Was soll Literatur leisten in Zeiten der wirtschaftlichen Krise? Hat sie eine besondere Aufgabe in einer bedrängenden Situation, die Finanzkrise genannt wird, tatsächlich aber Familien bis zur Mittelschicht in ausweglose Armut stürzt, so als ob ein Krieg herrscht, Reich gegen Arm? Nelia Fehn, die zwanzigjährige Protagonistin dieses Romans, hat die Auswirkungen der Krise in Griechenland besichtigt, sie hat in einer Athener Familie gesehen, wie schnell der wirtschaftliche Abstieg gehen kann, durchaus unter tätiger Mitwirkung von nationaler und internationaler Politik und der Verwaltung:
Die Ohnmacht, wie die eigenen Politiker einen morden. Das Schleichende an den Morden. Langsam und stetig. Die himmelschreienden Ungerechtigkeiten. Die Polizei, die den Eliten alles ermöglichte und den Bürgern die Füße zerschlug. (…) Es war eine ungeheure Schnelligkeit in diesem zähen Niedergang. Jede Stufe hinunter. Da blieb gar keine Zeit. Nicht einmal Zeit für wirklich lautes Schreien. Ein kurzer Ausruf und schon der nächste Schmerz. Das ist also mein Leben, musste man da rufen und schon den nächsten Verlust verbuchen und um Luft ringen. (S. 92)
Über ihre Reise nach Griechenland hat Nelia einen Roman geschrieben („Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland“) und sie hat es damit auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis geschafft. Nun reist sie zur Buchpreisverkündung nach Frankfurt, durchaus mit gemischten Gefühlen. Sie hofft und wünscht, den Preis zu bekommen, denn dann könnte sie die Operationen bezahlen, die notwendig sind, damit Marios, ihr Freund in Athen, dessen Füße bei einer Demonstration von der Polizei zertrümmert wurden, wieder laufen kann. Sie ängstigt sich aber auch davor, den Preis – wahrscheinlich ja – nicht zu bekommen und wie eine Verliererin dazustehen, eine, die es nicht wert ist, ausgezeichnet zu werden, die nur aus marketingopportunen Gründen vorgeführt wird, als Fräulein-Wunder und als Tochter der verstorbenen Schriftsteller-Mutter. Und sie hat, nicht zuletzt durch den genau sezierenden Blick ihrer Mutter, die die Mechanismen der Buchbranche genau durchschaut hat, längst erkannt, was der Rummel um den Buchpreis und die Buchmesse für ein Panoptikum ist: Unter dem Deckmantel der Hochkultur ist eben doch vor allem ein Markt der Eitelkeiten, der Selbstgefälligkeiten, der Angeberei und sogar des unverhohlenen Hasses zu besichtigen. Trotz ihrer Kritik an dieser Veranstaltung nimmt sie aber teil, sie will sich die Chance auf den Sieg, auf jeden Fall das Preisgeld für die Nominierung auf der Shortlist, erhalten – das sei, so erklärt sie es, ihre Art von freier Entscheidung.
Die Buchmesse und die Erlebnisse rundherum, die immer wieder als kontrastreiche Folie ihrer Erinnerungen an die so ganz anderen Verhältnissee in Athen dienen, sind aber nur eine Facette des Romans. So lässt sich der Roman viel mehr noch als Kritik am Buchpreis- und Buchmessegewese – auch wenn der biografische Bezug zur Autorin Streeruwitz für manche ein willkommener Anlass ist, diesen Bezug deutlich herzustellen – als Entwicklungsroman lesen. Diese Tage in Frankfurt, dessen ist sich Nelia deutlich bewusst, sind eine Art Scharnier zwischen ihrem „alten“ Leben als ungewolltes und spätes Enkelkind, das nach dem Tod der Mutter in der (Großeltern-)Familie in Kaiserbad bei Wien Aufnahme findet, dafür aber mit den gleichen Ressentiments zu kämpfen hat, wie schon ihre Mutter, deren Lebensstil eben nicht gefiel. Der Großvater, derjenige, der zwar nicht herzlich und liebevoll gewesen ist, immerhin aber dafür gesorgt hat, dass sie zum Gymnasium gehen konnte – und das ist für eine Halbwaise mit nicht mehr zahlendem Vater wohl nicht selbstverständlich – und ihr außerdem immer wieder Geld zugesteckt hat, ist gerade gestorben. Unter dem Regime der verhärmten Großmutter und der missgünstigen Tanten und Onkel wird das Leben in Zunkunft noch unerträglicher werden, zumal sie sich nun ja entschieden hat, zur Feier des Buchpreises nach Frankfurt zu fahren, statt am gleichen Nachmittag zur Beerdigung des Großvaters zu gehen. Zu dieser Familie will Nelia nicht zurück, sie weiß aber auch noch nicht genau, wie es für sie weitergehen soll nach der Buchmesse, was sie anfangen soll mit dem „neuen“ Leben, das momentan auch von finanziellen Problemen gekennzeichnet ist.
