„Als nur die Tiere lebten“ ist für die dreijährige Anna der Ausdruck dafür, dass etwas aus einer Welt stammt, in der es noch keine Menschen gab, dass etwas also „sehr lange“ her ist – und dabei ist das Gestern durchaus mit eingeschlossen. Und tatsächlich erzählt Zsófia Bán fünfzehn Geschichten aus verschiedenen Zeiten, von verschiedenen Orten, von verschiedene Menschen und nimmt so den Leser mit in eine Zeit, als nur die Tiere lebten.
Da freut sich Maja zum Beispiel schon seit langem auf das Rolling-Stones-Konzert am 18. August 1990 in Prag. Deutlich sichtbar hängen zwei Karten an der Pinnwand, die endlich, endlich den Jugendtraum in Erfüllung gehen lassen,
dass es einmal, in einer anderen Welt, auf einem anderen Planeten, einem anderen Sonnensystem ein Stones-Konzert geben wird, das sie besuchen können, und dann werden sie gerettet sein, dann werden sie davongekommen sein. Wie wenn die Titanic mit dem Eisberg kollidiert, und, o Wunder, nicht die Titanic, sondern der Eisberg untergeht. (S. 46)
Die andere Welt ist nun da, dafür braucht Maja gar nicht den Planten zu verlassen und in ein anderes Sonnensystem zu reisen. Auch die Erinnerung an Panzer, die an den Straßenecken stehen, gehören zur Vergangenheit. Das Rolling-Stones-Konzert also steht symbolisch für alles, was sich verändert hat, für die Erfüllung aller Jugend- und Erwachsenenträume. Aber Erika, die Freundin, für die die zweite Karte ist, sagt ab – und für Maja bricht eine Welt zusammen. Dass die Welt möglicherweise gerade an einer ganz anderen Stelle in ihrer Familie zusammenbricht, das kann sie nun in ihrem übergroßen Kummer gar nicht wahrnehmen.
Da versucht sich, in einer anderen Geschichte, Katalin an ihre Kindheit, ihre Jugend zu erinnern. Sie ist weggegangen aus Ungarn; im Frühjahr 1958 ist sie, eine Pianistin, von einer Auslandstournee nicht nach Hause gekommen. Eine ganz und gar unglückliche Liebe hat sie da schon zwei Jahre hinter sich und sie will nie mehr wieder etwas mit der Musik zu tun haben, die sie so an diese Liebe erinnert. Katalin ist nach Brasilien ausgewandert, hat sich in einem Hutsalon probiert, dann Musikinstrumente verkauft, davon verstand sie schließlich etwas – und die brasiliansiche Musik ist so weit enrfernt von der klassischen, die sie in Europa gespielt hat, dass sie sie nicht an ihr Unglück erinnert. Nach diesen vielen Jahren aber hat sie erkannt, dass ihr etwas fehlt im Leben, nämlich die völlig verdrängten Erinnerungen an Budapest und die Menschen dort:
Ich habe mein Zehnmillionen-Land verlassen. Ich habe die Erde gesehen. Ich habe die Jahrzehnte gelebt. Die Zeit hat mein Gesicht in eine viereckige Form gegossen. Aber ich habe keine Erinnerung mehr. (S. 54)
Nun erprobt sie verschiedene Wege sich zu erinnern: Sie versucht es, indem sie die verschiedenen Gerüche Budapests erinnert, den „charakteristischen Verwesungsgeruch des Mülls der Vergangenheit“ oder den „Glücksgeruch der unter der Theke herausgereichten, nicht existenten Waren“. Sie versucht es über das Sehen, das Schmecken und das Tasten. Nichts funktioniert richtig, bis ihre Schwester Marcsi sie überredet, sie zu einem Wohnzimmer-Konzert zu begleiten – und die Musik dort alle Dämme bricht.
Zsófia Bán erzählt ihre Geschichten auf eine ganz unnachahmliche Art und Weise. Jede beleuchtet ein Stück des Lebens seiner Protagonisten, zeigt sie meistens in einer schwierigen, einer aufwühlenden Situation – mehrere erzählen von unglücklichen Lieben, mehrere von dem schwierigen Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, eine von der Geburt eines Kindes, eine von einer Mutter nach einem Autounfall, bei dem wahrscheinlich der Sohn gestorben ist, eine von der Ankunft in Brasilien und den samstäglichen Ausflügen in den Schlangenzoo, in einer versucht eine verzweifelte alte Frau, ihre Organe zu verkaufen, ihre Rente reicht eben vorne und hinten nicht.
