäß, auch weil er schnell zugibt, was Nelia schon von ihrer Mutter weiß, dass er nämlich dieses Kind gar nicht haben wollte, wieder einmal ist sie ungewollt. Aber hier bei ihrem Vater mehren sich Hinweise, dass auch ihre Mutter nicht immer ganz ehrlich gewesen ist, dass es da etwas gibt i Leben ihrer Mutter, von dem die Tochter nichts weiß. Und so kommt es, ausgerechnet bei der privaten Feier anlässlich der Buchmesse, die ihr Vater in jedem Jahr in seinem Haus veranstaltet und bei der sich die Kritiker und Professoren die Ehre geben zur großen Auseinandersetzung zwischen Nelia und ihrem Vater.

„Nachkommen.“ hat Marlene Streeruwitz ihren Roman genannt und stellt so Nelias Perspektive auf die Welt deutlich in den Vordergrund. Mit welchen Fähigkeiten, mit welchen Geschicken, mit welchem Zutrauen schicken die „Vorfahren“, die Mutter, der Vater, die Großeltern, Nelia in die Welt, welche Verantwortung hat jeder von ihnen dabei übernommen? Wie kann es sein, dass Nelia nun, bei ihrem ersten großen Erfolg, frierend, hungernd, vor allem einsam und mit vielen depressiven Gedanken durch Frankfurt läuft? Und weiter: Welche Welt wird Nelia und ihrer Generation hinterlassen, welche Verantwortung haben da die Älteren mit Blick auf gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Fragen übernommen? Nelia hat zu den Zuständen in ihrer Familie und denen in der Welt eine klare Meinung: Sie kritisiert die wirtschaftlichen Verhältnisse erst gar nicht, sie lehnt sie ab: „Ich lehne jede Verantwortung für alle diese Erbschaften ab, mit denen ich belastet werden.“

Marlene Streeruwitz hat einen fulminanten Roman zur aktuellen Situation geschrieben, zur Frage, wie junge Menschen sich in dieser Welt, die die Älteren ihnen überlassen, zurechtfinden, welche Meinung sie haben, in welche Fehlurteile sie sich aber auch verrennen. In der Geschichte Nelias verknüpft Streeruwitz geschickt die familiären mit den gesellschaftlichen und politischen Fragen. Der innere Monolog Nelias, der durch den durchgängig eliptischen Satzbau eindringlich verfasst ist, nimmt den Leser mit, zeigt, wie schnell sich bei ihr Wut, Ängstlichkeit, scharfe Beurteilungen, Freude und Stolz, aber auch große Depremiertheit ablösen. Am Ende der drei Tage aber hat Nelia etwas über die Entscheidungen ihrer Mutter gelernt.

Hinter Nelias Geschichte lotet Streeruwitz auch immer wieder die Facetten des Tanzes um Geld und Macht aus. Dabei schlägt sie den Bogen von Boccaccios „Decamerone“ bis zur Familie des einundzwanzigsten Jahrhunderts, von unzuverlässigen stillen Teilhabern, die sich ihren Geldsegen auch mit bizarren Forderungen entgelten lassen – und zu Nelia sprechen sie ganz unverhohlen als ihrem „Investitionsobjekt“-, bis zu den Türmen der Deutschen Bank, die mit ihrem Logo („Wachstum in einem kontrollierten Umfeld“) und ihrem Slogan („Leistung aus Leidenschaft“) zu einer neuen, modernen Dreifaltigkeit werden. Dabei verläuft die Kampflinie keineswegs zwischen den Geschlechtern, denn Geld und Macht entfalten ihre korrupte Kraft offensichtlich auch über diese Grenze hinweg.

Und natürlich hat Nelia zur Aufgabe der Literatur in diesen Zeiten und diesen Verhältnissen eine ganz eindeutige Meinung, auch wenn sie nicht an die Wirkmacht der Literatur glaubt. Sie fordert eine engagierte Literatur, eine Literatur, die sich ganz klar auf die Seite der Benachteiligten stellt:

Vielleicht ist es eine Suche nach Lebendigem. Literatur. Das ist eine antistatistische Maßnahme. Eine antidatensammlerische Maßnahme. Da verbinden sich Daten zu einer konkreten Geschichte und nicht zu einer Tabelle. Literatur kann der Person gerecht werden.“ Sie musste Luft holen. Hatte sie das ausdrücken können. Hatte sie damit sagen können, dass es um die Verzweiflung ging. Um die Ohnmacht. Um das Untergehen in Maßnahmen und wie keine Gegenwahr mehr möglich war. Wie das war, regiert zu werden in bösen Zeiten. (S. 321)

Marlene Streeruwitz hat einen Roman geschrieben, der diese Anforderungen nachkommt. Was Nelia genau damit meint, wie sie ihre Idee von Literatur umgesetzt hat, das können wir im September nachlesen, wenn ihr Roman „Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland“- wohl unter der Mithilfe von Marlene Streeruwitz, so verrät es das Buchcover auf der Seite des Verlages – erscheint. Und erste Rezensenten schmunzeln schon über den Coup der Autorin, der dazu führen kann, dass sie beim kommenden Buchpreis gemeinsam mit ihrer Romanfigur auf der Longlist, vielleicht gar auf Shortlist stehen könnte. Dass zumindest „Nachkommen.“ es bis auf die Shortlist schafft, das ist jedenfalls zu hoffen.

Marlene Streeruwitz (2014): Nachkommen., Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag

Pingback: Marlene Streeruwitz – Sammlung verfügbarer Rezensionen zu „Nachkommen.“

Heinrich Steinfest: Der Allesforscher

Steinfest_2Wale scheinen gerade in der Literatur groß in Mode zu sein. Einmal schwimmt einer titelgebend durch London, einmal strandet einer nach einem Unwetter auf einem Dorfplatz in Island. Auch Heinrich Steinfest setzt in seinem Roman „Der Allesforscher“ auf den Wal. Bei ihm erscheint der Wal in modernen Versionen, trotzdem aber mit deutlichen Bezügen zur biblischen Jonas-Geschichte. Um einen Auftrag scheint es auch hier zu gehen, um ein Überleben – ein Wiedergeborenwerden ?- in stürmischer See und um die Frage nach Schicksal und Zufall.

Steinfests Geschichte fängt damit an, dass sein Protagonist Sixten Braun ein Organ eines gestrandeten Wals, der beim Transport durch die Innenstadt von Tainan, einer Stadt im Süden Taiwans, explodiert, so unglücklich an den Kopf bekommt, dass er mit einem Schädel-Hirn-Trauma in einem Krankenhaus landet. Sein Zwei-Tages-Koma wird dort von der deutschen Gehirnspezialistin Dr. Lana Senft fachkundig betreut – und natürlich verliebt sich Sixten beim Erwachen postwendend in sie. Vielleicht passiert dies, so erklärt er es sich, weil sich durch das explosionsartig durch die Luft gesauste und vor seinem Schädel gelandete Walorgan doch einige Regale verschoben hätte, „weil ein Schwärmer war ich nie gewesen“. Jedenfalls betreibt er, der in Deutschland verlobt ist und vorhat, demnächst zu heiraten, seine Annäherungen an Frau Dr. Senft ziel- und planvoll – und durchaus mit Erfolg. Obwohl Dr. Senft lieber beim „Sie“ bleibt und sich auch nicht ausziehen möchte, schlafen sie miteinander. Und weil Sixten, der im Auftrag des IT-Unternehmens Weyland in Asien unterwegs ist, Lana unbedingt wieder sehen möchte, vereinbart er mit seinem Chef, dass er nach einer Besprechung in Japan noch einmal nach Taiwan zurückkehren kann.

Und nun kommt es zu einem zweiten folgenschweren Unglück: Die Maschine, in der Sixten auf dem Rückflug von Japan sitzt, stürzt in einem schweren Unwetter im chinesischen Meer ab. Durch die unwahrscheinlichsten Umstände überlebt Sixten den Flugzeugabsturz. Zum Beispiel, weil er in der Nähe des Hüllenbruchs sitzt und sich im Moment des Herausgespültwerdens aus dem Flugzeug an seinen Nachbarn klammert, der, im Gegensatz zu ihm, seine Schwimmweste trägt. Sixten, der irgendwann im Besitz wahrscheinlich genau dieser Schwimmweste ist, wird im stürmischen Wasser an eine Forschungsboje getragen, die da unbemannt im chinesischen Meer Sicherheit und Rettung bietet. Am nächsten Tag wird er von dieser Boje geborgen (schon wieder das Bild eines Wals, aus dessen Bauch Sixten nach dem Unwetter unversehrt steigt!), nunmehr tatsächlich als einziger Überlebender.
Sein Chef, der ihn umgehend nach Deutschland zurückbeordert, erkennt das zweimalige Überleben einer Katastrophe als Zeichen; er will ihn fortan in Köln in der Produktanalyse einsetzen und auf keinen Fall mehr um die Welt reisen lassen:

Wenn jemand so oft zur falschen Zeit am falschen Ort ist, zeugt das entweder von seiner Unfähigkeit, Katastrophen auszuweichen, oder es zeugt davon, dass er von Gott gestraft ist – und von Gott gestrafte Menschen haben bei Weyland eigentlich nichts verloren.(S. 76)

Vielleicht hätte Sixten an dieser Stelle einmal über die Überlegungen seines Chefs nachdenken sollen. Da aber Lydia und seine Schwiegereltern die einzigen Menschen sind, die sich freuen, dass er nun zweimal ein Unglück überlebt hat, bringt er auch nicht mehr die Energie auf, die Verlobung zu lösen. Statt dessen heiratet er, steigt ins Unternehmen seines Schwiegervaters ein – und steht ein paar Jahre später vor dem Nichts, als seine Frau sich von ihm trennt, er habe sie ja sowieso nie geliebt. Und nun trifft Sixten die erste und einzige Entscheidungen in seinem Leben: Er zieht nach Stuttgart – und wählt einen neuen Beruf:

Am Ende meiner Überlegungen schälte sich ein markantes Bild heraus: nämlich ein Mann zu sein, der im Meer nicht untergegangen war. Wäre es da nicht besonders passend, wenn ich in Zukunft versuchte auch andere vor dem Untergehen zu bewahren? Indem ich…
Es war ein Wunsch aus Kindertagen. Ich hatte die Bademeister immer so bewundert, in ihrer strahlend weißen Kleidung, mit goldbrauner Haut. (S. 88)

Und so wird er Bademeister im Bad Berg. Und statt im Flugzeug durch Asien zu jetten, immer auf der Suche nach dem billigsten Anbieter von PC-Platinen, bewacht er nun die Schwimmer im Bad, wirklich vor dem Ertrinken retten wird er nur eine Ente. Und so dümpelt sein Leben in den nächsten Jahren vor sich hin, bis er einen Anruf bekommt von Kerstin Heinsberg vom taiwanesischen Konsulat in München, er möchte doch bitte seinen Sohn abholen, die Mutter, Frau Dr. Senft, sei verstorben. Die Anruferin weiß Sixten so geschickt um den Finger zu wickeln, dass er tatsächlich nach München fährt, obwohl er sich ganz sicher ist, dass das nie und nimmer sein Kind sein kann, der Verhütung sei Dank. Und tatsächlich: das Kind hat eindeutig asiatische Gesichtszüge, bei zwei deutschen Eltern ist das schlecht möglich. Aber auch die Adoption des Kindes ist schließlich kein Problem, besser es lebt bei einem allein stehenden Vater, als in einem taiwanesischen Kinderheim.

Mitunter kam mir der Gedanke, Heinsberg hätte in einer irren Weise etwas damit zu tun, daß mir viele Jahre zuvor ein toter Pottwal in die Quere gekommen war, der aber auf eine bakterielle Weise noch lebendig gewesen war und mich praktisch mit einem allerletzten Akt in ausgerechnet dieses Tainaner Krankenhaus befördert hat.
Es gibt keine Zufälle. Den Glauben an die Zufälle hat die Aufklärung abgeschafft, um die weißen Flecken auf der Landkarte des Lebens zu füllen.“ (S. 128)

Dem nicht an Zufälle glaubenden Sixten stellt Steinfest einen taiwanesischen Kosmetikhersteller gegenüber, Auden Chen. Auden fängt nach einem Chemiestudium an, Kosmetika aus rein natürlichen Inhaltsstoffen zu entwickeln, denen nicht nur eine Art Jungbrunnen, sondern auch ein Aphrodisiakum, ach, ein Fruchtbarkeitszauber sogar, innezuwohnen scheint, was die gesamte Kosmetikbranche höchst alarmiert auf den Plan ruft. Auch Auden hat eine besondere Affinität zu Bergen (!). Er wird Sixten später treffen – auf einem Berg natürlich.

Steinfest erzählt Sixtens Geschichte von Anfang an rasant, witzig, überraschend. Spannende Geschichten mit schnellen Handlungen kann er schreiben, Personen, gerade nicht die sympathischen, mit schnellem Federstrich wunderbar skurril karikieren. Und er erzählt im ersten Teil seines Romans eine so verblüffende, wie merkwürdige, trotzdem aber Interesse weckende Geschichte, die eben viele mythische Elemente hat, die etwas bedeuten könnten. Im zweiten Teil aber treten weitere merkwürdige Figuren auf, ein Messerwerfer, eine ältere Pianistin mit stark zitternden Händen, Frauen, die eine Berghütte in Form eines Matriarchats führen, ein Hund, der einfach wegläuft. So wird auf merkwürdige, manchmal nicht nachvollziehbare Weise die Handlung vorangetrieben. Und immer wieder spielt der Junge eine Rolle, Sixtens Adoptivsohn, der so gut klettern und zeichnen kann – ist er es, von dem die vielen Zeichnungen auf dem Buchcover und am Rand der Seiten stammen?- , dass er mit Blick auf sein Alter als Genie gelten muss. Allerdings macht dieses Wunderkind keine Ansätze, statt seiner eigenen Sprache, die offensichtlich einzig ist auf der Welt, auch nur ein Wort Deutsch zu lernen.

Neben der Walgeschichte erscheint der Berg in verschiedenen Ausprägungen als immer wiederkehrendes Motiv – und in den Bergen kann Sixten dann auch endlich mit Hilfe ganz besonderer Träume, nun kommt auch noch ein bisschen Psychoanalyse ins Spiel, die Verwicklungen seiner Lebensgeschichte entwirren. Die Walgeschichte, der Mythos des Wiedergeboren-Werdens, der merkwürdige Junge mit den wunderlichen Talenten – soll er der Allesforscher sein? – das Motiv des Berges, psychoanalytische Klärungen, all dies überfrachtet den Roman völlig. Besonders problematisch ist dann auch, dass der Romans vor allem über die Handlung funktioniert. Die Figuren sind zwar alle mit sehr vielen schrulligen Besonderheiten ausgestattet, aber eben nicht als vielschichtige Charaktere angelegt. Und so klappt der Leser am Ende, trotz der spannenden Frage nach Zufall oder Schicksal – die ja eigentlich vom Weyland-Chef schon ganz am Anfang geklärt wurde – enttäuscht das Buch zu.

Heinrich Steinfest (2014): Der Allesforscher, München, Piper Verlag

Zsófia Bán: Als nur die Tiere lebten

Ban_2„Als nur die Tiere lebten“ ist für die dreijährige Anna der Ausdruck dafür, dass etwas aus einer Welt stammt, in der es noch keine Menschen gab, dass etwas also „sehr lange“ her ist – und dabei ist das Gestern durchaus mit eingeschlossen. Und tatsächlich erzählt Zsófia Bán fünfzehn Geschichten aus verschiedenen Zeiten, von verschiedenen Orten, von verschiedene Menschen und nimmt so den Leser mit in eine Zeit, als nur die Tiere lebten.