Die Buchmesse, diese Zwischenzeit, wird für sie aber auch noch einmal eine Reise zu den Wurzeln ihrer Identität, denn immer wieder wird sie hier, wo ihre Mutter auch gewesen ist, konfrontiert mit den Erinnerungen der Kritiker, Verleger und Leser, immer dann, wenn sie Nelia sagen möchten, wie sehr sie die Arbeit der Mutter geschätzt haben. Dann steigt ihr das Schluchzen so unmittelbar vom Bauch in die Kehle, dann rinnen die Tränen, dann werden ihr ihr großer Verlust und ihre Einsamkeit deutlich bewusst – und sie muss ganz schnell fliehen, um nicht vor ihrem Gesprächspartner die Fassung zu verlieren.
Und es meldet sich auch ihr Vater, ein Professor, den sie nur als denjenigen wahrgenommen hat, der monatlich bis zu ihrem 18. Geburtstag Geld überwiesen hat; ihre Mutter hat alles Erdenkliche unternommen, um die beiden fern voneinander zu halten. Nun will er Nelia treffen, lotst sie in sein Haus, versucht mit ihr ins Gespräch zu kommen. Die Versuche des Redens, des Kennenlernens scheitern erwartungsgemäß, auch weil er schnell zugibt, was Nelia schon von ihrer Mutter weiß, dass er nämlich dieses Kind gar nicht haben wollte, wieder einmal ist sie ungewollt. Aber hier bei ihrem Vater mehren sich Hinweise, dass auch ihre Mutter nicht immer ganz ehrlich gewesen ist, dass es da etwas gibt i Leben ihrer Mutter, von dem die Tochter nichts weiß. Und so kommt es, ausgerechnet bei der privaten Feier anlässlich der Buchmesse, die ihr Vater in jedem Jahr in seinem Haus veranstaltet und bei der sich die Kritiker und Professoren die Ehre geben zur großen Auseinandersetzung zwischen Nelia und ihrem Vater.
„Nachkommen.“ hat Marlene Streeruwitz ihren Roman genannt und stellt so Nelias Perspektive auf die Welt deutlich in den Vordergrund. Mit welchen Fähigkeiten, mit welchen Geschicken, mit welchem Zutrauen schicken die „Vorfahren“, die Mutter, der Vater, die Großeltern, Nelia in die Welt, welche Verantwortung hat jeder von ihnen dabei übernommen? Wie kann es sein, dass Nelia nun, bei ihrem ersten großen Erfolg, frierend, hungernd, vor allem einsam und mit vielen depressiven Gedanken durch Frankfurt läuft? Und weiter: Welche Welt wird Nelia und ihrer Generation hinterlassen, welche Verantwortung haben da die Älteren mit Blick auf gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Fragen übernommen? Nelia hat zu den Zuständen in ihrer Familie und denen in der Welt eine klare Meinung: Sie kritisiert die wirtschaftlichen Verhältnisse erst gar nicht, sie lehnt sie ab: „Ich lehne jede Verantwortung für alle diese Erbschaften ab, mit denen ich belastet werden.“
Marlene Streeruwitz hat einen fulminanten Roman zur aktuellen Situation geschrieben, zur Frage, wie junge Menschen sich in dieser Welt, die die Älteren ihnen überlassen, zurechtfinden, welche Meinung sie haben, in welche Fehlurteile sie sich aber auch verrennen. In der Geschichte Nelias verknüpft Streeruwitz geschickt die familiären mit den gesellschaftlichen und politischen Fragen. Der innere Monolog Nelias, der durch den durchgängig eliptischen Satzbau eindringlich verfasst ist, nimmt den Leser mit, zeigt, wie schnell sich bei ihr Wut, Ängstlichkeit, scharfe Beurteilungen, Freude und Stolz, aber auch große Depremiertheit ablösen. Am Ende der drei Tage aber hat Nelia etwas über die Entscheidungen ihrer Mutter gelernt.
Hinter Nelias Geschichte lotet Streeruwitz auch immer wieder die Facetten des Tanzes um Geld und Macht aus. Dabei schlägt sie den Bogen von Boccaccios „Decamerone“ bis zur Familie des einundzwanzigsten Jahrhunderts, von unzuverlässigen stillen Teilhabern, die sich ihren Geldsegen auch mit bizarren Forderungen entgelten lassen – und zu Nelia sprechen sie ganz unverhohlen als ihrem „Investitionsobjekt“-, bis zu den Türmen der Deutschen Bank, die mit ihrem Logo („Wachstum in einem kontrollierten Umfeld“) und ihrem Slogan („Leistung aus Leidenschaft“) zu einer neuen, modernen Dreifaltigkeit werden. Dabei verläuft die Kampflinie keineswegs zwischen den Geschlechtern, denn Geld und Macht entfalten ihre korrupte Kraft offensichtlich auch über diese Grenze hinweg.
