Wale scheinen gerade in der Literatur groß in Mode zu sein. Einmal schwimmt einer titelgebend durch London, einmal strandet einer nach einem Unwetter auf einem Dorfplatz in Island. Auch Heinrich Steinfest setzt in seinem Roman „Der Allesforscher“ auf den Wal. Bei ihm erscheint der Wal in modernen Versionen, trotzdem aber mit deutlichen Bezügen zur biblischen Jonas-Geschichte. Um einen Auftrag scheint es auch hier zu gehen, um ein Überleben – ein Wiedergeborenwerden ?- in stürmischer See und um die Frage nach Schicksal und Zufall.
Steinfests Geschichte fängt damit an, dass sein Protagonist Sixten Braun ein Organ eines gestrandeten Wals, der beim Transport durch die Innenstadt von Tainan, einer Stadt im Süden Taiwans, explodiert, so unglücklich an den Kopf bekommt, dass er mit einem Schädel-Hirn-Trauma in einem Krankenhaus landet. Sein Zwei-Tages-Koma wird dort von der deutschen Gehirnspezialistin Dr. Lana Senft fachkundig betreut – und natürlich verliebt sich Sixten beim Erwachen postwendend in sie. Vielleicht passiert dies, so erklärt er es sich, weil sich durch das explosionsartig durch die Luft gesauste und vor seinem Schädel gelandete Walorgan doch einige Regale verschoben hätte, „weil ein Schwärmer war ich nie gewesen“. Jedenfalls betreibt er, der in Deutschland verlobt ist und vorhat, demnächst zu heiraten, seine Annäherungen an Frau Dr. Senft ziel- und planvoll – und durchaus mit Erfolg. Obwohl Dr. Senft lieber beim „Sie“ bleibt und sich auch nicht ausziehen möchte, schlafen sie miteinander. Und weil Sixten, der im Auftrag des IT-Unternehmens Weyland in Asien unterwegs ist, Lana unbedingt wieder sehen möchte, vereinbart er mit seinem Chef, dass er nach einer Besprechung in Japan noch einmal nach Taiwan zurückkehren kann.
Und nun kommt es zu einem zweiten folgenschweren Unglück: Die Maschine, in der Sixten auf dem Rückflug von Japan sitzt, stürzt in einem schweren Unwetter im chinesischen Meer ab. Durch die unwahrscheinlichsten Umstände überlebt Sixten den Flugzeugabsturz. Zum Beispiel, weil er in der Nähe des Hüllenbruchs sitzt und sich im Moment des Herausgespültwerdens aus dem Flugzeug an seinen Nachbarn klammert, der, im Gegensatz zu ihm, seine Schwimmweste trägt. Sixten, der irgendwann im Besitz wahrscheinlich genau dieser Schwimmweste ist, wird im stürmischen Wasser an eine Forschungsboje getragen, die da unbemannt im chinesischen Meer Sicherheit und Rettung bietet. Am nächsten Tag wird er von dieser Boje geborgen (schon wieder das Bild eines Wals, aus dessen Bauch Sixten nach dem Unwetter unversehrt steigt!), nunmehr tatsächlich als einziger Überlebender.
Sein Chef, der ihn umgehend nach Deutschland zurückbeordert, erkennt das zweimalige Überleben einer Katastrophe als Zeichen; er will ihn fortan in Köln in der Produktanalyse einsetzen und auf keinen Fall mehr um die Welt reisen lassen:
Wenn jemand so oft zur falschen Zeit am falschen Ort ist, zeugt das entweder von seiner Unfähigkeit, Katastrophen auszuweichen, oder es zeugt davon, dass er von Gott gestraft ist – und von Gott gestrafte Menschen haben bei Weyland eigentlich nichts verloren.(S. 76)
Vielleicht hätte Sixten an dieser Stelle einmal über die Überlegungen seines Chefs nachdenken sollen. Da aber Lydia und seine Schwiegereltern die einzigen Menschen sind, die sich freuen, dass er nun zweimal ein Unglück überlebt hat, bringt er auch nicht mehr die Energie auf, die Verlobung zu lösen. Statt dessen heiratet er, steigt ins Unternehmen seines Schwiegervaters ein – und steht ein paar Jahre später vor dem Nichts, als seine Frau sich von ihm trennt, er habe sie ja sowieso nie geliebt. Und nun trifft Sixten die erste und einzige Entscheidungen in seinem Leben: Er zieht nach Stuttgart – und wählt einen neuen Beruf:
Am Ende meiner Überlegungen schälte sich ein markantes Bild heraus: nämlich ein Mann zu sein, der im Meer nicht untergegangen war. Wäre es da nicht besonders passend, wenn ich in Zukunft versuchte auch andere vor dem Untergehen zu bewahren? Indem ich…
Es war ein Wunsch aus Kindertagen. Ich hatte die Bademeister immer so bewundert, in ihrer strahlend weißen Kleidung, mit goldbrauner Haut. (S. 88)
Und so wird er Bademeister im Bad Berg. Und statt im Flugzeug durch Asien zu jetten, immer auf der Suche nach dem billigsten Anbieter von PC-Platinen, bewacht er nun die Schwimmer im Bad, wirklich vor dem Ertrinken retten wird er nur eine Ente. Und so dümpelt sein Leben in den nächsten Jahren vor sich hin, bis er einen Anruf bekommt von Kerstin Heinsberg vom taiwanesischen Konsulat in München, er möchte doch bitte seinen Sohn abholen, die Mutter, Frau Dr. Senft, sei verstorben. Die Anruferin weiß Sixten so geschickt um den Finger zu wickeln, dass er tatsächlich nach München fährt, obwohl er sich ganz sicher ist, dass das nie und nimmer sein Kind sein kann, der Verhütung sei Dank. Und tatsächlich: das Kind hat eindeutig asiatische Gesichtszüge, bei zwei deutschen Eltern ist das schlecht möglich. Aber auch die Adoption des Kindes ist schließlich kein Problem, besser es lebt bei einem allein stehenden Vater, als in einem taiwanesischen Kinderheim.