Da freut sich Maja zum Beispiel schon seit langem auf das Rolling-Stones-Konzert am 18. August 1990 in Prag. Deutlich sichtbar hängen zwei Karten an der Pinnwand, die endlich, endlich den Jugendtraum in Erfüllung gehen lassen,

dass es einmal, in einer anderen Welt, auf einem anderen Planeten, einem anderen Sonnensystem ein Stones-Konzert geben wird, das sie besuchen können, und dann werden sie gerettet sein, dann werden sie davongekommen sein. Wie wenn die Titanic mit dem Eisberg kollidiert, und, o Wunder, nicht die Titanic, sondern der Eisberg untergeht. (S. 46)

Die andere Welt ist nun da, dafür braucht Maja gar nicht den Planten zu verlassen und in ein anderes Sonnensystem zu reisen. Auch die Erinnerung an Panzer, die an den Straßenecken stehen, gehören zur Vergangenheit. Das Rolling-Stones-Konzert also steht symbolisch für alles, was sich verändert hat, für die Erfüllung aller Jugend- und Erwachsenenträume. Aber Erika, die Freundin, für die die zweite Karte ist, sagt ab – und für Maja bricht eine Welt zusammen. Dass die Welt möglicherweise gerade an einer ganz anderen Stelle in ihrer Familie zusammenbricht, das kann sie nun in ihrem übergroßen Kummer gar nicht wahrnehmen.

Da versucht sich, in einer anderen Geschichte, Katalin an ihre Kindheit, ihre Jugend zu erinnern. Sie ist weggegangen aus Ungarn; im Frühjahr 1958 ist sie, eine Pianistin, von einer Auslandstournee nicht nach Hause gekommen. Eine ganz und gar unglückliche Liebe hat sie da schon zwei Jahre hinter sich und sie will nie mehr wieder etwas mit der Musik zu tun haben, die sie so an diese Liebe erinnert. Katalin ist nach Brasilien ausgewandert, hat sich in einem Hutsalon probiert, dann Musikinstrumente verkauft, davon verstand sie schließlich etwas – und die brasiliansiche Musik ist so weit enrfernt von der klassischen, die sie in Europa gespielt hat, dass sie sie nicht an ihr Unglück erinnert. Nach diesen vielen Jahren aber hat sie erkannt, dass ihr etwas fehlt im Leben, nämlich die völlig verdrängten Erinnerungen an Budapest und die Menschen dort:

Ich habe mein Zehnmillionen-Land verlassen. Ich habe die Erde gesehen. Ich habe die Jahrzehnte gelebt. Die Zeit hat mein Gesicht in eine viereckige Form gegossen. Aber ich habe keine Erinnerung mehr. (S. 54)

Nun erprobt sie verschiedene Wege sich zu erinnern: Sie versucht es, indem sie die verschiedenen Gerüche Budapests erinnert, den „charakteristischen Verwesungsgeruch des Mülls der Vergangenheit“ oder den „Glücksgeruch der unter der Theke herausgereichten, nicht existenten Waren“. Sie versucht es über das Sehen, das Schmecken und das Tasten. Nichts funktioniert richtig, bis ihre Schwester Marcsi sie überredet, sie zu einem Wohnzimmer-Konzert zu begleiten – und die Musik dort alle Dämme bricht.

Zsófia Bán erzählt ihre Geschichten auf eine ganz unnachahmliche Art und Weise. Jede beleuchtet ein Stück des Lebens seiner Protagonisten, zeigt sie meistens in einer schwierigen, einer aufwühlenden Situation – mehrere erzählen von unglücklichen Lieben, mehrere von dem schwierigen Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, eine von der Geburt eines Kindes, eine von einer Mutter nach einem Autounfall, bei dem wahrscheinlich der Sohn gestorben ist, eine von der Ankunft in Brasilien und den samstäglichen Ausflügen in den Schlangenzoo, in einer versucht eine verzweifelte alte Frau, ihre Organe zu verkaufen, ihre Rente reicht eben vorne und hinten nicht.

Und immer wieder ist auch vom Fotografieren die Rede, von Bildern und Filmen und wie es ist, sie zu betrachten. „Ein Bild hat ein eigenes Gedächtnis“, wird da in der Erzählung der „Kurzen Geschichte der Fotografie“ festgehalten, denn allein das Bild weiß, was vor und was nach dem Fotografieren passiert ist. Der Betrachter dagegen sieht nur diesen eingefrorenen Moment. Es ist dies das poetische Prinzip der Erzählungen, dass, ausgehend vom Betrachten eines Bildes eine Geschichte entwickelt wird, wie das Vorher und das Nachher gewesen ist oder wie es hätte sein können für die Personen auf der Fotografie. Auf diese Weise entstehen Erzählungen, die, auch wenn sie nur die unmittelbaren Geschichten rund um das Foto erzählen sehr vielschichte Leben vor unserem Auge entstehen lassen, von Menschen, die, trotz aller Widrigkeiten, in der sie sich befinden mögen, einen großen Überlebenswillen besitzen. Die fünfzehn Erzählungen also wirken für sich – und zum Lesegenuss trägt auch die besondere Sprache Báns bei, diese Fülle von überzeugenden, anregenden, anschaulichen und überraschenden Bildern, von besonders kunstvollen Formulierungen.

Aber es passiert etwas Weiteres, während man die Geschichten liest: Plötzlich fangen sie an, ein Eigenleben zu führen. Da beginnt sich ein Hinweis in der einen Geschichte auf eine Bemerkung in einer anderen zu beziehen, da taucht ein Name auf, den man schon einmal gelesen hat, ein Motiv auf einem Foto, das schwarz-weiße mit dem gezackten Rand, wird ein paar Mal erwähnt, über einen Vater mit einer Kamera ist zu lesen, immer wieder sind da die Erinnerungen an eine Mutter mit der Schemtterlingssonnenbrille. Legt man dann das Buch zur Seite, so spinnen sich die Geschichten weiter fort, verbinden sich miteinander, bilden kleine Netze, die sich zu größeren zusammenschließen. Und nimmt man das Buch erst noch einmal zur Hand, blättert darin, liest an dieser Stelle oder an einer anderen, so ergeben sich noch weitere Bezüge und bilden auf einmal Geschichten von ein oder zwei Familien über mehrere Generationen ab.

Einmal erzählt Anna, eine Erzählstimme, der gleich meherer Geschichten zugeordnet werden können, dass sie neben den Fotos, die ihr Vater immer mit seiner Leica gemacht habe, nun auch die Filme gefunden habe, die ihr Vater gedreht hat, als sie ein Kind war. Wie es sich „für einen vorsichtigen Altwarenhändler gehört“, so erzählt sie, habe sie die Filme auf Video kopieren lassen, „so, wie sie hintereinander kamen, in einer vom Zufall bestimmten Reihenfolge, ohne zu betrügen, mit Leichtigkeit“. Und so, wie diese Filme in der nicht chronologischen Reihenfolge hintereinander zu sehen sind, so, wie Anna die „richtige“ Ordnung der Filme erstellen muss, so ist beim Lesen der Erzählungen Báns der Leser gefordert, die dekonstruierten Lebensgeschichten wieder zu rekonstruieren. Das ist fordernd, an einigen Stellen auch überfordernd, aber eine ganz spannende und fast selbstständig sich entwickelnde Detekivarbeit, die Zsófia Bán hier so klug angelegt hat.

Letztendlich entwickelt sich vor den Augen des Lesers die Geschichet einer Familie (oder mehrerer Zweige einer Familie) fast über ein ganzes Jahrhundert. Die Geschichten zeigen die privaten Tragödien der Menschen, immer aber auch vor dem Hintergrund der politischen Umstände, des Kriegs und des Holocaust, des Sozialismus, des Weggehens aus Ungarn, des Fliehens, der Rückkehr, der Wende und ihrer Folgen. Und so entsteht vor dem Auge des Lesers ein unglaublich komplexes Bild, das viel komplexer ist, als die Geschichten dies einzeln ermöglichen können. Und plötzlich macht alles einen Sinn, auch der fehlende Verweis des Verlags, um welche Gattung es sich bei diesem Text handelt und sogar das merkwürdige Bild einer Schnee- und Eislandschaft, die weder nach Ungarn noch Brailien passt, auf dem Schutzumschlag.

Wer also in den Familienfotos blättert, egal, ob diese chronologisch und jeweils beschriftet in ein Album geklebt, oder chaotisch in einer Pappschachtel gesammelt wurden, wer also in eine Zeit eintaucht, „in der nur die Tiere lebten“, der kann die auf den Bildern nicht sichtbaren Teile des Eisbergs erinnern – oder sich diese auch ausmalen.

Zsófia Bán (2014): Als nur die Tiere lebten, Berlin, Suhrkamp Verlag

Mukoma wa Ngugi: Nairobi Heat

Ngugi_2Ishmael ist Kriminalkommissar in Madison in Wisconsin. Wenn er gefragt wird, warum er Polizist geworden ist, dann erklärt er es damit, dass er ein Rebell sei. Er habe rebelliert gegen den Konformitätszwang, dem sich die Schwarzen unterwerfen, die sich in der amerikanischen Mittelklasse etablieren wollen. Nein, so ein angepasstes, langweiliges Leben, ein Leben als Professor-Roboter mit jährlich gleichen Vorlesungen an einer Universität, das wollte er nicht. Und tatsächlich, als Polizist fühlt er sich mehr als er selbst, als er es sonst hätte sein können. Dabei hat seine Frau ihn genau wegen dieses Berufs verlassen. Nicht, weil er gefährlich ist oder Ishmael ständig Überstunden gemacht hat, sondern weil sie ihn als Verräter sieht, als Verräter gegen seine eigene Rasse, denn Ishmael ermittelte durchaus auch gegen schwarze Kriminelle.

Mukoma wa Ngugi skizziert zügig die Gemengelage, in der der Ich-Erzähler Ishmael einen Mord aufklären muss. Es ist die Suche nach der Identität, die Ishmael persönlich umtreibt, es ist seine Suche nach einem Mörder und sein Versprechen, Gerechtigkeit herzustellen. Thema ist aber auch der Rassismus, der im Roman in seinen verschiedenen Facetten, und durchaus auch neben den ausgetretenen Wegen zwischen Schwarz und Weiß, ausgeleuchtet wird. Und es ist damit letztlich auch die Frage, wer die Deutungshoheit hat über Richtig und Falsch, Gut und Böse. Die rasante und komplexe Geschichte, die Mukoma wa Ngugi uns erzählt, mit immer wieder neuen und überraschenden Wendungen, führt uns bei den Ermittlungen von Wisconsin nach Nairobi und wieder zurück, beschreibt Ausschnitte des verheerenden Völkermords in Ruanda und deckt korrupte, ja mafiöse Praktiken beim Spendensammeln, beim sehr lukrativen Geschäft mit dem schlechten Gewissen, auf.

Die Geschichte beginnt mit dem Auffinden einer jungen ermordeten Frau vor der Tür eines Professors in Maple Bluff, eines wegen seiner besonderen Steuervorteile reichen Vororts von Madison. Die Tote ist sehr weiß – blond, mit weißer Bluse, weißen Strümpfen und Turnschuhen -, der Professor ist schwarz. Er, Joshua Hakizimana, gibt an, die junge Frau noch nie gesehen zu haben, er habe sie vor seiner Haustür gefunden, als er von einem Barbesuch mit Bekannten nach Hause gekommen sei. Und auch wenn Ishmael irgendetwas stört an dem Auftritt Joshuas, so hat der doch einen tadellosen Leumund. Er gilt als Held, weil er während des ruandischen Völkermordes in seiner Schule Flüchtlinge aufgenommen und ihnen Sicherheit gewährt hat, weil er so ein paar tausend Menschen retten konnte. In Kenia unterstützt er nun eine Stiftung, die Spenden sammelt zur Unterstützung der Opfer, die Never Again Foundation, deren offizielles Aushängeschild Joshua mit seiner ganz besonderen Geschichte ist, ein Aushängeschild, mit dem sich Politiker und Hollywood-Stars gerne fotografieren lassen.

Mit diesem Fall, eine tote weiße Frau und ein schwarzer Verdächtiger, stehen Ishmael und sein Chef, der schwarze Polizeichef von Wisconsin, unter besonderem Druck. Der Druck erhöht sich schnell, weil die Ermittler weder den Namen der Toten herausfinden noch irgendeine andere Spur zu ihrem Mörder entdecken können. Ishmael gibt die Geschichte an die Presse, in der Hoffnung, einen Hinweis auf die Identität der toten Frau oder eine Verbindung zwischen ihr und Joshua zu bekommen, doch der Artikel, der von allen großen Zeitungen und Sendern weiter verbreitet wird, schürt nur die sowieso schon bestehenden Rassenprobleme.

Nach wenigen Stunden stand das Mädchen für alles, was gut und was falsch gelaufen war in Amerika. Die Weißen fühlten sich von den Schwarzen umzingelt, während der schwarzen Bevölkerung die Anschuldigungen der weißen Justiz gegen Joshua zu weit gingen. (…) Die Sprecher der Schwarzen (…) tauchten plötzlich aus dem Unterholz auf, um sich mal wieder fünfzehn Minuten in Publicity zu baden, indem sie sich demonstrativ hinter Joshua stellten und ihn zum schwarzen Schindler ernannten. Der Bürgermeister und der Gouverneur garantierten schnelle Ergebnisse – und hofften auf weiße Stimmen, solange sie lebten. Sogar der KuKluxKlan fand neue Anhänger. (S. 24-25)

Erst als Ishmael einen dubiosen Anruf bekommt, den anonymen Hinweis, diese Geschichte ließe sich erst in Nairobi klären, wenn Ishmael dort etwas über die Wahrheit aus der Vergangenheit erfahre, kommt wieder Bewegung in die Ermittlungen. Und so reist Ishmael nach Afrika. Von O, eigentlich David Odhiambo, einem Kollegen bei der keniaischen Polizei, lernt er erst die Genüsse eines warmen Tusker Bieres und gegrillten Fleisches kennen. Dann versuchen sie gemeinsam die Ermittlung aufzunehmen, bei der sie nicht recht wissen, wo sie beginnen sollen. Also werden sie erst einmal dort vorstellig, wo es Verbindungen zu Joshua gibt, in der Hoffnung, auf sich aufmerksam zu machen, sodass der Anrufer Kontakt zu ihnen aufnimmt. Und ganz schnell und unverhofft werden ihre Ermittlungen so gefährlich, dass nur der schnellere Finger an der Pistole ihr Überleben sichert.

Mukoma wa Ngugi hat einen spannenden Krimi geschrieben, in dem nicht nur der Mord an der unbekannten Frau aufgeklärt wird. Er hat aber viel mehr geschrieben, als einen Krimi, in dem es „nur“ um die Lösung eines komplexen und kompliziertenFalles geht, bei dem Ishmael mit ganzem Körpereinsatz ermitteln muss, in dem er die Hintergründe des Mordes Schicht für Schicht aufklärt. Denn der Autor erzählt auch die schon klassische Geschichte eines Helden, der auf eine Mission geschickt wird und nicht nur diese Mission erfüllt, sondern auch selbst geläutert aus dem magischen Wald, hier ist der Wald Afrika, zurückkommt. Ishmael nämlich ist, nicht zuletzt weil seine Frau sich von ihm getrennt hat, selbst auf der Suche danach, wie es in seinem Leben weitergehen könnte. Und so wird die Reise nach Afrika, bei der er in O einen Freund gewinnt und sich in die Sängerin Marlene verliebt, auch eine Reise zu neuen Optionen für seine Zukunft. Und mit O zusammen, später, nach Madison zurückgekehrt, auch alleine, sorgt er dafür, dass die Gerechtigkeit wiederhergestellt wird. Und hier gilt es als Leser aufzupassen, denn zu schnell und bereitwillig folgt man diesem sympathischen Ishmael bei seiner Lösung, ist erleichtert, dass endlich das Böse zu Fall gebracht und fast mit eigenen Mitteln geschlagen wird.