Und immer wieder ist auch vom Fotografieren die Rede, von Bildern und Filmen und wie es ist, sie zu betrachten. „Ein Bild hat ein eigenes Gedächtnis“, wird da in der Erzählung der „Kurzen Geschichte der Fotografie“ festgehalten, denn allein das Bild weiß, was vor und was nach dem Fotografieren passiert ist. Der Betrachter dagegen sieht nur diesen eingefrorenen Moment. Es ist dies das poetische Prinzip der Erzählungen, dass, ausgehend vom Betrachten eines Bildes eine Geschichte entwickelt wird, wie das Vorher und das Nachher gewesen ist oder wie es hätte sein können für die Personen auf der Fotografie. Auf diese Weise entstehen Erzählungen, die, auch wenn sie nur die unmittelbaren Geschichten rund um das Foto erzählen sehr vielschichte Leben vor unserem Auge entstehen lassen, von Menschen, die, trotz aller Widrigkeiten, in der sie sich befinden mögen, einen großen Überlebenswillen besitzen. Die fünfzehn Erzählungen also wirken für sich – und zum Lesegenuss trägt auch die besondere Sprache Báns bei, diese Fülle von überzeugenden, anregenden, anschaulichen und überraschenden Bildern, von besonders kunstvollen Formulierungen.
Aber es passiert etwas Weiteres, während man die Geschichten liest: Plötzlich fangen sie an, ein Eigenleben zu führen. Da beginnt sich ein Hinweis in der einen Geschichte auf eine Bemerkung in einer anderen zu beziehen, da taucht ein Name auf, den man schon einmal gelesen hat, ein Motiv auf einem Foto, das schwarz-weiße mit dem gezackten Rand, wird ein paar Mal erwähnt, über einen Vater mit einer Kamera ist zu lesen, immer wieder sind da die Erinnerungen an eine Mutter mit der Schemtterlingssonnenbrille. Legt man dann das Buch zur Seite, so spinnen sich die Geschichten weiter fort, verbinden sich miteinander, bilden kleine Netze, die sich zu größeren zusammenschließen. Und nimmt man das Buch erst noch einmal zur Hand, blättert darin, liest an dieser Stelle oder an einer anderen, so ergeben sich noch weitere Bezüge und bilden auf einmal Geschichten von ein oder zwei Familien über mehrere Generationen ab.
Einmal erzählt Anna, eine Erzählstimme, der gleich meherer Geschichten zugeordnet werden können, dass sie neben den Fotos, die ihr Vater immer mit seiner Leica gemacht habe, nun auch die Filme gefunden habe, die ihr Vater gedreht hat, als sie ein Kind war. Wie es sich „für einen vorsichtigen Altwarenhändler gehört“, so erzählt sie, habe sie die Filme auf Video kopieren lassen, „so, wie sie hintereinander kamen, in einer vom Zufall bestimmten Reihenfolge, ohne zu betrügen, mit Leichtigkeit“. Und so, wie diese Filme in der nicht chronologischen Reihenfolge hintereinander zu sehen sind, so, wie Anna die „richtige“ Ordnung der Filme erstellen muss, so ist beim Lesen der Erzählungen Báns der Leser gefordert, die dekonstruierten Lebensgeschichten wieder zu rekonstruieren. Das ist fordernd, an einigen Stellen auch überfordernd, aber eine ganz spannende und fast selbstständig sich entwickelnde Detekivarbeit, die Zsófia Bán hier so klug angelegt hat.
Letztendlich entwickelt sich vor den Augen des Lesers die Geschichet einer Familie (oder mehrerer Zweige einer Familie) fast über ein ganzes Jahrhundert. Die Geschichten zeigen die privaten Tragödien der Menschen, immer aber auch vor dem Hintergrund der politischen Umstände, des Kriegs und des Holocaust, des Sozialismus, des Weggehens aus Ungarn, des Fliehens, der Rückkehr, der Wende und ihrer Folgen. Und so entsteht vor dem Auge des Lesers ein unglaublich komplexes Bild, das viel komplexer ist, als die Geschichten dies einzeln ermöglichen können. Und plötzlich macht alles einen Sinn, auch der fehlende Verweis des Verlags, um welche Gattung es sich bei diesem Text handelt und sogar das merkwürdige Bild einer Schnee- und Eislandschaft, die weder nach Ungarn noch Brailien passt, auf dem Schutzumschlag.
Wer also in den Familienfotos blättert, egal, ob diese chronologisch und jeweils beschriftet in ein Album geklebt, oder chaotisch in einer Pappschachtel gesammelt wurden, wer also in eine Zeit eintaucht, „in der nur die Tiere lebten“, der kann die auf den Bildern nicht sichtbaren Teile des Eisbergs erinnern – oder sich diese auch ausmalen.