Mitunter kam mir der Gedanke, Heinsberg hätte in einer irren Weise etwas damit zu tun, daß mir viele Jahre zuvor ein toter Pottwal in die Quere gekommen war, der aber auf eine bakterielle Weise noch lebendig gewesen war und mich praktisch mit einem allerletzten Akt in ausgerechnet dieses Tainaner Krankenhaus befördert hat.
Es gibt keine Zufälle. Den Glauben an die Zufälle hat die Aufklärung abgeschafft, um die weißen Flecken auf der Landkarte des Lebens zu füllen.“ (S. 128)
Dem nicht an Zufälle glaubenden Sixten stellt Steinfest einen taiwanesischen Kosmetikhersteller gegenüber, Auden Chen. Auden fängt nach einem Chemiestudium an, Kosmetika aus rein natürlichen Inhaltsstoffen zu entwickeln, denen nicht nur eine Art Jungbrunnen, sondern auch ein Aphrodisiakum, ach, ein Fruchtbarkeitszauber sogar, innezuwohnen scheint, was die gesamte Kosmetikbranche höchst alarmiert auf den Plan ruft. Auch Auden hat eine besondere Affinität zu Bergen (!). Er wird Sixten später treffen – auf einem Berg natürlich.
Steinfest erzählt Sixtens Geschichte von Anfang an rasant, witzig, überraschend. Spannende Geschichten mit schnellen Handlungen kann er schreiben, Personen, gerade nicht die sympathischen, mit schnellem Federstrich wunderbar skurril karikieren. Und er erzählt im ersten Teil seines Romans eine so verblüffende, wie merkwürdige, trotzdem aber Interesse weckende Geschichte, die eben viele mythische Elemente hat, die etwas bedeuten könnten. Im zweiten Teil aber treten weitere merkwürdige Figuren auf, ein Messerwerfer, eine ältere Pianistin mit stark zitternden Händen, Frauen, die eine Berghütte in Form eines Matriarchats führen, ein Hund, der einfach wegläuft. So wird auf merkwürdige, manchmal nicht nachvollziehbare Weise die Handlung vorangetrieben. Und immer wieder spielt der Junge eine Rolle, Sixtens Adoptivsohn, der so gut klettern und zeichnen kann – ist er es, von dem die vielen Zeichnungen auf dem Buchcover und am Rand der Seiten stammen?- , dass er mit Blick auf sein Alter als Genie gelten muss. Allerdings macht dieses Wunderkind keine Ansätze, statt seiner eigenen Sprache, die offensichtlich einzig ist auf der Welt, auch nur ein Wort Deutsch zu lernen.
Neben der Walgeschichte erscheint der Berg in verschiedenen Ausprägungen als immer wiederkehrendes Motiv – und in den Bergen kann Sixten dann auch endlich mit Hilfe ganz besonderer Träume, nun kommt auch noch ein bisschen Psychoanalyse ins Spiel, die Verwicklungen seiner Lebensgeschichte entwirren. Die Walgeschichte, der Mythos des Wiedergeboren-Werdens, der merkwürdige Junge mit den wunderlichen Talenten – soll er der Allesforscher sein? – das Motiv des Berges, psychoanalytische Klärungen, all dies überfrachtet den Roman völlig. Besonders problematisch ist dann auch, dass der Romans vor allem über die Handlung funktioniert. Die Figuren sind zwar alle mit sehr vielen schrulligen Besonderheiten ausgestattet, aber eben nicht als vielschichtige Charaktere angelegt. Und so klappt der Leser am Ende, trotz der spannenden Frage nach Zufall oder Schicksal – die ja eigentlich vom Weyland-Chef schon ganz am Anfang geklärt wurde – enttäuscht das Buch zu.
Heinrich Steinfest (2014): Der Allesforscher, München, Piper Verlag