Einmal im Roman wird Ishmael auf seinen Vornamen angesprochen und gefragt, ob er denn auch gegen den weißen Wal kämpfe. Ishmael kontert, er sei nicht Ahab, der auf der Jagd sei, der Ishmael in Moby Dick sei nur der Erzähler der Geschichte. Vielleicht ist dieser Ishmael in „Nairobi Heat“ aber doch derjenige, der, auf verschiedene Weise auch selbst getroffen vom Wal „Rassismus“, mit allen Mitteln den Kampf Gut gegen Böse kämpft, für Gerechtigkeit ohne Ansehen der Hautfarbe und der Rasse. Um dieses Ziel zu erreichen kämpft er nicht blindwütig und ohne Verstand, sondern überlegt genau, wie er das Spiel mitspielen und für seine eigenen Zwecke nutzen kann. Das ist dann eine Gerechtigkeit, die mit dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit nichts mehr zu tun hat – uns Leser aber doch irgendwie zufrieden zurücklässt.

„Fünf Leben gegen eines. (…) Aber besser, die bösen Jungs sterben als die guten“, sagt Ishmael zu O, als sie sich gegen fünf junge Männer zur Wehr setzen mussten, um eine Schülerin aus einer Vergewaltigung zu befreien. Und O antwortet:
„Ishmael, ich oder du, wir sind nicht die Guten. Wir haben einiges richtig und einiges falsch gemacht… Aber Janet ist ein guter Mensch, und sie hat überlebt. Das kann nicht schlecht sein.“

Ishmael und Ol werden weiter ermitteln, als Privatdetektive in Nairobi. Ein zweiter Fall ist schon veröffentlicht, hoffentlich müssen wir nicht zu lange auf die Übersetzung warten.

Mukoma wa Ngugi (2014): Nairobi Heat, Berlin, Transit Buchverlag

Werkstatt: Aus Holst Noble wird eine rote Celtic-Jacke

Noble_3 So schnell kann es gehen und ein Projekt gerät ins Hintertreffen, wandert auf dem Sofa weiter zur Seite, weggedrängt von den neuen roten Wollknäulen, immer weiter an den Rand, bis es schließlich im großen Strickkorb in der Ecke landet. Dieses schlimme Schicksal hat nun also die Cocoa-farbige Breckon-Jacke ereilt – aus verschiedenen Gründen.

Zum einen nervt mich irgendwann diese rechts-links Strickerei, ich mag eigentlich  solche Strukturmuster gar nicht gerne stricken (hätte ich ja eigentlich vorher wissen können). Dann hat mich die Anleitung geärgert – vielleicht lag es aber auch an meinem Unvermögen, mit der amerikanischen Anleitung, obwohl ich davon ja schon einige bewältigt habe. Jedenfalls passen die Musterstreifen des Vorder- und Rückenteils nicht zusammen, wenn ich die Schulternähte schließe. Irgendwo habe ich mich also total verzählt.

NOble_5Und dann der allerwichtigste Grund: Sind die Farben nicht toll? Die schreien doch geradezu danach, sofort in einem mehrfarbigen Muster verstrickt zu werden. Rot und bordeauxrot sind außerdem noch meliert, lila leider nicht, soll aber auch nur als Schmuckband in den Bündchen auftauchen.

Es ist wieder einmal Holst-Garn, und zwar Noble aus 95 % Geelong und 5 % Cashmere mit einer Lauflänge von 333 m pro 50 g. Ich finde es bei einem Pulli oder einer Jacke zu dünn, um es einfädig zu stricken, mit doppeltem Faden und 3,5er Nadeln ergeben  23 M 10 cm. Das Holst Garn ist schon beim Stricken weich und läuft gut, wird nach dem Waschen aber noch kuscheliger und kratzt überhaupt nicht.

Entschieden habe ich mich für eine Musterkombination aus Alice Starmores Celtic Patterns. Vielleicht wird es am Rücken noch ein weiteres Muster geben, das entscheide ich irgendwann einmal beim Stricken. Mal schauen, was mir beim Nadeln so einfällt.

Jedenfalls habe ich wieder Lust am Stricken, ich bin wohl wirklich der Mehrfarbig-Stricker, denn es macht einfach Spaß zu sehen, wie das Muster von Reihe zu Reihe wächst. Es sieht also so aus, wals würde die arme Breckon für längere Zeit im Strickkorb bleiben, als würde die halbfertige Jacke gar zu einem UFO ….

Und so sieht es bisher aus:

Noble_6

John von Düffel: Wassererzählungen

Düffel_Wasser2Von verschiedenem Wasser erzählt uns John von Düffel in diesen Erzählungen, von Ostsee und Nordsee, von einem natürlichen Schwimmteich, einem Swimmingpool, einem Teich im Garten, einem See in Norddeutschland. Von unterschiedlichen Landschaften erzählt er und von Menschen in entscheidenden Situationen ihres Lebens.

John von Düffel ist ein passionierter, ein unermüdlicher Schwimmer. Dabei kann ihn beobachten, wer die Dokumentation zur Entstehung seines Houwelandt-Romans sieht: Immer wieder zieht von Düffel seine Bahnen, im Schwimmbad, im See. Und so bezeichnet er sich selbst als einen „Paradiesvogel“ unter den Schriftstellern, zumindest zu Beginn seiner Karriere sei das so gewesen. Ein asketischer Schriftsteller, dem der eigene Sport wichtig sei, das Langstreckenschwimmen noch dazu, das passe nicht zur gängigen Vorstellung über das Lebens eines Künstlers, der, so werde doch immer noch unterstellt, seine Schaffenskraft, seine Intuition und Kreativität vor allem auf den Genuss von Rauchwaren und Rotwein zurückführe, nicht auf den möglichst täglichen Gang ins meistens zu kalte Wasser [2]. Dass aber auch das zu kalte Wasser eine Inspirationsquelle sein kann, das zeigt von Düffel uns deutlich mit seinen „Wassererzählungen“.

In drei seiner Geschichten sind dann auch Schwimmer die Protagonisten. Der erste liebt und fürchtet die Kälte der Ostsee im Winter. Er nimmt uns mit auf seiner Schwimmrunde, beschreibt genau, wie das Wasser aussieht, an ruhigen Stellen mit einer zarten Haut aus Eis, wie es nach Schnee riecht, den der Ostwind heranbringt, wie es gelingen kann, den Widerstand auszuschalten beim Ausziehen der wärmenden Kleidung, erst recht beim tiefen Erschrecken des Körpers, wenn er, vom Verstand gezwungen, in das eiskalte Wasser taucht und dem Schwimmer für einen Moment die Luft nimmt. Und dann das wie befreite Schwimmen, der Gedanke, heute das Wasser wärmen zu können, aber Vorsicht, es gilt darauf zu achten, nicht zu weit zu schwimmen, mit den Kräften so zu haushalten, dass der Rückweg gelingt:

Bereits nach wenigen Metern mit Kurs auf den Strand merke ich, dass es die richtige Entscheidung war. Ich brenne herunter, so rasend schnell und erbarmungslos, dass die Kälte kein Zustand mehr ist, sondern freier Fall. Ich schlingere, statt vorwärts zu gleiten, keine Bewegung läuft mehr rund. Die Entfernung zum Ufer scheint immer größer zu werden, unüberwindlich, doch das kann nicht sein, sage ich mir, nein, nein, ich bin es, der kleiner wird, immer kleiner, mein Körper schnurrt zusammen auf den eines Kindes, hilflos und verloren, ich kenne dieses Kind, es hat Angst, große Angst. (S. 16)

Auch ein anderer Schwimmer hat Angst, Angst vor dem körperlichen Verfall, den das Alter mit sich bringt. Um dem zu entgehen, joggt er und schwimmt, arbeitet so an seinem Körper, auch gegen immer wiederkehrende Schmerzen, wie ein Bildhauer aus einem Stück Stein einen ästhetischen Körper schafft. Wie trifft es diesen Schwimmer, einen Sohn zu haben, der seit Geburt ein schiefes Becken hat und einen verkürzten Fuß, einen Sohn, mit dem er wegen dieser Behinderung meint, nicht spielen zu können. Statt dessen trägt er den Siebenjährigen überall hin, um ihm die mitleidigen Blicke zu ersparen, trägt ihn nach einem Jahr in der Schule noch jeden Morgen an seinen Platz. Da hat sich ein Vater in eine merkwürdige Idee verrannt, selbstkritisch weiß er ja, dass „all seine Liebe zu diesem Kind Mitleid geworden“ ist. Der Sohn, obwohl wir ihn nur durch die Augen des Vaters kennenlernen, scheint weitaus patenter, gewitzter, mutiger und bewegungsfähiger zu sein, als sein Vater ihn einschätzt. Der Sohn hat sich, sehr zum Ärger des Vaters, der auch noch die Angst vor Hunden mit sich herumträgt, mit dem Hund des Nachbarn angefreundet. Er spielt mit ihm, tollt über die Wiese, wirft Stöcke. Und so kommt dann doch noch ein Spiel zustande zwischen Vater und Sohn: Weil der Sohn zeigen will, wie weit und immer weiter er werfen kann, wirft er den Stock ins Wasser und sein Vater, der Schwimmer, holt ihn wieder zum Steg.

Die dritte Schwimmerin wiederum hat einen ungewöhnlichen Job. Sie schwimmt im Auftrag eines japanischen Stararchitekten jeden Abend bei Sonnenuntergang in seinem Pool, weil ja niemand auf einen Pool schaut, wenn sich nichts darin bewegt, so wie sich auch niemand für ein Aquarium interessiert, halten sich darin nicht einige Fische auf. Dieser Job, sich quasi als Fisch zu verdingen, ist schon ein zweifelhaftes Angebot. Umso mehr muss es zu einer ästhetischen, einer meditativen, einer religiösen Handlung aufgewertet werden. Und dazu trägt schon alleine der Pool bei, der eher eine Schwimmbahn ist, 25 Meter lang und immer 21 Grad warm. Er ist nach Südwesten angelegt, Richtung Sonnenuntergang:

Du kannst die Sonne vom Becken aus sinken sehen, den ganzen Abwärtsbogen, die Farbwechsel am Himmel und im Wasser. Stell dir vor, du tauchst ein in einen wunderbar glitzernden See in den bergen, blaugrün auf deinem Handrücken, deinen Armen, wenn du los schwimmst, und ein paar Bahnen später bis du schon woanders. Es wird wärmer, gelb, orange, rötlich, glutrot, je nach Abendsonne. (…) Aber gerade wenn es regnet, ist es etwas ganz Besonderes. So als würde der Regen, als würde jeder einzelne Regentropfen mit dem Bergseewasser auf eine ganz spezielle Art und Weise reagieren. Es prickelt. (67-68)

Immer wieder in von Düffels Geschichten ist es also das Wasser in seinen unterschiedlichen Formen, in dem sich die Lebensfragen oder Lebenslügen der Figuren spiegeln. Und es ist längst nicht immer die Bewegung des Schwimmens, die zu dieser Auseinandersetzung zwingt. Einmal ist es ein morastiger Teich tief im Inneren eines Waldes, der eine Mutter zu einer bitteren Erkenntnis führt. Einmal ist es ein tiefer Gartenteich, der quasi als letzte Äußerung eines sterbenden Vaters der Tochter etwas von seiner Wut und Verzweiflung erzählt. Und einmal redet sich eine Personalmanagerin mit ausgesprochen soziopathischer Haltung mit Blick auf das Aquarium eines Zoos um Kopf und Kragen.

In allen elf Geschichten lesen wir über meist einsame Figuren, die sich mit ihren Problemen und Sorgen, mit ihrer Schuld, ihrem Verranntsein in eine fixe Idee mehr oder weniger ehrlich auseinandersetzen. Manchmal gibt es auch einen Gegenspieler, der den inneren Konflikt noch weiter anheizt. Oft sind es Familienkonflikte, die auch die Ehen in einem merkwürdigen Licht erscheinen lassen. Die Konflikte selber entzünden sich meistens zwischen den Generationen, mehrmals zwischen Vätern und ihren Kindern, zwischen der erwachsenen Tochter und ihrem sterbenden Vater. Dies sind immer wieder Geschichten, in denen die Verhältnisse zwischen den Familienmitgliedern ausgelotet werden, die Verwerfungen, die sich ergeben müssen, wenn mehrere Individuen mit ihren Vorstellungen, Fehlern, ihrer mangelhaften Kommunikation und ihren Projektionen eng zusammenleben.

Eine Stärke der Geschichten ist die Schilderung der so verschiedenen Landschaften, die von Düffel mit ein paar Worten, Pinselstrichen gleich, vor dem Auge des Lesers entstehen lässt. Das Wasser, das in allen Erzählungen seine Rolle hat, ist die metaphorische Klammer, steht aber nie im Vordergrund, ist manchmal nur ein Dauerregen oder ein Angelloch ganz am Ende einer Geschichte. Und auch die Figuren, die sich in diesem Landschaften und am Wasser bewegen, werden in diesem Lebensausschnitt präzise skizziert, manchmal geradezu seziert. Diesen Blick auf die Figuren muss der Leser schon mögen.

Die Geschichten sind kunstvoll geschrieben, sie lassen sich gut lesen, bei einigen treibt einen die Spannung, wie es nun weitergeht, beim Lesen vor sich her. Und trotzdem: Es ist manchmal alles zu viel. Zu viel Bedeutung, die der Landschaft und dem Wasser zukommt, den anderen Requisiten, den Menschen und den Tieren, zu viel Symbolisches im Verhalten der Figuren und zu viel düstere Atmosphäre, die den Leser immer wieder das Schlimmste erwarten lässt.
Die Erzählungen also ziehen den Leser hinauf und hinab, eine schleudert ihn empor, eine andere zieht ihn herunter, in eine taucht er wohlig ein, eine andere katapultiert ihn an Land, eine erfrischt ihn, nach einer anderen schüttelt er sich. — Und nun ist es doch geschehen: Das Wasser hat sich doch hinterrücks dieses Textes bemächtigt.

[1] John von Düffel (2014): Wassererzählungen, Köln, DuMont Verlag
[2] John von Düffel (2009): Wovon ich schreibe, Köln, DuMont Verlag

Schramm, Priol, Malmsheimer: Ein Kabarett-Abend

Schramm_1Wer sich die Welt erklären lassen möchte, der muss, wenn er sich selbst das Lesen der Zeitungsseiten ganz hinten und der Bücher, die auf keiner Bestsellerliste auftauchen, ersparen möchte, ins Kabarett gehen. Dort gibt es sie noch, die Aufklärer und die Clowns, die das große Ganze im Blick haben und manchmal auch die kleine, absurde Situation und uns die Dinge erklären, mal heiter bis lustig, mal so, dass es einem im Hals stecken bleibt, das Lachen.