Zsófia Bán (2014): Als nur die Tiere lebten, Berlin, Suhrkamp Verlag
Tolle Besprechung! Die macht richtig Lust auf das Buch, zumal ich Erzählbände auch sehr gerne lese. Wird für bessere (freie) Zeiten vorgemerkt, liebe Claudia, du stetige Erhöherin meines SUB. Ja, da klingt ein leiser Gegenvorwurf durch 🙂
Den Vorwurf überhöre ich einfach. liebe Birgit. Wer im Steinhaus sitzt… Du weißt schon :-). Und für meinen Geschmack ist es ein wirklich lohnendes Buch auf dem SUB – ich habe schon lange nicht mehr ein Buch gelesen, das auf diese unterschwellige Art den Leser so mit einbezogen hat. Und toll erzählt und formuliert sind die Geschichten auch noch. Ich bin gespannt, was Du in besseren Zeiten dazu schreibst!
Viele Grüße, Claudia
Vielleicht lese ich auch nur, und schreibe nichts…das mach ich auch ab und an 🙂 Jedenfalls nochmals: Eine anregende Besprechung, eigentlich ein ganz großer Stein, den Du da durchs Glashaus wirfst 🙂 🙂 🙂
Der Stein sollte auch extra groß sein, denn mir hat der Text richtig gut gefallen. Du liest die einzelnen Geschichten, die schon an sich gut sind (besser als die von von Düffel) und nebenbei fällt Dir auf, wie es in Deinem Kopf zu arbeiten anfängt und Du die Bezüge herstellst. Das ist richtig toll gemacht und ich wüsste keinen Text zu nennen, bei dem es mir ähnlich ergangen ist. Mich hat es also gepackt, das Buch aus der Zeit „Als nur die Tiere lebten“.
Und wieviel Lust auf das Blättern in den Familienbildern und das Finden, Zusammenstellen und Weiterspinnen der Geschichten du weckst, liebe Claudia! Ich danke für diese feinfühlig-bildhafte, beinahe schon poetische Besprechung.
„Als nur die Tiere lebten“ ist ja eigentlich auch genau die richtige Lektüre für Dich, liebe Maren, weil ja das Fotografieren (und Filmen) so ein wichtiges Motiv ist. Es ist im Roman dann so, wie auch auf Deinem Blog: Es gibt ein Bild und dann ein Weiterspinnen und Assozieren. Und es gibt ein Erinnern, nämlich dann, wenn die Bilder aus dem eigenen Familienalbum stammen. Vielleicht konnte ich Dich ja ein bisschen neugierig machen mit meiner Besprechung, die Du dann so nett lobst (sitze hier mit ganz roten Ohren).
Viele Grüße, Claudia
Ein bisschen? Das war eine ordentliche Schippe leckerstes Neugier-Futter. Ich freu mich schon auf den Schmaus. Sonnige Grüße! 🙂
Oh, das ist ja schön! Dann hoffe ich, über Deine Lektüreeindrücke lesen zu können.
Ganz südliche sonnige Grüße, Claudia
Huch, da hat mein WordPress-Reader mir doch glatt diesen Beitrag unterschlagen wollen – ob der sich mit meiner Liste verbündet hat? Ich wollte mich nämlich nur schnell vergewissern, dass du nach Nairobi Heat nichts gebloggt hast, und schwupp, ist doch ein neuer Beitrag da, den mir der Reader nicht angezeigt hat. Und auch wenn ich Erzählungen nicht ganz so gern lese wie Romane, macht mir deine Besprechung extrem Lust auf dieses Buch. Von wegen Netze, die sich da spinnen. Dir liebe Grüße, diesmal nicht aus dem Regen, sondern aus den Tropen in Mitteldeutschland. Anna
Da freue ich mich aber, dass Du den Beitrag doch noch gefunden hast, liebe Anna. Manchmal spinnt der ja wirklich, der word-press-Reader, und zeigt tatsächlich den ein oder anderen Beitrag nicht an, dann wundere ich mich irgendwann einmal, dass es zwischendurch den Beitrag zu dem und dem Buch gegeben hat, der mir völlig durch die Lappen gegangen ist. Es ist irgendwie doch nicht alles so perfekt. – Ich bin ja auch ncht der Erzählungs-Fan und nach von Düffel fühlte ich mich darin auch bestätigt. Aber Zsófia Báns Geschichten sind da ganz anders. Und ich habe in meinem Beitrag nicht ein Viertel von dem beschreiben, was es sonst noch zu entdecken gibt! Allein schon die Geschichte rund um das erste Röntgen-Bild der Hand von Röntgens Frau. Toll! Also ran an die „Tiere“. Dafür verspreche ich auch einen weniger euphorischen nächsten Beitrag, ehrlich. (Aber nur einen! 🙂 )
Viele Grüße aus den gut temperierten Bergen (abends mit Pulli 🙂 ), Claudia