Und natürlich hat Nelia zur Aufgabe der Literatur in diesen Zeiten und diesen Verhältnissen eine ganz eindeutige Meinung, auch wenn sie nicht an die Wirkmacht der Literatur glaubt. Sie fordert eine engagierte Literatur, eine Literatur, die sich ganz klar auf die Seite der Benachteiligten stellt:
Vielleicht ist es eine Suche nach Lebendigem. Literatur. Das ist eine antistatistische Maßnahme. Eine antidatensammlerische Maßnahme. Da verbinden sich Daten zu einer konkreten Geschichte und nicht zu einer Tabelle. Literatur kann der Person gerecht werden.“ Sie musste Luft holen. Hatte sie das ausdrücken können. Hatte sie damit sagen können, dass es um die Verzweiflung ging. Um die Ohnmacht. Um das Untergehen in Maßnahmen und wie keine Gegenwahr mehr möglich war. Wie das war, regiert zu werden in bösen Zeiten. (S. 321)
Marlene Streeruwitz hat einen Roman geschrieben, der diese Anforderungen nachkommt. Was Nelia genau damit meint, wie sie ihre Idee von Literatur umgesetzt hat, das können wir im September nachlesen, wenn ihr Roman „Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland“- wohl unter der Mithilfe von Marlene Streeruwitz, so verrät es das Buchcover auf der Seite des Verlages – erscheint. Und erste Rezensenten schmunzeln schon über den Coup der Autorin, der dazu führen kann, dass sie beim kommenden Buchpreis gemeinsam mit ihrer Romanfigur auf der Longlist, vielleicht gar auf Shortlist stehen könnte. Dass zumindest „Nachkommen.“ es bis auf die Shortlist schafft, das ist jedenfalls zu hoffen.
Marlene Streeruwitz (2014): Nachkommen., Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag
Pingback: Marlene Streeruwitz – Sammlung verfügbarer Rezensionen zu „Nachkommen.“
Danke für diese Rezension, liebe Claudia! „Nachkommen.“ liegt bei mir schon auf dem Stapel ganz oben, und ich werde auch darüber schreiben. Wobei, nach Deinem tollen Artikel ist das ja fast überflüssig… Mir gefällt besonders, wie Du die gesellschaftlichen Hintergründe in den Mittelpunkt rückst. Bin gespannt, wie viel der Roman davon tatsächlich darstellt, meine Erwartungen sind jetzt auf jeden Fall sehr hoch!
Ich freue ich natürlich sehr über Deine netten Worte, denke aber, dass „Nachkommen.“ so viele Aspekte beinhaltet, die in einer Rezension berücksichtigt werden können, dass da – neben der Buchpreiskritik 🙂 – noch ein weites Feld für Dich ist. Vielleicht, ach, was: Bestimmt, liest Du den Roman mit „ganz anderen Augen“. Und so bin ich schon gespannt auf Deinen Eindruck – auf dass wir etwas zu diskutieren haben!
Viele Grüße, Claudia
Hallo Claudia, auch ich habe mit Interesse Deine Besprechung des Buchs gelesen. Zurück bleibt bei mir die Frage, ob sich die Kürzestsätze des Zitats auch im Rest des Romans fortsetzten?
Ja, diese Art des Satzbaus, die aus meiner Sicht sehr schön den inneren Monolog widerspiegelt, durchzieht den gesamten Roman. Er ist aber beim Lesen absolut nicht störend und reduziert nicht das Lesetempo. Ich habe über die Satzfragmente schnell hinweggelesen und die dann doch, wenn man die Punkte überliest, eher vollständigen Sätze gesehen.
Viele Grüße, Claudia
Was für ein hinterhältiger Anschlag auf meine Leseliste. Ein Tanz um Macht und Geld, so was lese ich ja besonders gerne 🙂
Liebe Birgit,
ich habe schon mit Euren Aufschreien gerechnet. Aber ich konnte es drehen und wenden, wie ich wollte, es konnte nur eine unbedingte Leseempfehlung werden. Und ich finde großartig, wie sich die ökonomischen Effekte quasi hinter der vordergründig erzählten persönlichen Geschichte Nelias in Frankfurt, die ja auch schon ganz eindringlich und beeindrukend ist, verbergen, aber immer da sind. Und toll ist der Bezug zum Decamerone, sodass auch der Kreis zum merkwürdigen Buchcover geschlossen wird. Also nichts wie auf die Leseliste mit den „Nachfahren.“ :-).
Viele Grüße, Claudia