Georg Schramm hat im letzten Jahr beschlossen, nicht mehr mit Soloprogrammen auf die Kabarett-Reise zu gehen. Nun wollen seine Kollegen Urban Priol und Jochen Malmsheimer, die sich wohl im Rahmen der Sendung „Neues aus der Anstalt“ kennen- und schätzen gelernt haben, diesen Rückzug aber nicht so sang- und klanglos über die Bühne gehen lassen, sondern den Kollegen und seine Verdienste um das Kabarett noch einmal ordentlich feiern. Dazu haben sie sich eine tolle Veranstaltung ausgedacht, haben schon Sponsoren eingeladen – was sie dem zu Ehrenden, das wissen sie genau, natürlich auf keinen Fall sagen dürfen -, für ordentlich viel Kracher und Feuerwerk gesorgt, wollen loben und singen und Gedichte vortragen: Das ganz Programm eben, das bei so einer Veranstaltung üblich ist. Ihre größte Sorge ist, dass der Jubilar zu lange und zu viel redet, dass er womöglich seine Redezeit dazu nutzt, seine treffsicheren Worte abzufeuern und die Ehrengäste mit einer geharnischten Wut-Rede brüskiert. Und Schramm, alias Lothar Dombrowski mit der hölzernen Hand, hat natürlich auch seine Vorstellungen von diesem Ehren-Abend und gibt klar vor, was er auf keinen Fall haben möchte, nämlich Gedicht, Lied und Spektakel, schon gar nicht solle seine Person im Vordergrund stehen, denn es gehe doch darum, das große Ganze im Blick zu behalten. So also die konfliktreiche Rahmenhandlung des Abends.

Und man kann es sich schon denken, es geht so ziemlich alles schief. Malmsheimer verplappert sich und spricht über die Sponsoren. Dombrowski feilt an seiner Rede und verbreitet damit bei den anderen beiden Angst und Schrecken, weil er ja doch wieder die Zusammenhänge der Finanzkrise so darstellt, wie die Gäste von der Deutschen Bank es wohl nicht gerne hören. Priol gibt seine Merkel-Parodien zum Besten, die Dombrowski ihm doch ausdrücklich untersagt hat, und dann wird natürlich auch noch ein Gedicht vorgetragen – eines aus der Anfangszeit des Jubilars -, es knallt und dröhnt und gesungen wird auch noch.

Es ist ein rundum toller Abend geworden, den die Drei da vorbereitet haben, denn neben der Rahmenhandlung hat jeder genug Raum, um seine eigene, ganz unverwechselbare Kunst vorzustellen. Und da fliegen die Worte und die Zusammenhänge und die Pointen schneller als man sie aufnehmen und verarbeiten kann. Erst werden dem Zuschauer die wirtschaftlichen Verstrickungen und der Frage, ob der Kapitalismus nun tot oder doch gerade mit neuer Kraft und grässlicher Fratze wiederauferstanden sei, um die Ohren gehauen. Schon konfrontiert uns Malmsheimer bei der Frage, wie Mann und Frau ihr Gefallen an einander bekunden („Wollen wir ficken?“) mit sozialkritischen Verwerfungen. Dann betrauern wir mit dem alten August, der jüngst sein vierzigjähriges Parteijubiläum bei der SPD feierte, die Entwicklungen in der SPD. Und zwischendurch wirbelt uns Priol die Absurditäten der Tagespolitik um die Ohren, das einem Hören und Sehen vergeht.

Es bleibt zu hoffen, dass Schramm, der am Ende des Abends die Geschichte der Rahmenhandlung noch einmal erklärt, den Begriff des SOLOprogramms ernst gemeint hat und sich doch noch ein paar Mal anstiften lässt von Malmsheimer und Priol, um mit ihnen gemeinsam auf Tour zu gehen. Dann könnten wir noch ein paar Mal in den unglaublichen Genuss kommen, uns von diesen drei unterschiedlichen Kabarettisten mit ihrem wortgewaltigen Parforce-Ritt durch die Niederungen des Alltags die Welt erklären zu lassen.

Rafael Chirbes: Am Ufer

Chirbes_UferAls Wirtschaftskrimi kündigt der Verlag Rafael Chirbes Roman an, als Buch zur spanischen Finanzkrise empfiehlt ihn El Pais. Beide Zuschreibungen stimmen – und sind doch zu oberflächlich. Wesentlich vielschichtiger hat der Autor seinen Roman konzipiert und hat eben nicht nur die Auswirkungen der zerplatzten Immobilienblase auf die verschiedenen Milieus einer Kleinstadt in der Nähe von Valencia beschrieben. Chirbes hat uns vor allem Esteban erschaffen, einen knorrigen, und zynischen Handwerker, für den sein siebzigjähriges Leben mehr Enttäuschungen als positive Wendungen bereit gehalten hat. Esteban weiß seine Umgebung – und durchaus auch sich selbst – auch mit Ironie zu betrachten und beurteilen und er gewährt uns durch seine Erinnerungen auch tiefe Einblicke in die spanische Gesellschaft seit dem Ende der Zweiten Republik und der Machtübernahme durch Franco 1936.

Es ist der 14. Dezember 2010 an dem Esteban sich auf den Weg macht in die Sümpfe. Zuvor hat er seinen über neunzigjährigen dementen Vater geduscht, ihm neue Windeln angelegt und ihn angezogen, ihm ein Frühstück bereitet und ihn dann in den tiefen Sessel vor den Fernseher gesetzt, aus dem er eigentlich selbst nicht aufstehen kann. Zur Sicherheit aber hat er ihn mit einem Bettlaken festgebunden, damit er auf keinen Fall stürzen kann, solange Esteban unterwegs ist.

Esteban träumt davon, ein Haus zu bauen auf einem kleinen Grundstück außerhalb des Ortes, sich dorthin zurückzuziehen, nur mit seinem Hund, aber er ist verantwortlich für die Pflege des Vaters, der seit seit seinem Gefängnisaufenthalt zu Beginn des Franco-Regimes, völlig verbittert ist. Die politischen Ideale des Vaters, für die er mit der Waffe gekämpft hat, sind gescheitert und weil er der Bitte seiner Frau gefolgt ist und, auch um die Familie zu schützen, ins Gefängnis, nicht aber mit den anderen Widerstandskämpfern in die Sümpfe gegangen ist, meint er, seine Ehre verloren zu haben. Nun ist er ein alter, kranker Mann, der gepflegt werden muss.

Und es ist Esteban, an dem die Pflege der Vaters hängen bleibt, an ihm, dem einzigen von vier Geschwistern, der im Haus der Eltern geblieben und nicht weggezogen ist in die nächste Stadt oder gar nach Madrid, der nicht geheiratet hat, weil seine große Liebe Leonor ihn verlassen hat, um nach Madrid zu gehen und dort seinen besten Freund Francisco zu heiraten – eine finanziell wesentlich attraktivere Partie. Von seinem Vater fühlte Esteban sich nie geliebt, nicht einmal anerkannt, geduldet gerade einmal als Mitarbeiter, der die niederen Handgriffe in der Familienschreinerei verrichten kann. Ausgerechnet diese beiden leben nun im Haus in Olba zusammen, sind aufeinander angewiesen, aneinandergekettet.

Esteban hat an diesem Dezembertag die Waffe aus dem Schuppen geholt, den Hund gerufen und ist ins Auto gestiegen, um in die Sümpfe zu fahren, denn dort will er einen Ort suchen, an dem er seinen Vater, den Hund und sich selbst töten kann. Er, ausgerechnet er, hat sich verspekuliert. Das gesamte Geld, das sein Vater in seinem Leben angespart hat, hat Esteban von der Bank geholt, dabei die Unterschrift seines Vaters gefälscht, und ist bei Pédro eingestiegen, einem Maurer aus dem Dorf, der es zum Bauunternehmer gebracht hat und nun eigene Wohnblocks hochzieht in Olba, in der Nähe der Küste, bei den Sümpfen. Sein Vater, der Sozialist, hat sich immer geweigert, die Schreinerei zu vergrößern und sich so an der Ausbeutung der Arbeitskraft anderer zu bereichern, er ist immer stolz darauf gewesen, nur das zu verdienen, was die eigenen Hände erschaffen haben. Und Esteban hat dieses ersparte Geld verzockt, gar nicht mal aus purer Gier, sondern, so erklärt er es sich selbst zumindest, weil er sein Alter absichern wollte, sich, wenn nötig, Pflege leisten möchte, vielleicht in einem annehmbaren Altersheim. Damit ist er den finanziellen Träumen der Mittelschicht auf den Leim gegangen und ist einer der letzten gewesen, die am wunderbaren Bauboom partizipieren wollten. So spät, dass die Auslöser der Spekulation mit immensen Gewinnen längst ihre Schäfchen ins Trockene gebracht und nun die letzten Teilnehmer an der großen Geldlotterie, nämlich den Mittelstand, auf dem gigantischen, nicht mehr bezahlbaren Schuldenberg sitzen lassen. Nun kann Esteban von seiner Terrasse anschauen, wo sein Geld steckt, wenn er sie betrachtet,

„die unbewegten Kräne über den halb fertigen Wohnblocks (…), an manchen von ihnen hängt eine Schubkarre, und diese Schubkarren sind der Stempel unter der Katastrophe, meiner Katastrophe, die Aufgabe meiner Projekte, das Zeichen dafür, dass die Kräne unbenutzt sind und die Firma pleite. (…) Die Kräne: ein Scherenschnitt am Himmel und daran schaukelnd die Schubkarre, wie ein Selbstmörder an einem Strick.“ (S. 246)

„Begehung der Schauplätze“ hat Chirbes das große Kapitel genannt, in dem Esteban durch die Sümpfe wandert, bekannte Stellen aufsucht, sich seines Lebens erinnert und einen Platz zum Sterben sucht. Die Sumpfwanderung erinnert sehr an James Joyces Protagonisten Leopold Bloom, über dessen Tag und seine Wege in Dublin wir lesen können. Chirbes aber führt seine Figur nicht durch die Stadt, sondern durch den Sumpf. Immer wieder beschreibt Esteban die Umgebung, als Ort der Keime und Ansteckungen, das stehende Gewässer als fauligen, stinkenden Ort, dem zu misstrauen ist, der verdorben ist, wenn er sich erwärmt, in dem verwest, was hineingerät. Es ist aber auch ein Ort, den Menschen nutzen, um Unrat abzukippen und vergessen zu machen: tote Tiere zum Beispiel, manchmal auch Teer, die Verlierer des Bürgerkriegs sogar, die sich hier erst versteckt haben, die dann aber gejagt werden wie Wild oder ersticken oder verbrennen, weil die Sieger einfach den Sumpf angezündet haben. Es ist aber auch ein Ort, an dem Tiere sich zurückziehen, es ist ein Ort des frischen Wassers, des neuen Wachsens und Werdens, wenn Herbst und Winter kommen und Regenwasser in den Sumpf gelangt. Es ist vor allem der Ort, an den Esteban viele gute Erinnerungen hat, weil er hier mit seinem Onkel zum ersten Mal in seinem Leben geangelt hat, später mit Mitarbeitern hier gewesen, mit dem Hund herumgelaufen ist, zur Jagd ging.

Der Sumpf ist in Chirbes Roman also ein Lebensraum, ein Schauplatz verschiedener Ereignisse, eine Bühne, die Esteban sich für seine finale Tat sucht. Der Sumpf bei Olba ist aber auch ein Symbol für die dunklen Triebe und Instinkte der Menschen in Olba, die alle versuchen, ihr kleines Glück beim Bauboom zu machen, Esteban, der klarsichtige Interpret seiner Umgebung eingeschlossen. Der Sumpf ist ein Symbol für die Zügellosigkeit und Ordnungslosigkeit, wenn eine ganze Gesellschaft der finanziellen Gier verfällt, wenn sie sozusagen „versumpft“, jeder einzelne im materiellen Egoismus stecken bleibt und daran zugrunde geht, weil Beziehungen nur noch nach Soll und Haben beurteilt werden, Mitmenschlichkeit und Solidarität aber Werte von gestern sind.

Natürlich ist Vorsicht geboten, denn wir hören die ganze Zeit Esteban, der zu uns spricht: Wir lernen vor allem Estebans Blick auf die Dinge kennen, hören seine Deutungen, erfahren die Zusammenhänge von ihm. Seinem inneren Monolog folgen wir, durch seine assoziativen Gedanken, Beurteilungen und Erlebnisse können wir die vielen Steinchen Stück für Stück zu einem Bild zusammensetzen. Einsam ist Esteban, dies zeigt nicht nur seine Sumpfwanderung, sondern auch der innere Monolog, den er hält, nicht ein einziges Mal an diesem Tag spricht er mit einem Menschen Und wird so selbst zu dem Symbol einer Gesellschaft, die allein nach wirtschaftlichen Überlegungen tickt – seit Franco so lernen wir, ist das so, denn seit damals bestimmen materielle Vergünstigungen, mit denen Franco die Ruhe in der Bevölkerung kaufte, das Denken der Menschen.

Ob wir nun dem verbitterten Esteban folgen, für den alle Beziehungen nur in Marktwerten berechnet werden, die Freundschaft, die Ehe, das Warten der Geschwister auf den Tod des Vaters und sein Erbe, das bleibt uns überlassen. Sicherlich bietet dieser Blick aber einmal die Gelegenheit, zu überprüfen, wie weit dieses Denken schon in der Mitte der Gesellschaft – auch unserer – angekommen ist. Und wir sehen, quasi zur Warnung, in welche Einsamkeit uns dieses Denken führen kann. Chirbes Roman also geht viel weiter als ein „Roman zur Krise“ zu sein. Er steigt tief in die Befindlichkeit des einzelnen und die der Gesellschaft hinab, um zu klären, auf welchem Boden die heutigen gesellschaftlichen Verwerfungen überhaupt erst gedeihen können.

Chirbes hat seinen Roman in der Nähe Valencias angesiedelt. In Valencia hat der Bauboom besondere Blüten getrieben, mit der Formel 1 Rennstrecke, spektakulären Bauprojekten in der Stadt  sowie mit Hotelburgen, die die Küste zubetonierten, die ursprünglichen Besitzer des Landes wurden zur Not auch einmal enteignet.

Bei Tobias könnt Ihr eine weitere Besprechung des Romans finden

Rafael Chirbes (2014): Am Ufer, München, Verlag Antje Kunstmann

 

Juli Zehs Corpus Delicti, Big Data und der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels

Zeh_Corpus1Als Juli Zeh 2009 ihren Roman „Corpus Delicti“ veröffentlichte, schien die von ihr dort als METHODE geschilderte Doktrin doch sehr weit hergeholt zu sein. Einen Staat, der das Rauchen verbietet, den kennen wir ja. Eher unvorstellbar aber ist, dass der Staat so sehr in eine Erzieherrolle hineinwächst, dass er uns so allerlei gesundes Verhalten vorschreibt – und das auch lückenlos überprüft.

Und doch wird uns mehr und mehr klar, dass „der Staat“ über Institutionen, die zunächst einmal unbemerkt von der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit agieren, ungehindert Daten sammeln kann, zunächst vielleicht unter dem Deckmantel einer Terrorbekämpfung und mit sehr ungewissen Erfolgen. Neben dem Staat aber, und auch hier weitgehend außerhalb unserer Beobachtung, sammeln aber auch Unternehmenumfassende Daten, der „gläserne Kunde“ ist ihr Ziel, der Kunde, dem man am besten schon Werbung zu Produkten zukommen lassen kann, für die er sich wahrscheinlich erst in naher Zukunftinteressieren wird, der Kunde, dessen Risiko das (Versicherungs-)Unternehmen genau einschätzen kann.

In Juli Zehs Gesellschaft, die sich zu Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts entwickelt hat, ist es das Gesundheitswesen, dass die Menschen beherrscht. Rauchen ist sowieso schädlich, jeder Körperkontakt, von Händeschütteln über das Küssen bis hin zum Sex, ist unhygienisch und die Fortpflanzung sichert man auf der Basis von immunologischen Untersuchungen und Kompatibilitäten. Der Aufenthalt der Menschen sollte hauptsächlich in keimfrei desinfizierten Umgebungen stattfinden, der Aufenthalt in der Natur, im Wald, am Bach sollte aus gesundheitlichen Gründen vermieden werden. Die Menschen müssen den Behörden regelmäßig nachweisen, wie sie geschlafen haben, was sie gegessen und wie viel Sport sie getrieben haben. Verstöße gegen diese als METHODE bezeichnete Gesundheitsvorsorge, die ja, man ahnt es, jegliche Lebens- und Sinnenfreude konsequent unterbindet, werden in Zehs Gesellschaftsprojektion schnell und umfassend geahndet, und zwar mit den Klassikern jeder Diktatur: Gefängnis, Folter, Umerziehung.

Ganz perfide an der von Juli Zeh erdachten METHODE ist, dass sie auf den ersten Blick so vernünftig daherkommt. Der Staat hat sich unseres persönlichen Zieles, nämlich gesund zu sein und möglichst gesund alt zu werden, angenommen: „Ein gesunder Organismus steht in funktionierender Wechselwirkung mit seiner Umwelt. Der gesunde Mensch fühlt sich frisch und leistungsfähig. Er besitzt optimistisches Rüstungsvertrauen, geistige Kraft und ein stabiles Seelenleben.“ (S.7) Wie gut, dass der Staat endlich vorgeht gegen Epidemien, dass er dafür sorgt, dass wir mit richtiger Ernährung und ausreichender Fitness selber gut für uns sorgen und somit auch gut gewappnet sind gegen jede Krankheit. Das führt zu mehr Zufriedenheit und Glück – und senkt die Kosten für das Gesundheitswesen. In Zeiten des „demografischen Wandels“, in Zeiten einer zunehmenden Vergreisung der Gesellschaft sind das doch alles höchst willkommene Entwicklungen.

Ein Staat, der unsere Gesundheit überwacht, der Daten sammelt, auswertet, bestraft? Das ist ja wohl tatsächlich eine Utopie – oder besser: Dystopie. Alles Science-Fiction also, was Juli Zeh da für ihre Literatur ersonnen hat, nur ein erhobener Zeigefinger nach dem Rauchverbot, ein Hinweis, dass der Staat sich besser nicht zum Erzieher aufschwingen sollte?! Und was für ein Aufwand, solche Mengen an Daten zu sammeln und auszuwerten.

Während wir uns noch über staatliche Überwachung und Sammelwut ärgern, NSA, BND verteufeln, laut nach Kontrolle und Prozessen rufen, gibt es aber die von Juli Zeh skizzierten Entwicklungen längst. Ihre Science-Fiction ist näher an der Realität als uns lieb ist, ihre Literatur zeigt uns deutlicher eine mögliche Zukunft auf, als wir uns vorstellen können. Big Data heißt das reale Phänomen, hier werden die Möglichkeiten genutzt, die riesigen Datenmengen, die wir alle elektronisch erzeugen, zu sammeln und so statistisch auszuwerten, dass möglichst gute, weil zutreffende, Interpretationen und Vorhersagen über uns und unser Verhalten gemacht werden können.

Mehr und mehr Menschen finden großen Gefallen daran, ihre Fitness zu verbessern. Sie vermessen sich selbst, lassen Schritte zählen und Herzfrequenzen festhalten, ihre Schlafdauer und Schlafqualität ermitteln, reichern das noch an mit Daten zur Ernährung, zum Gewicht, gerne auch mit Angaben zum momentanen Wohlbefinden, und schicken dies in Echtzeit auf die Server von Unternehmen, die mit ihren Diensten diese sogenannte Self-Tracking- bzw. Quantified-Self-Bewegungunterstützen. Die Idee ist gut, keiner wird etwas dagegen haben, dass Menschen sich Gedanken um Fitness und Gesundheit machen, dass sie sich „bewusst ernähren“, es ihnen wichtig ist, sich zu bewegen und so dem oftmals sitzenden Bürojob etwas entgegenzusetzen. Und erste Krankenkassen unterstützen die Idee und machen ihren Mitgliedern die Teilnahme schmackhaft. Trotzdem: Wenn der Staat diese Daten von seinen Bürgern verlangen würde, wär vermutlich der Aufschrei ziemlich groß. Warum nur machen in diesem Kontext so viele Menschen bedenkenlos mit?

Quarks und Co hat vor Kurzem eine sehenswerte Sendung zum Thema Big Data und in diesem Zusammenhang auch einen Beitrag zur überwachten Gesundheit gesendet. Wer die Möglichkeiten sieht, die es in diesem Bereich jetzt schon gibt und in Zukunft noch geben könnte, der empfindet Juli Zehs Gesundheitsgesellschaft gar nicht mehr als visionär, sondern ganz real, nur ist es eben nicht der Staat, der sammelt, auswertet und bewertet, sondern es sind die Unternehmen und damit sind wirtschaftliche Interessen im Spiel, die sich fast noch mehr als die staatliche Überwachung jeder Kontrolle entziehen.

Was daherkommt wie ein gutes, weil gesundheitsförderndes Angebot, was spielerisch aufgebaut ist, mit Challenges, Highscores, vielen Erlebnissen und Begegnungen mit anderen Gleichgesinnten, hat auf der anderen Seite handfeste wirtschaftliche Interessen. Und dabei geht es nicht um die Gebühren, die zu entrichten sind, um die Pattformen nutzen zu können, es geht nicht um die technischen Geräte, die es braucht, um Körperdaten sammeln und verschicken zu können. Es geht mehr darum, was mit den gesammelten Daten geschieht, wer sie weiter nutzt und zu welchem Zweck. Was, wenn Krankenkassenbeiträge an Mitgliedschaften solcher Self-Tracking-Angebote geknüpft werden? Im Fernsehbeitrag äußerte sich einer der Anbieter solcher Seiten schon einmal dazu. Er sieht kein Problem darin, dass diejenigen, die sich hier ganz offensichtlich um ihre Gesundheit kümmern, weniger Beiträge bezahlen müssen. Und die, die das nicht wollen, das sind ja die unter uns, die eben weiter ungesund essen und keinen Sport machen wollen, so seine reichlich zynische Anmerkung, müssten dann eben mehr bezahlen. Entlarvend ist die Äußerung schon. Und weiter möchte die Verwendung solcher Daten gar nicht fortspinnen.

Auch die anderen Beiträge dieser Sendung sind höchst sehenswert. Der Beitrag zum „verräterischen Kassenbon“zeigt, dass ein Warenhaus tatsächlich einen Suchalgorithmus gefunden, mit dessen Hilfe es anhand der Kassenbons Schwangerschaften in den ersten Wochen sehr genau erkennen und so passgenau Werbung verschicken kann. Der Beitrag zur Kreditvergabe zeigt, wie mit Hilfe von Daten, die dem Facebook-Account des Antragstellers entnommen sind, in Sekunden und  mit einer prognostizierten Rückzahlungswahrscheinlichkeit  von 90 % Kredite genehmigt oder verweigert werden. Und erschreckend ist hier, dass nicht einmal mehr der Entwickler des Auswertungsalgorithmus die fünf oder sechs Kriterien benennen kann, die hauptsächlich für die Rückzahlungsbereitschaft verantwortlich sind.

Dass Big Data ein wichtiges Thema ist, zeigt auch die Entscheidung, den Computerwissenschaftler Jaron Lanier in diesem Jahr mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels auszuzeichnen. Er habe erkannt, so die Jury, „welche Risiken [die digitale Welt] für die freie Lebensgestaltung eines jeden Menschen birgt.“ – Und Lanier schreibt dann auch auf den ersten Seiten seines Buches „Wem gehört die Zukunft?“ mit welchem Enthusiasmus er einstmals ins Internetzeitalter gestartet ist, welche Hoffnung er hatte, mit digitalen, mit dezentralen Netzwerken die Machtverhältnisse verändern zu können, weil keine Institution alleine mehr die Kontrolle über die Kommunikation übernehmen kann. Wie schnell sich in diesem Medium aber auch die Kehrseiten zeigen, welche Entwicklungen es nun auch gibt, das beschreibt er ebenfalls. So zeigt er, und das passt gut zu unserem Gesundheitsthema, wie die amerikanischen Versicherungsunternehmen durch Big Data in die Lage versetzt wurden, „nur diejenigen zu versich[ern], die laut Algorithmenberechnung die Versicherung am wenigsten in Anspruch nehmen würden.“ (S. 16)

Bei Juli Zeh sind es Bestrafung, Folter, Umerziehung, wenn ein Bürger sich den Vorgaben entzieht und aus der Reihe tanzt. Die Realität hat keine erzieherischen Ideen und so gibt es weder Bestrafung noch Folter oder Umerziehung. Die Realität  macht zu Geld, was sich zu Geld machen lässt, zur Not auf Kosten unserer Privatsphäre, auf Kosten unserer Freiheit, auf jeden Fall mit unseren Daten, für die wir meist viel weniger erhalten als sie wert sind.

Juli Zeh (2009): Corpus Delicti, Frankfurt am Mein, Schöffling & Co

Jaron Lanier (2014): Wem gehört die Zukunft, Hamburg, Hoffmann und Campe (Besprechung folgt)

Die Sonntagsleserin: KW # 22 2014

Sonntagsleserin_2Die Bücherphilosophin hat die Idee zu dieser allwöchentlich-sonntäglichen Blog-Rückschau über die besonderen Blogleseerlebnisse der vergangenen Woche. Bei der Bücherphilosophin findet Ihr auch eine Liste der anderen Sonntagsleser, bei denen es immer vieles zu entdecken gibt.

Diese Woche stand vor allem im Zeichen der Diskussion um die Literaturkritik in Zeitungen und Blogs. Bei der Bücherphilosophin findet Ihr dazu eine komplette Sammlung aller Beiträge.

Dass ich die Blogs so schätze, weil sie mich auf Themen und Bücher aufmerksam machen, die nie ein Feuilleton besprechen würden, habe ich ja in meinem Statement zur Diskussion deutlich gemacht. Und – wie gewünscht – haben mir viele Blogs dazu wieder jede Menge Fundstücke geliefert in Form von Besprechungen von Büchern, die ich sonst nie entdeckt hätte, in Form von Artikeln und Interviews, die im Feuilleton eben nicht geführt würden.

Vielleicht hat Birgit von sätzeundschätze ja Recht, dass wir Blogger auf jeden Fall insofern schon unseren ganz besonderen Beitrag zur Literatur geleistet haben, als dass hier immer wieder auch Bücher besprochen und geteilt werden, die in den unabhängigen, kleinen Verlagen publiziert wurden und von den Feuilletons nicht so wahrgenommen werden; als dass sich hier einige Blogger auch ganz intensiv kümmern um die kleinen, inhabergeführten Buchhandlungen als Gegengewicht zu den großen Filialketten, die vor allem die Schnelldreher auf dem Stapel liegen haben.

Sophie hat im letzten Jahr die Reihe „Die Kleinsten werden die Größten sein“ angestoßen, eine Reihe über inhabergeführte Buchhandlungen, deren besondere Qualitäten, deren kulturelle Beiträge herausgestellt werde sollen. Diese Artikel hat sie nun auf einer eigenen Seite zusammengestellt und hofft natürlich auf weitere Zusendungen, damit sich eine vielfältige, eine bunte Seite mit vielen Adressen ergibt, ein bibliophiler Reiseführer eben.

Gesine hat in dieser Woche ein Gespräch geführt mit Stefan Weidle, der nicht nur selbst Verleger ist, sondern auch der Vorsitzende der Kurt Wolff-Stiftung, einer Vereinigung der unabhängigen Verlage, die so ein Gegengewicht zu den finanzkräftigen und damit kommunikationspolitisch sehr präsenten Konzernverlagen bilden wollen. In diesem sehr interessanten Interview spricht Weidle über die sich durch den Internethandel veröhdenden Innenstädte, das Monopolstreben amazons und die Auswirkungen des Wegfalls der Buchpreisbindung auf die Verlage, besonders die kleinen. Das alles sind – hier spielt wieder einmal das Geld eine große Rolle – keine guten Aussichten und Anlass für uns alle, über unsere Konsumgewohnheiten nachzudenken.

Und dann noch diese tollen Buchtipps:

Da ist zum einen Annas mitreißende Besprechung von Ian Mortimers Reiseführer zu nennen. „Im Mittelalter – Handbuch für Zeitreisende“ hat der Autor sein Buch benannt und erlaubt es uns, so hat Anna es dargestellt, über die Gattung des Reiseführers sehr tief in das Leben und die Lebensbedingungen der Menschen im 14. Jahrhundert einzutauchen.

Maren stellt uns zwei Reise(ver)führer in die Wüste vor. Beide Titel, einmal Otl Aichers „Gehen in der Wüste“, zum anderen Jürgen Werners „Wüstenwandern. Unterwegs am Rande der Unendlichkeit“, stellen uns eine Art des Reisens vor – nämlich das Gehen und Wandern – das ich nicht unbedingt mit einer Wüstenlandschaft in Verbindung bringen würde. Bilder gibt es dort anzuschauen, so beschreibt es uns Maren, und immer wieder auch der Hinweis auf Schönheit und Unwirtlichkeit der Umgebung.

Uwe empfiehlt uns Roberto Ampueros Roman „Der letzte Tango des Salvador Allende“, eine Geschichte, in der sich der Amerikaner David Kurtz 25 Jahre nach dem vom Amerika unterstützen chilenischen Militärputsch gegen die demokratisch gewählte sozialistische Regierung Allendes am 11.9.1973 auf die Suche macht nach dem Leben seiner Tochter zu dieser Zeit. Dabei beginnt Kurtz auch, seine eigene Mittäterschaft zu erkennen und zu reflektieren, denn er war in diesen Jahren für die CIA in Chile.

Die Klappentexterin hat diese Woche nicht nur Sabine Krays Buch über ihren Großvater, den „Diamanten Eddie“ vorgestellt, sondern auch noch ein Interview mit der Autorin geführt, in der Sabine Kray über ihren Schreibprozess Auskunft gibt, über ihre umfangreiche Recherchearbeit, über die unfassbaren Zustände in den Arbeitslagern und ihre, und ihres Vaters, ganz persönliche Annäherung an die Lebensgeschichte des Opas.

Eine schöne Lesewoche wünsche ich Euch.

Wo geht´s denn hier zur guten Literaturkritik? – Ein weiterer Baustein zur Debatte

LiteraturkritikIch habe in dieser Woche die durch Maras Beitrag angeregte Diskussion über Qualität und Innovativität der Literaturkritik in Printmedien und auf Blogs verfolgt. Seit gestern reizt es mich sehr, einen der vielen konstruktiven Beiträge zu kommentieren. (Eine Übersicht über die bisherigen Diskussionsbeiträge findet Ihr bei Mara oder bei Anna.) Aus dem Kommentar ist dann ein ganzer Beitrag geworden, die freie Zeit des Feiertags und das ewig nieselige Wetter haben hier ordentlich Vorschub geleistet. So möchte ich der Diskussion noch nun ein paar weitere, wahrscheinlich gar nicht mal taufrische, Ideen hinzufügen:

1. Die so komplexe und differenzierte Diskussion, die auf den Blogs zu lesen ist, macht schon einmal deutlich, dass hier eben nicht Dilettanten – im negativen Wortsinn – am Werk sind, sondern Menschen, denen nicht nur die Literatur am Herzen liegt, sondern die außerdem auch noch der Sprache und der Argumentation mächtig sind. Das sind doch mal ganz gute Voraussetzungen, finde ich, um meinungsbezogene Beiträge zu schreiben.

2. Die Blogs, denen ich folge, sind von Menschen geschrieben, die sowohl von ihrer Vorbildung als auch von ihrem Können – von Kompetenzen wird da ja aktuell gerne gesprochen – durchaus in jedem Feuilleton mitschreiben könnten, so gut und kenntnisreich sind sie gemacht. Auch wenn uns alle das Thema „Lesen“ oder „Literatur“ umtreibt, sind die Blogs doch so unterschiedlich und vielfältig, wie die Menschen, die sie betreiben, wie ihre jeweiligen ganz spezifischen Interessen und auch ihre verschiedenen Professionen, die sie in ihre Literaturwahl und Besprechungen mit einbringen. Und das macht für mich den unglaublichen Reiz aus, denn hier finde ich so vielfältige Hinweise auf Bücher, über die kein Feuilleton schreibt, und die mir so eine weite Buchwelt eröffnen, die ich selbst nie finden würde. Ein Großteil meiner Lektüre speist sich tatsächlich aus den Blogbeiträgen. So wie ich früher Zeitungen ausgewählt habe, deren Autoren mir einigermaßen verlässlich Einblicke in Lesenswertes geliefert haben, so wähle ich nun eben aus, welche Blogautoren mir, ebenso verlässlich, kundig und lesenswert, einen differenzierten Blick in die weite Welt der Bücher ermöglichen.

3. Anders vielleicht als politische Berichterstattung funktioniert Kulturkritik eben auch am eigenen Schreibtisch, benötigt keine große Redaktion, keine ganz vertiefte Recherche. So ist die Besprechung von Theateraufführungen, Filmen, Büchern auch als Tätigkeit neben einem Brot-Beruf möglich. Die Textsorte der Literaturkritik ist dabei so vielfältig, dass sie eine Menge an Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet. Immer wieder ist hier auch darüber zu lesen gewesen, dass viele Blogger sich ja durchaus kundig machen, welche Anforderungen an „gute“ Literaturkritiken zu stellen sind, so steht Stephan Porombkas Trainingsbuch „Kritiken schreiben“ in vielen Bloggerregalen.
Eine Rezension ist eine Sonderform des Kommentars, mithin ein Artikel der Meinungsäußerung. Und Meinungen zu Machart und Wirkweise eines Romans können nun einmal völlig unterschiedlich sein, wie leicht erkennbar ist, wenn Rezensionen unterschiedlicher Autoren angesehener Tages- und Wochenpublikationen zu einem Roman nachgelesen werden. Und in diesem Sinne können auch andere Menschen als die von Zeitungen entlohnten eine Meinung zu Literatur haben, wenn sie sie denn erklärbar und nachvollziehbar machen.
Und der medienwissenschaftlichen Kritik sei entgegengehalten, dass die verschiedenen Spielarten der Literaturkritik auch über die Zeit und die unterschiedlichen Medien hinweg ihren Stellenwert behalten, ähnlich wie dies ja auch für die geschriebene und gedruckte Reportage gilt, die als journalistische Textsorte aus einer Zeit vor der Kamera und dem Fernsehen stammt und auch heute noch ihre Daseinsberechtigung und ihre Fans hat. Auf der anderen Seite sind Literaturblogger vielleicht auch nicht gerade die Bloggergruppe, die sich mit den vielfältigen, innovativen Gestaltungsmöglichkeiten der Multimedialität auseinandersetzen, immerhin sind sie vor allem Leser und sind insofern in ihren Lese- und Schreibgewohnheiten dem seit Gutenberg bestehenden Ansatz des Textes verbunden. Und ganz ehrlich: Ich möchte keinen mit vielen Fußnoten versehenen Feuilletonbeitrag aus der FAZ als Blogbeitrag lesen, schon gar nicht irgendwelche hüpfenden, bunten Text-, Bild- und Tonschnipsel. Interessanterweise schreiben ja auch gerade die jüngeren Blogger, viel eher Digital Natives als ich, auch in der völlig alten, ach so langweiligen Form.

4. Verlage haben die Blogs durchaus als wichtige Multiplikatoren erkannt. So hat der DuMontverlag im letzten August eine mehrstündige Veranstaltung für 18 Blogger organisiert und vom Vertriebsleiter über die Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit bis zum Lektorat sechs oder sieben Mitarbeiter Rede und Antwort stehen lassen. Mit Blick auf die vielen Mitarbeiter (sprich: Personalkosten), die uns da einen Nachmittag lang den Verlag und das Verlagsprogramm des Herbstes vorgestellt haben, habe ich den Vertriebsleiter befragt, was er sich von dieser Veranstaltung verspreche. Und er hat ganz deutlich gemacht, dass der Beobachtung des Verlags nach die Diskussion über Literatur in die Blogs abwandere. Blogs haben, so erklärte er weiter, eine sehr zielgerichtete Leserschaft. Blogs haben viel weniger Streuverluste als Zeitungsanzeigen, die, weil mindestens drei Anzeigen für einen Titel geschaltet werden müssen, sehr teuer seien, die Zielgruppe aber nur am Rande erreicht werde. Natürlich ist völlig klar, dass so ein Tag der offenen Tür eines Verlages nicht als altruistische Veranstaltung geplant ist, sondern durchaus mit dem Ziel, die teilnehmenden Blogger positiv an den Verlag zu binden, sodass sie darüber schreiben und in Zukunft ein besonderes Auge auf die Publikationen haben. Das ist aber bei den Journalisten nicht anders, denn sie werden mindestens ebenso hofiert. So obliegt es unserem Umgang mit dieser Umwerbung, um, wenn gewünscht, Unabhängigkeit zu bewahren. Und das gilt auch für die vielen weiteren Aktionen verschiedener Verlage in den letzten Monaten, die, so ist zu beobachten, die Möglichkeiten des Social Media, des Story Telling, gerade beginnen zu erproben.

5. Zeitungen stehen vor großen ökonomischen Problemen. Ihnen brechen gerade beide Einnahmequellen weg: Die Anzeigenzahlen gehen zurück und die Zeitungskäufer wandern ins Internet ab, was wiederum die Anzeigenpreise negativ beeinflusst. In Zeiten, in denen Börsenberichte gleich mehrere Sendeplätze im Fernsehen haben, hat es die Kultur, die brotlose Kunst, nicht leicht, sich zu behaupten. So ist erkennbar, wie das professionelle Feuilleton sehr systematisch kaputt gespart: Es gibt immer weniger Rezensionen, die aber setzen sich meistens doch wieder mit den Schnelldrehern auseinander, für die auch Werbung geschaltet wird. So hat ja beispielsweise ein mit hohen Ambitionen und viele Jahre gut gemachtes Heft, die Zeitschaft Literaturen, letztendlich nicht überlebt. Und das Verhalten der Verlage, sollten sie denn mehr und mehr auf die sozialen Medien ausweichen, trägt zu dieser Entwicklung auch noch bei. Und auf der anderen Seite sitzen wir, die Hobby-Rezensenten, die nicht nur Konkurrenz sind, sondern auch „die Preise kaputt machen“.
Dabei – und ich habe wieder nur die renommierten Zeitungen im Blick – gibt es viele gute Beiträge, kunstvoll geschrieben Rezensionen, deren Lektüre alleine schon Spaß macht und die im positiven Fall auch dazu anregen, das Buch selbst zu lesen. Aber auch hier gibt es nicht immer nur die positiven Beiträge, sondern auch mal den vor inhaltlichem Dilettantismus strotzenden Artikel, sodass ich mir manchmal durchaus die Frage stelle, ob der Rezensent den Roman tatsächlich gelesen hat oder doch nur das kleine verkaufsfördernde Heftchen des Verlags. Also Glanz ist auch im bezahlten Feuilleton nicht grundsätzlich zu erwarten.
Dass die Feuilleton-Autoren die Blogbeiträge öffentlich nicht gerne sehen – sich dort heimlich aber auch schon ml inspirieren lassen, wetten, dass… – ist auch klar.

Gutes findet sich also hier wie dort. Und wenn die Blogger sich das Gute aus den gedruckten Rezensionen abschauen, können vielleicht auch die Literaturkritiker schauen, ob sie nicht auch etwas von den Bloggern nachahmen können. Im Moment bestehen beide Formen nebeneinander; wir werden sehen, wie sich das in Zukunft verändert und das hat sicherlich etwas mit den ökonomischen Entwicklungen zu tun.

Übrigens: Schon im Jahr 2006 lieferten sich die Tageszeitungen einen Kommentarschlagabtausch über die Bedeutung von Blogs. Es sind nicht literarische Blogs im Fokus gewesen, sondern es stand ganz allgemein das Phänomen des Bloggens im Vordergrund der Debatte. Die Argumente von damals sind auch heute nicht wesentlich anders. Nachlesen könnt Ihr die Artikel z.B. hier und hier.

Philipp Lepenies: Die Macht der einen Zahl. Eine politische Geschichte des Bruttoinlandsproduktes

LeoeniesJedes Jahr im Herbst veröffentlichen die Fünf Weisen das Herbstgutachten. Die Fünf Weisen stammen keineswegs aus dem Morgenland, sondern sind renommierte Wirtschaftsprofessoren, die mit ihrem Gutachten die wirtschaftliche Entwicklung des kommenden Jahres „berechnen“. Eine der wichtigen Kennzahlen, die sie veröffentlichen, ist die Schätzung des Bruttoinlandsproduktes, die andere nicht minder wichtige Kennzahl die der Wachstumsrate der deutschen Wirtschaft. Auf beide Kennzahlen wird mit großem Politik- und Medien-Interesse geschaut, die Verkündung der Zahlen ist die Vorhersage, wie es „uns“ im nächsten Jahr gehen wird. Groß also der Jubel, wenn sie üppig ausfällt, groß der Katzenkammer, wenn es nur einen Zuwachs von unter einem Prozent zu verzeichnen gibt, Weltuntergangsstimmung gar, wenn die Wirtschaft zu schrumpfen droht.

Was hat es mit dem BIP und der Wachstumsrate aber auf sich, dass Regierungen und Medien so auf diese Zahlen schielen? Und welche Aussage haben diese Zahlen wirklich? Zeigen sie tatsächlich an, wie „gut“ es uns geht, ist das BIP wirklich ein Indikator dafür, wie es um unseren Wohlstand bestellt ist? Und woher stammt die Idee zu einem Bruttoinlandsprodukt?

Diesen Fragen geht Philipp Lepenies in seiner gut lesbaren und auch mit Blick auf erzählenswerte Anekdoten angereicherten „politischen Geschichte“ der Spitzenkennzahl für volkswirtschaftliche Entwicklungen nach. Zunächst stellt Lepenies kurz die Begriffe „Bruttoinlandsprodukt“, „Bruttosozialprodukt“ und „Volkseinkommen“ als Grundlage der weiteren Erläuterungen vor. Dann zeigt er die Geschichte des BIP vor allem an der Einflussnahme dreier Forscher auf, die, in verschiedenen Jahrhunderten lebend, das Konzept einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung – so wie Unternehmen ja auch Interesse daran haben, Auskunft über ihren Erfolg zu bekommen – immer weiter vorangetrieben haben und das immer wider zu Krisenzeiten

Angefangen habe alles mit William Petty, der 1623 in England geboren wurde. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend und nach geradezu abenteuerlichen Umständen beginnt Petty ein Medizinstudium. Er studiert nicht nur in England, sondern auch in Utrecht, Leiden, Amsterdam und Paris und lernt so auch Thomas Hobbes und Descartes kennen. Gerade die experimentellen Naturwissenschaften mit ihren neuen wissenschaftlichen Methoden, mit Induktion, Empirie und Experimenten, faszinieren und beeindrucken ihn ebenso wie die bei dieser „Wissensrevolution“ (S. 26) entstandene Idee, durch die Anwendung dieser neuen Methoden so viel Wissen zu erlangen, dass der Mensch seine Umwelt verändern könne. So interessiert es Petty, die hier vorgeschlagenen Methoden auch auf andere Bereiche zu übertragen. Er entwickelt seine Datenanalyse weiter und kommt schließlich zu einer ersten volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung:

Durch einen angenommenen Betrag der Pro-Kopf-Ausgaben pro Tag (für Essen, Unterkunft, Kleidung und andere Notwendigkeiten) errechnete er anhand der geschätzten Einwohnerzahl von 6 Millionen einen gesamten Ausgaben- und Konsumbetrag von 40 Millionen Pfund pro Jahr. (…) Petty errechnete – oder genauer; behauptete-, dass die vorhandenen Vermögenswerte, vor allem auch der Grundbesitz, nur ein jährliches Einkommen im Wert von 15 Millionen Pfund generierten. Der Fehlbetrag von 25 Millionen Pfund musste sich also durch eine andere Einkommensquelle erklären, und zwar den Faktor Arbeit: Die durch Lohnarbeit erzielten Einkünfte ergaben laut Petty diese Summe.(S. 28 – 29)

Empirisch oder exakt ist nicht viel an dieser Studie zum Volkseinkommen Englands, aber für die Politik ließen sich aus diesen Daten erstmalig einige interessante und gänzlich neue Erkenntnisse gewinnen: Zum einen, so schienen die Daten zu belegen, war wohl die bisherige Annahme, das Einkommen des Landes stamme hauptsächlich aus dem Landbesitz, völlig falsch – und stützte auch ganz eigennützig die Position Pettys als einem der größten Grundbesitzer in Irland, das mit Hilfe der von ihm gezeichneten Karten nach der Niederschlagung des irischen Aufstandes unter den Engländer neu verteilt wurde. Zum anderen entdeckte man nun erstmalig, dass es sich lohnen könnte, die Einkommen aus Arbeit zu besteuern und 10 Prozent, so rechnete Petty vor, reichten, um ausreichend Soldaten und Seeleute unter Waffen zu halten, sodass die außenpolitischen Machtansprüche Englands auch umgesetzt werden könnten. Nun ist Petty sicherlich eine schillernde Gestalt in der Riege der Forscher, die die Berechnung des Volkseinkommens und dann des BIP im Laufe der nächsten Jahrhunderte weiter entwickelt haben.

Colin Clark, wiederum ein Engländer, entwickelte dann in den 1930er Jahren, nach der Weltwirtschaftskrise, Konzepte und Berechnungen, um das Wachstum auf der Grundlage der Spitzenkennzahl des „Volkseinkommens“ zu berechnen. Und in den USA machte sich Simon Kuznets, ein russischstämmiger Statistiker, daran, die Volksrechnung weiter fortzuführen. Dabei wendeten sie neue Ideen und Methoden an, brachten die Rechnungslesgung also ein Stcük weiter, aber durchsetzen konnten sie sich letztendlich nicht, weil sie keine politische Unterstützung fanden, denen in diesem Konzepten spielte der Staat keine Rolle bzw. es bestand die Auffassung, dass die Ausgaben des Staates dem privaten Konsum entzogen werden.

Die ersten nun auch methodisch akzeptablen Datenerhebungen zeigten, dass die Einkommen der privaten Haushalte in den ersten der 1930er Jahre um 50 % zurückgegangen sind. Diese Zahlen, Folge der Weltwirtschaftskrise, forderten die Politik heraus, die im Zuge des keynseianisch geprägten New Deals öffentliche Investionsmaßnahmen in großem Stil beschloss – und mit diesen Manßahmen tatsächlich eine Erhöhung des Volkseinkommens erreichte. Und so gewannen nun die Berechnungen an Bedeutung, die auch die Aktivitäten des Staates als einem Teilnehmer am Markt mit berücksichtigten, mithin das Bruttoszialprodukt. Mit dem Eintritt des USA in den Zweiten Weltkrieg und den nun notwendig werdenden Rüstungsausgaben, aber auch mit den staatlichen Aktivitäten in der Nachkriegszeit begann der Staat aktiv am Marktgeschehen teilzunehmen und dies sollte sich auch in der gesamtwirtschaftlichen Berechnung spiegeln. Und tatsächlich ließ sich statistisch nachweisen, dass die erhöhten Rüstungsausgaben nicht, wie noch von Kuznets befürchtet, zu einem Rückgang der Einkommen der privaten Haushalte führte, sondern sie erhöhten im Gegenteil den privaten Konsum.

So schien sich die Berechnungsmethode des Bruttosozialproduktes – auch mit Blick auf politische Entscheidungen – zu bewähren. Die Kritik, die Kuznets an dieser Methodik übte, nämlich dass sie gegebenenfalls für Kriegszeiten geeignet sei, auf keinen Fall aber für Friedenszeiten; dass die Ausgaben des Staates, wenn sie so erfasst werden, zu einer „Variablen“ werden lasse, „die sich durch politische Entscheidungen verändern lässt“ (S. 116), verhallten ungehört.

Und in Deutschland galt es nach dem Krieg echte Pionierarbeit zu leisten, denn hier gab es aus unterschiedlichen politischen Gründen keine statistischen Berechnungen des Volkseinkommens; da die nationalsozialistische Politik das Ende der Konjunkturzyklen versprochen hatte, brauchten auch kaum Daten erhoben zu werden: „Die Irrationalität, mit der die Nazis ihre Kriegsziele verfolgten, spiegelte sich auch in institutioneller Unübersichtlichkeit wider.“ Als dann die Amerikaner die wirtschaftliche Situation Deutschlands nach dem Krieg erfassen wollten, lagen dazu nur wenige Daten vor – und die mussten, wie in einem guten Agentenfilm, noch in dunkler Nacht aus Ost-Berlin „entwendet“ werden. So kam es auch in Deutschland zu einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nach angelsächsischem Modell. Dass sich hier keine Kritik an der Berechnung entwickelte, lag auch daran, dass die Zahlen komprimiert verdeutlichten, was jeder wahrnehmen konnte: den scheinbar unaufhaltsamen wirtschaftlichen Aufstieg des Landes, den Anschluss an den Lebensstandard – und an die Glückseligkeit – der USA und nicht zuletzt „Wohlstand für alle“, wie Erhard es als politisches Ziel formuliert hatte.

Lepenies zeigt uns die Geschichte des Bruttoinlandsproduktes, der mächtigsten Kennzahl der Menschheitsgeschichte, also auch als eine Geschichte der politisch beeinflussten Ökonomie, ihrer sich im Laufe der Geschichte wandelnden Ziele und Ideen, ihres Einflusses auf die Messung des Wohlstands und auch ihren Nutzen, den sie aus der Analyse der Kennzahl ziehen kann.

Indem er den Verlauf der Entstehungsgeschichte dieser Kennzahl erläutert, macht er uns deutlich, dass auch diese Kennzahl nicht die Realität abbilden kann, sondern höchstens eine Annäherung darstellt und dass diese Annäherung durchaus bestimmten – politischen – Einflussfaktoren unterliegt. Indem er die Geschichte des BSP vor allem aus der Sicht der drei Statistiker darlegt, die die Berechnungsmethodik weiter entwickelt haben, sich aber letztendlich mit ihren Konzepten nicht durchsetzen konnten, zeigt er auch Kritikpunkte an der Berechnungsmethodik auf.

Und so ist es doch schade, auch der Titel natürlich schon deutlich macht, dass es um die Geschichte des Bruttoinlandsproduktes geht und nicht um ihre kritische Würdigung, dass sich Lepenies nicht doch in einem ausführlichen Kapitel der seit den 1970er Jahren im wieder laut werdenden Stimmen über die Grenzen des Wachstums einerseits und der kritischen Aspekte in der Berechnung des BSP und der sich daraus ergebenden politischen Entscheidungen andererseits annimmt, um das Thema so in allen Perspektiven abzurunden, sodass wir Leser die Bedeutung der Berichts der Wirtschaftsweisen noch klarer einschätzen und beurteilen können.

Philipp Lepenies (2013): Die Macht der einen Zahl. Eine politische Geschichte des Bruttoinlandsproduktes, Berlin, edition suhrkamp

Die Sonntagsleserin: KW # 21 2014

Sonntagsleserin_2Die Bücherphilosophin hat die Idee zu dieser allwöchentlich-sonntäglichen Blog-Rückschau über die besonderen Blogleseerlebnisse der vergangenen Woche. Bei der Bücherphilosophin findet Ihr auch eine Liste der anderen Sonntagsleser, bei denen es immer vieles zu entdecken gibt.

Immer noch aus arbeitstechnischen Gründen sehr Blog- und Roman lesebeschränkt, habe ich aber doch in der vergangenen Woche an dem ein oder anderen Beitrag meine Freude gehabt und so einen Blick von meinem Schreibtisch in die große weite Welt tun können. Und was gab es da nicht alles zu sehen und zu lesen:

Literaturen hat den dritten Geburtstag gefeiert („Herzlichen Glückwunsch“ und großen Tusch), Bücherphilosophin und buechermaniac sind verreist (oh wie neidisch angesichts meiner Stapel-arbeit), muromez zeigt uns Autorenköpfe als streetart und Maren und Birgit liefern sich einen witzigen Bilderschlagabtausch um die schönsten maritim geschmückten Schaufenster

Lesenswerte Artikel:

Bei literaturundfeuilleton hat Nadine noch einmal die Reise Jörg Albrechts zur Buchmesse nach Abu Dhabi zusammengefasst, für deren Verlaufsbeschreibung sich nun der Titel kafkaesk tatsächlich aufdrängt. Zum Glück ist alles noch einmal gut gegangen und wir können froh und dankbar sein, in einem einigermaßen geordneten Rechtsstaat zu leben.

Über genau dieses Thema hat Navid Kermani am Freitag im Bundestag geredet. Kai zeigt sich von seiner Rede zum 65. Geburtstag unserer Grundgesetzes beeindruckt und hat dazu noch eine Linkliste zusammengestellt, in der wir auch die seit den 1960er Jahren üblichen reflexhaften rechts-links-Kommentare nachlesend bewundern können.

Mara hat eine Diskussion über Literaturkritik im Internet besucht und berichtet uns über die Standpunkte, die dort der Medienwissenschaftler Harun Maye und der Blogger und Journalist Stefan Mesch zum Thema vertreten haben. Und in schönster elektronischer Manier ist auf ihrem Blog schon eine rege Diskussionin Gang gekommen.

Anna Magdalena ist Sprecherzieherin und hat sich mit der Idee der alten Geschichtenerzähler auf eine einjährige Fahrradreise kreuz und quer durch Deutschland gemacht. Sie tritt auf, erzählt Geschichten, liest vor und bekommt im Gegenzug einen Schlafplatz und hoffentlich mehr als den sprichwörtlichen Teller Suppe zu essen. Mitte Mai ist sie gestartet und hat auf ihrem Blog schon einiges zu berichten, so in dieser Woche darüber, dass ein großes Golfhotel, das sie eingeladen hat, dann auch mal schnell absagt, wenn die Verantwortlichen im Hotel merken, dass ja doch nicht genug für sie herausspringt.

Und dann gab es auch noch tolle Buchbeiträge, manchmal wieder solche für den unendlichen Stapel:

Die Klappentexterin überzeugte mich von Chimamanda Ngozi Adichie Roman „Americanah“, einem Roman, der sich besonders um die Frage von Raassismus und Integration von in die USA ausgewanderten Afrikanern dreht – und sie auch wieder zurück in die Heimat begleitet. „Tief beeindruckt“ ist die Klappentexterin von dieser Geschichte.

Die Bücherliebhaberin hat Gunnar Deckers Biografie über Georg Trakl gelesen, von dem die meisten von uns sicher nur das ein oder andere Gedicht kennen. Die spannende Biographie Trakls, die seine eigene Familie möglichst zu verstecken suchte, passten Lebenswandel, Drogenkonsum und Selbstmordabsichten doch nicht in das Bild der bürgerlichen Familie, ist in einer Reihe des Deutschen Kunstverlages erschienen, die unter dem Titel „Leben in Bildern“ den biographischen Text mit vielen Fotos zusammenbringt und die darüber hinaus ganz „wunderschön“ gestaltet seien.

Und Flattersatz spürt bei der Lektüre von Marcel Cohens „Raum der Erinnerung“ noch einmal der unglaublichen Geschichte des als Kind durch Zufall der Deportation entkommenen Autors nach und erzählt uns, wie Cohen sich mit aller Kraft und allen Erinnerungen zum Trotz als Erwachsener ein Leben erkämpft.

Eine schöne Lesewoche wünscht Claudia

Die Sonntagsleserin: KW # 19 2014

Sonntagsleserin_2Die Bücherphilosophin hat die Idee zu dieser allwöchentlich-sonntäglichen Blog-Rückschau über die besonderen Blogleseerlebnisse der vergangenen Woche. Bei der Bücherphilosophin findet Ihr auch eine Liste der anderen Sonntagsleser, bei denen es immer vieles zu entdecken gibt.

Mein Bloglese in dieser Woche stand wieder ganz im Zeichen der Bücher. So habe ich einige Titel entdeckt, die ich gerne lesen würde, andere habe ich schon im Regal stehen, so dass meine Vorfreude nun noch größer ist.

Der Kaffeehaussitzer empfiehlt Peter Englunds Geschichten von neunzehn Menschen, die den Ersten Weltkrieg miterlebt haben und deren Leben er durch das Studium von Tagebüchern, Briefen oder Gesprächen mit Freunden und verwandten recherchiert hat. So entstehen kleine, private Geschichte über „Schönheit und Schrecken“, so der Titel, oder, wie es im Untertitel heißt, „Eine Geschichte des Ersten Weltkrieges“, wie sie in den Geschichtsbüchern nicht erzählt wird, weil uns Geschichtsbücher eben nichts darüber berichten, wie es den einzelnen Menschen ergangen ist: „Viel näher“, so schreibt Uwe resümierend, „ kann man der Zeit zwischen 1914 und 1918 nicht kommen.“

Auch auf Herberts Bücherblog, auf dem wir hören und sehen können, was Herbert liest, ist dieses Mal der erste Weltkrieg ein Thema, denn Herbert stellt uns Jean Echenoz Roman „14“ vor. Außerdem empfiehlt er  Teju Coles „Open City“ und ein vegetarisches Kochbuch von Yotam Ottolenghi.

Buecherrezensionen hat die literarischen Reportagen der argentinischen Journalistin Leila Guerriero gelesen, die den Lesern die Geschichten von Einzelpersonen vorstelle, so die eines im Rollstuhl sitzenden ehemaligen Wrestlers oder einer Giftmörderin, aber auch die Geschichte von Anthropologen, die versuchen, den Opfern der argentinischen Militätjunta einen Namen zu geben, indem sie ihre Knochen untersuchen und identifizieren. So schaffen es die Reportagen, so der Autor, uns einen „Einblick in die Gesellschaft des südamerikanischen Kontinents“ zu geben und zeige nebenbei noch, dass die Wirklichkeit (…) weiss man sie nur richtig zu erzählen, (…) eine schier unermessliche Fülle an Phantastischem in sich trägt.“

Mara hat sich der über 1000 Seiten des „Distelfinken“ angenommen – und ist begeistert von Donna Tartts Roman: „Es gibt keinen Satz, den man auch hätte streichen können“, so beurteilt sie die Geschichte um Theo Decker, der dreizehnjährig seine Mutter bei dem Besuch eines Museums verliert und dabei ihr Lieblingsbild vom Distelfinken, das sie beide gemeinsam betrachtet haben, mitgehen lässt und das den Romanhelden in seinem Leben weiter begleitet.

Gérard hat sich in Leonardo Paduras Roman „Ketzer“ gemeinsam mit Mario Conde, dem ehemaligen Polizisten, der sich nun eigentlich mit Kauf und Verkauf von antiquarischen Büchern beschäftigt, das Herumstöbern und Enträtseln aber auch nicht sein lassen kann, auf die Spur des Rembrandt-Bildes „Christuskopf“ gemacht, das der jüdischen Familie des Malers Elias Kaminsky gehörte. Auf den Spuren dieses Bildes wird die Familiengeschichte der Kaminskys beleuchtet, eine Flüchtlingskatastrophe im Hafen Havannas, aber auch Ketzervorwürfe aus dem 17. Jahrhundert. Ein „Manifest für Menschlichkeit, Toleranz und Freiheit“, so urteilt Gérard über diesen Roman. Ja, kann ich da nur sagen, der Roman steht schon im Regal und wartet.

Über John Williams Roman „Stoner“, der schon 1965 erstmalig veröffentlicht, nun aber erst ins Deutsche übersetzt worden ist, ist schon auf vielen Blogs viel Positives zu lesen gewesen. Auch buechermaniac hat der Roman so beeindruckt, dass sie gleich mal einen offenen Brief an den Autor schreiben musste, in dem sie notiert, dass nicht nur die Geschichte sie mitgerissen habe, sondern auch die Tatsache nachdenklich stimme, dass der Roman ja schon fast fünfzig Jahre alt sei, er damals aber keinen großen Erfolg hatte.

Zum Schluss sei noch auf die Gedanken des Verlagskaters Jethro zum „Tag der Arbeit“ verwiesen. Jethro hat seinen Artikel zwar schon in der letzten Woche veröffentlicht, ich habe ihn aber irgendwie übersehen – vielleicht wegen zu viel Arbeit rund um den tag der Arbeit :-).

Eine wunderschöne Lesewoche wünscht Claudia.

FO: Autumn Rose aus Isagers Hochlandwolle

ar_2Endlich fertig! Nach Jahren, nach langer, langer Existenz als UFO versunken und immer wieter versinkend in einem Wollkorb.

Nun habe ich mich doch erbarmt, das Strickmuster wieder hervorgekramt und endlich die Ärmel fertig gestrickt, alle Strickstücke zur Schneiderin gebracht, damit sie den in Runden gestrickten Körper und die zusammen ebenfalls rund gestrickten Ärmel absteppen und aufschneiden kann und dann „noch eben“ die Knopfleiste und den Halsauschnitt gestrickt – bei 2,5er Nadeln und bei der Länge der Kanten, hat das noch einmal ganz schön lange gedauert.

Der Autumn Rose Pullover gefällt mir ja schon seit ein paar Jahre, allerdings mag ich Pullover aus Wolle nicht so gerne – viel zu warm in immer überheizten Räumen – und stricke deshalb lieber Jacken. Außerdem hat das Pullimodell nur dreiviertel Ärmel und einen riesigen sommerlichen Halsausschnitt. Also habe ich einen anderen Entwurf gesucht und bin in der Verena  bei einem Strickmantel fündig geworden.

Verstrickt habe ich Isagers schottische Hochlandwolle, die es nun schon gar nicht mehr gibt. Sie ist schön dünn (dadurch dauert die Strickerei natürlich ewig) und bietet sich deshalb zur Vielfarbstrickerei an, ohne dass man eine doppelfädige  Jacke für polare Eiszeiten bekommt :-). Sie ist aber trotzdem so fest, dass es auch bei Nadelstärke 2,5 kein durchsichtiges Strickstück wird – ein echter und gar nicht mal selbstverständlicher Vorteil des Garnes, wie ich jetzt bei der einfädigen Strickprobe von Holst Noble-Garnen gemerkt habe.ar_4

Streichel- und super-kuschelweich ist das Gar nicht, es kratzt aber auch nicht – und ich bin da wirklich empfindlich. Und auch bei Frühlingstemperaturen kann ich die Jacke gut tragen – bin also nun doch sehr froh, mich endlich mit den Restarbeiten beschäftigt zu haben.

Trotzdem gibt es auch etwas zu mäkeln: noch einmal würde ich den breiten Bündchenstreifen nicht stricken, denn dadurch wird eine Farbe, hier das Rot, sehr donminant. ar_5

Und hier die wichtigen Angaben:

Strickmuster: Autumn Rose aus simply shetland 4, Unicorn Books and Crafts (2007), http://www.simplyshetland.net

Schnittmuster: Modell 9 aus Verena Winter/2009

Die Sonntagsleserin: KW # 18 2014

Sonntagsleserin_2Die Bücherphilosophin hat die Idee zu dieser allwöchentlich-sonntäglichen Blog-Rückschau über die besonderen Blogleseerlebnisse der vergangenen Woche gehabt. Bei der Bücherphilosophin findet Ihr auch eine Liste der anderen Sonntagsleser, bei denen es immer viele spannende Beiträge zu entdecken gibt.

Mich haben in dieser Woche die folgenden Artikel besonders interessiert, zum einen, weil sie meine Bücherliste vergrößerten, zum anderen, weil sie genau das Thema der übervollen Leselisten kritisch beäugten.

Leseschatz empfiehlt ein Buch über „die Vorzüge des Wartens“, das die Journalistin Friederike Gräff verfasst hat. Genau die richtige Lektüre für jemanden, der so ungeduldig ist, wie ich. Und als Wochenendtipp wird auf dem Blog nichts geringeres empfohlen als: EIN BUCH.

Wolfgang Schiffer ist von Island nach erst nach Wisconsin und dann mit Ishmael, dem Ermittler in einem Mordfall, nach Kenia gereist. Er empfiehlt uns den Roman „Nairobi Heat“ von Mukoma wa Ngugi, der nicht nur ein Krimi sei, sondern auch der Frage nachgehe, wie sich ein schwarzer Amerikaner in Afrika fühle. – Und nebenbei ist der Roman auch noch auf der SWR-Bestenliste Mai in der Rubrik „persönliche Empfehlung“ genannt.

Sophie hat sich, vielleicht wegen ihrer gerade anstehenden kaufmännischen Prüfung?, mit einem Wirtschaftscomic auseinandergesetzt und empfiehlt denjenigen von uns, die sich die Frage stellen „Wie unsere Wirtschaft funktioniert“ Michael Goodwins und Dan E. Burrs bebilderte Einführung in die Unwegsamkeit der Wirtschaft. Die beiden Autoren, so Sophie, bieten dabei nicht nur einen Üerblick über die Theorien vieler bekannter Ökonomen, sondern schlagen dabei auch den Bogen zur aktuellen Wirtschaftspolitik.

Atalante ist von ihrer Lektüre von Haruki Murakamis „Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ enttäuscht, denn sie konnte längst nicht so viele positive Eindrücke gewinnen wie sie bei den vielenm anderen Blogrezensenten und der Kritik im Feuilleto nnachzulesen sei.

Mara hat auf er Leipziger Messe ein ausführliches Interview mit den Schwestern hinter dem Verlag von binooki geführt, in dem nicht nur der Name, sondern auch das außergewöhnliche Verlagskonzept sowie die Entstehungsgeschichte erklärt werden.

Wie in der Modebranche, in der jetzt auch schon die Herbst- und Winterkollektion vorbereitet wird, bringen die Buchverlage dieser Tage die ersten Herbstprogramme heraus. Da stellt Sophie sich schon die Frage, wie wir denn umgehen mit dieser literarischen Fülle, ob es nicht zu einer Übersättigung komme. Als Service hat sie uns schon einmal die Verlagslinks hinterlegt und die aus ihrer Frage resultierende Diskussion können wir auch nachlesen. Auch Mara zeigt uns ein  Bild ihres vierteiligen ungelesenen Frühjahreslesestapels und fragt ebenfalls  in die Runde, wie wir mit der Fülle des Angebotes umgehen, hier nachzulesen.

Und wer bei dem tollen sonnigen Frühjahrswetter mal etwas ganz anderes tun möchte als zu  lesen oder über die großen ungelesenen Lesestapel nachzudenken, dem sei eine Wanderung auf dem Moselsteig empfohlen. Elke  berichtet über ihre Erlebnisse dort und hat ausführliche Wanderbeschreibungen hinzugefügt, Karten und  Bilder mit eindrucksvollen Ausblicken. Und Hund Spike ist auch mit von der Partie.

Eine wunderschöne (Lese-)Woche wünsche ich Euch.

Birgit Vanderbeke: Der Sommer der Wildschweine

VanderbekeBirgit Vanderbeke breitet in ihrem Roman vom „Sommer der Wildschweine“ ein Familien-Wimmelbild vor uns aus, oder – um im Bild eines der Themen des Romans zu bleiben – verknäuelt die Erlebnisse, Interessen und Erfahrungen Leos und Milans sowie ihrer Kinder Johnny und Anouk gehörig, um sie dann im Laufe der Erzählung zu entwirren und zu einem ordentlichen (Woll-)Knäuel aufzuwickeln. So wuseln also die unterschiedlichsten Themen vor den Augen des Lesers herum: die wirtschaftlich immer höchst gefährdete Situation von Einzelunternehmern, die von jeder Wirtschaftskrise betroffen sind, die Hausbesetzerszene im Frankfurter Westend in den 1980er Jah-ren, das strickende soziale Netzwerk ravelry, die Kunst des Bloggens, der Bau von Lautsprecherbo-xen für anspruchsvolle Kunden, Strickdesigns und hochwertige Garne, Keywords im Zeitalter des Contents, Hilfe für ölverschmierte Pinguine, Pervasive Computing, Unwetterkatastrophen im Fern-sehen, Industrial Design, PETA, 3-D-Programmierung, die wirtschaftlichen Interessen einer Ölgesellschaft – und eben Wildschweine.

Über Wildschweine, so berichtet Leo, die Ich-Erzählerin dieses Fadengewirrs, habe sie gerade letztens einen knappen Artikel gelesen, der eigentlich nur Content gewesen sei, ein Text zu einem Bild, für ein paar Cent von einer Content-Agentur gekauft und entsprechend schlecht geschrieben: Wildschweine, so hat sie dort gelesen, seien vor einhundert Jahren fast ausgestorben gewesen, lebten nun aber mehr und mehr in den Großstädten und vermehrten sich exponentiell, sodass sie durchaus zu einer Gefahr für die Menschen werden können. Leo hätte diesen Text fast schon wieder vergessen, wenn sie sich nicht so darüber geärgert hätte, dass der Verfasser wohl immer noch die in der Schule gelernte Vorschrift nicht überwunden habe, nie auf einer Seite zweimal dasselbe Wort zu benutzen. Diese eiserne Regel habe dann in dem Wildschwein-Artikel dazu geführt, dass der Autor die Vermehrung beim zweiten Mal mit „explosiv“ beschrieben habe – was ja nun einmal völliger Blödsinn sei, nämlich komplett unlogisch und gegen alle Regeln der Mathematik.

Nun, in Südfrankreich, in einem kleinen Dorf im Languedoc, erinnert sie sich aber wieder an den Wildschwein-Artikel, weil ihr Ferienhaus, dass das Elternhaus von Jeremiah, einem Kollegen ihres Mannes Milan ist, nämlich von einem hohen Zaun umgeben ist – aus Schutz vor den Wildschwei-nen, die immer häufiger aus den Cevennen in die Täler kommen und alle Gärten und Anbauflächen über Nacht komplett zerstören und dabei die Bauernhoftiere gleich mit. So erklärt es Pierre, der Verwalter der Ferienhäuser. Und er bittet sie, den Zaun doch im Blick zu behalten, es würden in letzter Zeit nämlich häufig die Zäune über Nacht zerschnitten, sodass die Wildschweine leichteres Spiel haben. Und er hat weitere Hinweise und Tipps. So warnt er beispielsweise davor, das Wasser aus dem Wasserhahn zu trinken – es sei zwar in Ordnung, aber man wisse ja nie. Und für den Fall, dass sie seismische Fahrzeuge sehen, dann sollten sie das doch bitte umgehend bei der Kommune melden. Abschließend warnt er vor einem „Wetter“, dass für die nächsten Tage vorhergesagt werde, Leo und Milan sollen sich doch mit Lebensmitteln eindecken, es können hier in der Gegend auch leicht zu Überschwemmungen kommen.

Bis der Leser Pierre kennengelernt und einen ersten Blick auf Jeremiahs Elternhaus und den Swimmingpool geworfen hat, hat er schon die ganze Familiengeschichte Leos und Milans seit ihrem ersten und seit dem letzten Urlaub damals nach Studienende und vor der Geburt Johnnys geworfen. Er weiß nun, dass Milan und Leo als Selbstständige von allen Krisen der Wirtschaft als erste betrof-fen sind und deshalb immer mehrere Standbeine brauchen: Knickt das eine weg, sind noch die anderen da, um die Heizung für den nächsten Winter und die Miete zahlen zu können, besonders wichtig, seit die Kinder da sind. Denn Wirtschaftskrisen, so Leos Beobachtung, treten immer im Herbst auf, weil im Herbst immer Wahlen in den wichtigen Ländern stattfinden und außerdem diejenigen aus dem Sommerurlaub zurück sind, die solche Wirtschaftskrisen organisieren können,

die Parlamentarier und Premierminister, die Kanzler und Studienräte und wer sonst noch in den Sommerurlaub fährt, um sich anschließend frisch erholt und frohgemut dem Zusammenbruch logis-tisch widmen zu können, bevor im Winter das Heizen dran ist und wir uns fragen, wie wir die nächste Miete zahlen sollen. (S. 9)

Der Leser weiß auch, was Milans verschiedene Standbeine sind, denn nachdem die öffentliche Hand bei der Wirtschaftskrise zur Jahrhundertwende amputiert ist und deshalb nicht mehr zahlt, organisiert er Events für Dennis, der immer kurzfristig wichtige Planänderungen hat, baut Lautspre-cherboxen und betreibt einen eigenen Blog. Und Leo, die lange für eine Frauenzeitung Glossen geschrieben hat, bis die Verlagsleitung erkannte, dass die Redaktion altersmäßig nicht mehr der Zielgruppe entspricht und alle Mitarbeiter „freigesetzt“ hat, textet Inhalte nach Anfrage, egal ob Promi-Texte oder als Technical Editing, und achtet dabei sehr auf die CPC, weil das die neue Wäh-rung beim Erstellen von Content ist. Johnny hingegen hat sich schon als Kind für Wunschwelten und Tierwelten aus 3 D interessiert, ist also in die IT-Branche eingestiegen und programmiert. Anouk hat sich schon als Kind fürs Stricken interessiert, ist mittlerweile eine gefragte Teststrickerin für die Designerinnen, die ihre Modelle auf ravelry vorstellen und verkaufen, und hat die Familie bei der letzten Wirtschaftskrise gemeinsam mit dem Bruder gerettet, indem sie eine einfach hand-habbare Pullover-Software entwickelten, die Leo nun auf ihrer Homepage erfolgreich verkauft.

Das und tausend kleine Einzelheiten mehr also hat der Leser schon erfahren, bevor der „Wetter“ überhaupt losbricht, denn Leo erzählt ihre Geschichte nicht nur sehr amüsant, sondern auch höchst assoziativ, kommt vom Hundertsten ind Tausendste, findet aber immer ihren roten Faden wieder. Ganz selbstkritisch beschreibt sie diese Art des Erzählens so:

Aber das ist eine andere Sache, weil Milan und ich, wenn wir Zeit haben, sehr leicht von einem Thema zum anderen und zu noch einem weiteren Thema kommen, deshalb langweilen wir uns auch nie, nur wissen wir hinterher nicht mehr genau, wie wir dahingekommen sind, aber weil wir uns immer von einem Thema zum anderen durchs Leben erzählen, langweilen wir uns eben nie. Nur ist das Erzählen in der letzten Zeit etwas aus der Mode gekommen, so ähnlich wie das Selbermachen, deshalb machen wir es meistens nur noch, wenn wir allein sind oder mit den Kindern (…). (S. 91)

Das leichtfüßige Wechseln von Thema zu Thema ist dabei wohl nicht nur eine besondere Marotte beim Erzählen zu sein, sondern auch ein Lebensmotto, das es ihnen ermöglicht, durchs Leben und seine Verwerfungen zu balancieren, aus jeder Situation das Beste zu machen, aus jeder misslichen Lage irgendwie doch wieder auf die Füße zu fallen. Das sind die viel gepriesenen Eigenschaften von Anpassungsfä-higkeit, Flexibilität, vom ständigen Suchen nach einer neuen Chance, um am Markt der Möglichkei-ten immer dabei sein zu können. Bei Leo liest sich das, vor allem aus der Rückschau, so einfach, so spielerisch. Dass sie, gerade in diesem Sommer, auch Ängste und Sorgen hat, dass sie immer wieder das Gefühl hat, der Bogen wackele unter ihren Füßen, sei unsicher, davon ist nur ab und zu, in einem Nebensatz sozusagen, die Rede.

Und offensichtlich hat Leo gerade ganz viel Zeit oder hat den Leser schon als Kind adoptiert, denn sie plaudert und assoziiert sich hier durch ihre Geschichte, dass es eine wahre Wonne ist. Dabei scheint sie bei Kaffee oder Wein mit dem Leser auf einer lauschigen Terrasse zu sitzen, jedenfalls spricht sie den Leser direkt an und nimmt immer mal wieder seine möglichen Reaktionen und Ein-wände vorweg. Und zuhören kann man Leo wirklich gut. Ihre Erzählung kommt daher wie eine gute Kabarettnummer, es gibt unglaubliche Bezüge, Running Gags, falsche Verallgemeinerungen, das gesamte Repertoire unterhaltsamen Erzählens, das so gut zu Anpassungsfähigkeit und Flexibili-tät, so wenig zur Sorge über den schwankenden Boden passt.

Und dann kommt sie endlich zum lange Angekündigten, das angekündigte Unwetter zieht heran, es regnet und stürmt eineinhalb Tage, der Strom bricht für fast eine Woche zusammen, die Verbindung zur Außenwelt, zu Kindern und Kunden, wird gekappt. Als es aufhört zu regnen kommt Pierre kommt vorbei und nimmt Leo und Milan mit zu einer Versammlung der meist älteren Dorfbewoh-ner, die über den Stromausfall reden und die immer wieder zerschnittenen Zäune, die Wildschweine und das aus unerfindlichen Gründen abgebrannte Haus der merkwürdigen Engländerin, die in den Bergen eine Spinnerei hochwertiger und betörend schön gestalteter Garne betrieb. Höchste Zeit also für Leo und Milan, ihre Kenntnisse und Fähigkeiten einzubringen, um den dubiosen Tätigkeiten der Ölgesellschaft in den Bergen Einhalt zu gebieten. Wie gut, dass in Leos Familie nicht nur die wi-derständigen Erfahrungen aus der Frankfurter Hausbesetzerszene, sondern auch noch Kenntnisse im Lautsprecherbau und im Pervasive Computing vorliegen, von den Kenntnissen rund um die guten und tiergerecht entstandenen Garne mal ganz abgesehen…

Und dann, so mitten in ihren Erzählungen und Ausschweifungen, genau dann, wenn der Leser zutiefst neugierig ist, was denn Leos Familie und die Dorfbewohner auf die Beine gestellt haben, ob aus der Spinnerei wieder etwas geworden ist und was aus Anouk und dem gut aussehenden Kana-dier – genau da hört Leo zu erzählen auf und lässt den Leser mit seinen tausend Fragen nachdenk-lich auf der lauschigen Terrasse sitzen.

Birgit Vanderbeke (2014): Der Sommer der Wildschweine, München, Piper Verlag